Das indische Täschchen

Gedanke

von  Elia

Das Täschchen kaufte ich 1981 auf einem Schüleraustausch in einem kleinen Laden in Soho. Es war nur 10 x 20 cm groß, aus rotem Stoff, innen in derselben Farbe gefüttert und außen bestickt mit bunten und silbernen Seidenfäden sowie kleinen Spiegelchen. Es kam aus Indien. Indien war mir fremd, regte aber meine Fantasie an: Strände mit weißem Sand, an denen stets die Sonne schien, spirituelle Streifzüge gen Himmel,  Gurus, die auf unerklärliche Weise mehr wussten als die westliche Welt. Mutter Theresa hatte in Kalkutta ein Hospiz gegründet, Gandhi mit gewaltfreiem Widerstand die Unabhängigkeit erreicht. Natürlich lagen in den großen Städten die Bettler auf der Straße und es brach einem das Herz, über sie "hinwegzusteigen", wie Menschen, die das ferne Land besucht hatten, anschließend berichteten. Aber sie erzählten auch, dass in Indien alle Farben intensiver leuchten, dass die Menschen unerklärlich guter Stimmung seien und es überall nach Curry und Kurkuma duftete. Trotz der Armut könne man dort die "andere", die bessere Welt entdecken, jene über Zeit und Raum. Mein Alltag dagegen war trist, nichts als die Schule und ein junger Mann, der mich nicht liebte, der es aber angenehm fand, mit mir liiert zu sein. Würde ich mit ihm nach Indien reisen, so glaubte ich, würde uns das quasi verzaubern und alles wäre schön. Ich trug jenes Täschchen am roten Kordelband für mindestens zwei Jahre mit mir herum. Dann war es verschlissen, ich erwachsen und längst von jenem jungen Mann getrennt. Es bestürzt mich, dass ich mich nicht einmal an jenen Moment erinnern kann, an dem ich es entsorgte.

Mit Mitte Vierzig entdeckte ich in einem Laden eine Borte in Dunkelrot, Grün und Gold. In lila Ornamenten blinkten kleine Spiegelchen. Da ich an das Indientäschchen denken musste, kaufte ich zwei Meter davon und legte sie in den Schrank. Eine Verwendung dafür hatte ich nicht.

Mit Sechzig lernte ich nähen. Mein erstes Projekt war die Anfertigung eines Yogakissens aus rotem Samt, an dessen Rand ich als „Griff“ die Borte anbrachte. Ich habe nie Yoga praktiziert. Erst dachte ich, es sei nur etwas für Menschen, die den Lotussitz beherrschen, dann scheiterte ich am „herabschauenden Hund“. Inzwischen glaubte ich, dass es in Indien Tiger gab, die Landarbeiter rücklings anfielen, gefährliche Krankheiten und ausbeuterische Verhältnisse in Textilfabriken. Meditiert wurde im Ashram nicht mehr und Osho war tot. Vom Ganges sagte man, er sei ziemlich verschmutzt. Mutter Theresas Spiritualität fand ich, unabhängig von ihrem Werk, bedrückend. Der Strand von Sylt war mir klimatisch angenehmer als jeder denkbar andere und der Himmel auf Erden ebenso abgeschafft wie der jenseitige. Ich nähte das Yogakissen dennoch, und zwar für einen jungen Mann, von dem ich wusste, dass er Dreadlocks mochte, die „tiefe Hocke“ beherrschte und einmal an einem Sommertag barfuß in einem Park unter einem Baum gelegen und angesichts des zwischen den Zweigen schimmernden Firmaments etwas gefunden hatte: die Freiheit. Ihm zuliebe las ich ein hundertfünfzig Jahre altes Buch eines indischen Philosophen und fachsimpelte mit ihm über den Inhalt. Als ich ihn kennenlernte, war mir bald die Borte wieder eingefallen. Ich selbst brauchte sie nicht mehr.




Anmerkung von Elia:

onde

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (22.10.23, 16:47)
Ist das autobio?

 Regina (04.01.24, 10:00)
Ein schöner Text über die Faszination, die Indien noch immer ausübt, selbst die kleinen Stoffstückchen. Allerdings liegt der Höhepunkt der indischen Kultur in der Vergangenheit, heute sind andere Entwicklungen notwendig und der Einfluss eines Gurus kann eine große Täuschung sein.
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram