KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Mittwoch, 25. März 2009, 16:21
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GEWONNENE ZEIT

Ein neues Stück im Repertoire des Welt-Theaters

135. Kolumne

Das Theater kann alles. Es kann jede Realität erzeugen und sinnlich wahrnehmbar werden lassen, jede Zeit, jede Atmosphäre, jede Möglichkeit und jede Unmöglichkeit. Es kann einfach jedes Wunder erzeugen. Ein Gedicht wird aufgeführt: Sarah Kane’s „4.48 Psychose“ etwa - da zerfällt das virtuell gezeigte Lyrische Ich und erschafft sich erst im Tod. Oder -
ein Roman, der sich mit sich selbst multipliziert: „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust: Der polnische Regisseur Krzystof Warlikowski hat die viertausend Seiten des Romans durchgesiebt und das dramatische Mehl zu einem Brot gebacken, ohne das ich nicht mehr leben möchte in meiner Erinnerung, ich lebe ja nicht nur vom täglichen Brot. Warlikowski hat eine Bühnenfassung geschaffen, die nicht zu kurz ist und der Prosa Prousts gerecht wird, und nicht zu lang für den großen Spannungsbogen. Die revidierte Übersetzung ins Deutsche ist genau richtig für die Bühne: Wohltuende Sprachmusik. In den vier Bühnen-Stunden habe ich mich, abgesehen von der Pause, nie gelangweilt. Das Stück hat mich ergriffen. Die kommunikative Hysterie der gesellschaftlichen Elite vor und nach dem Ersten Weltkrieg, die sich nichts Wesentliches sagen will und nichts zu sagen hat, damit aber indirekt doch alles über sich sagt, erkennen wir heute, in gewandelten Sozialstrukturen, ungeschminkt wieder: Spiel und Geschwätz der politischen, finanziellen und geistigen Eliten treten in der Informationsgesellschaft durch die Vielfalt der Medien nur noch offener zu Tage: Der Alltag ist umgewandelt zum Abenteuerpark - von denen, die es sich leisten können, und das sind viele. Aber geblieben ist die Einsamkeit des Einzelnen, sein Bedürfnis nach Anerkennung und Liebe - die Neurosen der Liebenden, die sich immer noch so verzweifelt suchen und doch nicht finden, sind inzwischen vergesellschaftet, die Entfremdung des Einzelnen spiegelt sich in der gesellschaftlichen Entfremdung - und umgekehrt. Ich verliere mich, weil die Gesellschaft mich nicht will, wie ich bin, bis sich am Ende die Gesellschaft, die nicht so ist, wie wir sie wollen, auflöst und verliert. Nach dem Sieg der kapitalistischen Gesetze, die unser animalischer Geist erst installierte, wird es keine menschliche Gesellschaft mehr geben. Sie hat sich nicht rentiert.
Die Beschränkung auf diese zwei Motivstränge (die verrückte Kommunikation des etablierten Kollektivs und die Entfremdung des Einzelnen in den Figuren Marcel und Albertine) ist einfach, aber so genial wie das Ei des Kolumbus.
Warlikowskis Suche nach der verlorenen Zeit ist der Schrei in einer selbstmörderischen Gesellschaft: Ich will leben!

Die Umsetzung dieser Gedankenwelt gelang mit einem Ensemble, das viel mehr war als die Summe aller einzelnen Spieler, auf zauberische Weise: Sie waren alle bis ins Detail aufeinander abgestimmt, in höchstem Maße diszipliniert, und zugleich auffallend spielfreudig. Hervorheben will ich Sebastian Münster, dessen jugendliche Leichtigkeit im dialektischen Zusammenspiel mit der neurotischen Körpersprache kongenial zur ganzen Art der spielerisch erzählenden Inszenierung passte. Im immer leicht fließenden Zusammenspiel mit der ausgefeilten Lichtregie und Bühnentechnik entstand eine dichte Bühnenatmosphäre. Dazu trug auch die im minimalistischen Stil komponierte Musik bei, die sehr vielen Sprechszenen langatmig unterlegt wurde. Die Musik allein wäre langweilig, aber im Zusammenspiel mit den sprechenden Körpern entstand eine Bewegung, die die Stimmung der Worte antrieb - der Trick der Oper und des Films. Die Musik schuf die Einheit der Zeit auf einer Bühne, die mit mehreren teils durchsichtigen Vorhängen (Zeit-)Räume einteilte. Diese sanfte Art epischen Theaters vermittelte leicht und lukullisch die schweren Gewichte des Lebens, die auf den Figuren lasten. Konsequent erzeugt sich die Schluss-Szene: Von Alter, Krankheit und Tod gezeichnet sind alle - das Spiel ist aus. Das Wesentliche ist nun gesagt - ohne Worte. Da trifft sich das Stück auf geheimnisvolle Weise mit Sarah Kane’s letztem Stück.
Ein ganz großer Theaterabend!

Ulrich Bergmann


[Auf der Suche nach der verlorenen Zeit nach Marcel Proust
von Krzysztof Warlikowski in Bonn]

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