KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Montag, 10. August 2009, 18:18
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MAMA LOUISE. Memoiren meiner Großmutter 1889-1969

157. Kolumne

Luise B. – Endsilben

Nach einem Tonband-Interview von 1966


Der Zirkus

„Mama Louise“, sagte Janus, „erzähl, wie der Franz gestorben ist!“ „Wie das Fränzche gestorbe is?“ „Ja!“ „Warum willst du das immer wieder wissen?“ „Ich weiß nicht“, sagte Janus, „die Geschichte ist so schön.“ Mama Louise war in Gedanken versunken, sie lag auf dem Bett, das Fenster des kargen Schlafraums war weit geöffnet, von draußen wehten Kinderstimmen vorbei, Carl war im Lagerkino, sie hörte Jans Stimme unter den Kindern heraus, aber er war nicht da, er war immer noch bei seiner Mutter in Halle. Sie wollte ihn doch bringen! Sie hatte es versprochen. „Ich gehe mit Carl in den Westen, gib mir Janus mit! Für Robert! Gib ihm wenigstens Janus!“ Wann bringt sie mir den Jungen? Die Sommerferien hatten längst begonnen. Wie der Franz gestorben ist? Als er vierzehn war, wollte er nicht mehr leben. Louise liebte ihren kleinen Bruder wie eine Mutter. Sie erinnerte sich, wie ihre Mutter sie rief, als Franz wieder so traurig vor dem Schreibtisch im Herrenzimmer mit aufgestützten Armen saß und nicht wusste, was er wollte, ihre Tochter rief: „Louise, bring mir zwei Glas Wasser aus der Küche!“ Die Mutter kam ihr an der Tür entgegen, nahm die beiden Gläser, ging zum offenen Fenster, schüttete das eine Glas halb aus, und stellte das volle Glas auf die gläserne Schreibunterlage vor den Franz hin, das halbleere daneben, und sagte: „Schau hin, Franz! Da steht dein Glas“, und zeigte auf das volle Glas, indem sie dem Jungen mit der anderen Hand durch die Haare fuhr, „du hast dein Leben noch gar nicht getrunken!“ Er schaute über das Glas hinweg, hob den Kopf und drehte die Augen zur Mutter hin, die waren ganz traurig und nass. Louise stand in der Tür, und die Augen brannten ihr. Dann zeigte die Mutter auf das halbleere Glas: „Soll ich traurig sein, weil ich nicht mehr so viel zu trinken habe?“ Da stand Franz vom Stuhl auf, ließ die Mutter stehen, lief an Louise vorbei in die Küche, kam wieder mit dem Salzfass und schüttete das ganze Salz in sein volles Glas: „Trink, Mutter!“, sagte er, „wir tauschen!“ Jan hörte die Geschichte gern, nicht weil sie so traurig war – sie machte ihn überhaupt nicht traurig –, sondern weil sie ihn näher an das Geheimnis des Lebens heranführte. Vor seinen Augen stand das ernste Gesicht des Knaben Gaston de Foix, der den Hungertod starb – in dem Gemälde, das er in Carls Bildmappen fand, reicht der Page, genauso jung wie der, der sterben will, ein Tablett mit einer Karaffe Traubensaft und spiegelt in den Augen bedauernd die Lethargie des müde auf dem Bett Liegenden.

Mama Louise stieß eine Erinnerung nach der anderen an, wie Dominosteine, und verlor dabei Janus aus dem Sinn, und war nun in der Zeit angekommen, als Carl im Hinterzimmer lag und dahindämmerte. Was hat er dort in der langen Zeit gedacht?, fragte sie sich. Sie hörte die Worte ihrer Schwiegermutter, die gegen die Heirat war, es ist nicht gut, wenn Cousin und Cousine heiraten, beide sind zu aufgeregt, zu temperamentvoll, die Lebenshitze, die sie verglühen, rauscht aus, wenn Bitternis einbricht, schlägt dann um ins Gegenteil, in Todesbetrübnis. Sie kannte ihren Sohn, dachte Louise. Die Zeit war schwer, es war auch die Zeit, die uns niederdrückte, der Weltkrieg, der erste, Not und Inflation, dann die große Enttäuschung nach dem Hitlerrausch, der zweite Krieg, Günther fiel, Robert in Gefangenschaft, Besatzung, erst die Amerikaner, dann die Russen, der Kommunismus, Wohnungsnot... Armut... Das schlimmste: Die Familie wird zerrissen. Zurück! Wie fing das alles an? Louise sah sich wie in einem Film: Wie sie Jan erzählt, wie es mit Carl begann, sie sah ihr ganzes Leben, das sie sich und Jan erzählt. Und Jan fragt und fragt.

