KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Dienstag, 03. November 2009, 10:22
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Toll verkirscht - scalidoro. II. Lyrik (16)

scalidoro wurde 1952 geboren. Er ist von Beruf Segeltuchnäher und zur Zeit tätig als Windblick. scalidoro kommt aus Oberösterreich. Über sich selbst schreibt er: „Lyrik und Philosophie sind mir Erlebnisbereiche, die ich immer wieder gerne aufsuche.“



Mondnacht. Ein Bericht

Der Wald, er hatte sich mit Dunkelheiten vollgesogen,
darüber war ein Blinkgeschehen durch die Nacht gezogen,
indes der Mond, gewichtig voll, die Straßen silbrig ausgespült,

als aus dem Dickicht brach das Aufgewühlt
des Kauzes, dessen Fühlen sich entmauert,
wie etwas, das zu sehr in sich gekauert.

Und also
schrie es
schrie und schrie.

Die Nacht schien tollverkirscht und seltsam lang
und drängte doch ins Endiche, zum Übergang,
der sich als stumme Frage ins Gefieder baute.

Es dämmerte. Der Kauz ergraute.



Schon der Titel enthält einen Widerspruch: Eine Mondnacht ist a priori ein romantischer Begriff, ein Bericht dagegen so sachlich, dass das folgende Gedicht ironisch eingefärbt erscheint. Aber tatsächlich wird die zu erwartende Romantik einer Mondnacht permanent durch sachliche Vergleiche in Frage gestellt: Der Wald wird zu einem aktiven Schwamm. Er saugt Dunkelheiten - die Pluralisierung der Nacht entmachtet ein wenig die Schwärze, die ins Physikalische verschoben wird. Die Sterne werden zum Blinkgeschehen - das assoziiert die Lichter der Großstadt, Autoverkehr und Blinkanlagen der Reklamen. Jetzt wird der Mond aktiv, voll und schwer reinigt er die Straßen mit seinem Licht, das er wie Silber in die Straßen gießt.
Nach dieser optischen Äußerlichkeit folgt in der zweiten Strophe die Innerlichkeit: Ein Kauz ist aufgewühlt, seine Gefühle entmauern sich, das Aufgestaute bricht aus ihm heraus. Er schreit es hinaus in die Nacht - im Schutz der Dunkelheiten… Diese Strophe verliert ihre metrische Form, der Schrei hat nur sich selbst zum Reim. Natürlich drängt sich die Frage auf, ob sich hinter dem Kauz eine menschliche Stimme verbirgt. Vielleicht nicht. Denn zu distanziert bleibt der Bericht. Ja, ein wenig ist das schon auch ein Bericht. Das Imperfekt lässt das Nachtgeschehen geschichtlich erscheinen. Insbesondere in der letzten Strophe ergibt sich die Ironisierung des Vorgangs von ganz allein: Die Nacht schien tollverkirscht, vergiftet also, die Zeit dehnt sich zum Leiden am Nichts, das der Kauz so komisch repräsentiert. Oder zum Leiden an sich selbst, an der Einsamkeit. Nichts ist hier romantisch. Das Bericht-Gedicht entromantisiert die Nachtmetaphorik. Übrigens sind die Dunkelheiten nun wieder zum Singular geschrumpft, zur einfachen Nacht, die sich selbst nicht mag, sie will sterben, damit der Tag wieder leben kann. Ein lebensbejahendes Gedicht! Zwar bleibt immer noch die Frage, der Schrei, doch der ist nun stumm geworden, das nächtliche Leid ist überwunden, verdrängt, der Kauz wird grau und unbedeutend. Ein seelisches Gedicht. Ein Seelendrama im Bild des Waldes. Vielleicht sind wir dann doch gemeint. Leben heißt verdrängen, überwinden. Vielleicht aber auch nicht, dann verdrängt sich im Kreislauf von Tag und Nacht die Zeit und hebt sich und die Welt auf, und so wird dann alles ganz leicht. Die Inhalte dieser Wörterdämmerung werden ganz leicht und schweben davon wie die Nacht und der Mond und das Silber. Ist doch klar: Wenn du unendlich viel Zeit hast, merkst du gar nicht mehr, dass du überhaupt Zeit hast. Aber der Dichter hat die Nacht vor den Tag gesetzt. Und die nächste Nacht kommt bestimmt. So gliedert sich die Zeit selbst, damit sie überhaupt etwas sein kann. Und so verwandelt sich das verbale Nocturne in Philosophie. Der Kauz ist ein philosophisches Chamäleon, das mich an Lewis Carolls Cheshirekatze erinnert. Die Realitäten schweben hin und her, wenn die Wörter dämmern. Oder sich erinnern. Der Morgenstern ist nicht weit…

Ich habe lange schon nicht mehr so ein gelungenes Gedicht gelesen! Handwerklich überzeugend, voller Witz die ironische Vertiefung, eine Vertiefung banaler Romantik bis zum Umkippen ins Absurd-Ironische. Wirklich toll gemacht!

Ulrich Bergmann

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 Theseusel (01.02.08)
Sein Gedicht "Abendsein und Abendstraße" vielleicht ... obwohl ganz anders.

Ich halte Scalidoro für einen der ganz wenigen richtig guten Poeten auf kV und im Nachtschattenreich der Lyrik!
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