Mama Louise, wann bist du geboren? - Neunundachtzig. 12. Mai 1889 geboren, mit einer Zwillingsschwester zusammen. Wir sind zwei grundverschiedene Menschenkinder, die eine ist überstill im Leben und ich überlebhaft. Na ja, war nicht zu ändern. In meinem 7. Lebensjahr ist die Goldene Hochzeit von meinen Großeltern in Neuruppin. Meine Großeltern hatten 33 Enkel, zur Goldenen Hochzeit waren wir 27 Vettern und Cousinen. Wir kamen jubelnd am Bahnhof an, von allen Verwandten erwartet, und am Hochzeitstag haben wir alle im Kreis im großen Garten gesungen: „Goldene, goldene Hochzeit ist heut! Lasset uns singen, tanzen und springen, goldene, goldene Hochzeit ist heut!“ Die Großeltern tief bewegt. Die größeren Enkel haben an der großen Tafel gesessen – ich gehörte zu den kleineren und hab bei der Goldenen Hochzeit an der Kindertafel zu meinem Leidwesen gesessen. Über hundert Personen und Verwandte waren da. Wir wurden mit unserer Frankfurter Sprache überall bewundert. Wir kamen in Söckchen, das war damals noch gar nicht Mode in so einem kleinen Dorfstädtchen wie Neuruppin... Wir sind nach der Goldenen Hochzeit weinend abgefahren, sagte Mama Louise, wir haben geweint bis Bebra. – Janus hatte keine Ahnung, wo Bebra lag, irgendwo im Osten, Neuruppin war in Brandenburg, nicht weit von Berlin, das lag im Osten. - Meine Großmutter Söhnlein hatte zwölf Kinder. Emma, Lina, Alma, Hannchen, Carl und Otto, Wilhelm, Hans, Emil, Victor, Hermann , Franz – haben wir so im Spruch hergesagt, sie hießen ja etwas anders. - Janus sprach immer die Namen mit, er kannte sie schon lange. - Zwölf Enkel, und da hat mir die Großmutter auch viel erzählt. In Frankfurt habe ich eine herrliche Jugend gehabt. Wir waren sieben Geschwister – vier Brüder, drei Schwestern – haben uns sehr gut verstanden bis ins hohe Alter. Unsere Jugend verlebten wir, meine Mutter war ängstlich, im Palmengarten. Wir sind jeden Tag in den Palmengarten geschickt worden, durften da Tennis spielen, durften vor allen Dingen, als wir noch jünger waren, auf den Kinderspielplatz. Da war der Weiher und da war das Schlittschuhlaufen. Wenn wir sieben Kinder, sieben gleich angezogene Matrosen!, geschlossen durchs Konzert gingen, haben die Damen mit der Lorgnette von der Terrasse heruntergeguckt und haben gefragt: Verzeihen Sie, Kinderfräulein, wem gehören denn die Kinder? – Janus kannte die alten Fotos, die Mama Louise in ihrem Sekretär oben in der rechten Schublade aufbewahrte. - Ich war in der Schulzeit sehr übermütig, hab die ganze Klasse zum Lachen angesteckt. Dadurch ist es mir passiert, nicht immer versetzt zu werden. Aber die Lehrer sagten, das ist ein lustiges Mädchen und ihre Gedanken sind richtig – die kommt durchs Leben! Dann bin ich hinterher noch auf ein Institut gekommen, um literarische Kenntnisse zu erwerben. Da ist ja nicht allzu viel draus geworden. Denn im großen Haushalt von sieben Kindern musste ich als älteste helfen.

Und wie hast du Carl kennen gelernt?, fragte Janus. - In der Familie, antwortete Mama Louise wie aus der Pistole geschossen. Mein Verlobter war mein Vetter. Da ist uns die Verlobungszeit sehr schwer gemacht worden. Vor allem von meiner Schwiegermutter, weil sie sagte, eine Verwandtenehe ist nicht richtig. Wir sind zu aufgeregt, hat’s geheißen, Carl und ich, zu aufgeladen. Und ich muss zugeben – wir haben nicht daran geglaubt, aber wir haben es doch in unserer Ehe gemerkt: Die Impulsivität war zu stark. – Das kannte Janus gut, Carl und Mama Louise stritten sich jeden Tag, oft ging es nur um Kleinigkeiten. Wenn Carl auf dem Klo war, hörte Mama Louise, dass Carl den Wasserhahn nur kurz aufdrehte: „Männi“, sagte sie scharf, „du wäschst dir immer nur die Fingerspitzen!“ Einmal stritten sie sich laut und heftig, und das Hin und Her wollte nicht aufhören. Janus kam vom Balkon und wollte einen Ankersteinbaukasten holen, da sah er, wie Mama Louise Carl über den Tisch hinweg ins Gesicht schlug, Carl stand mit dem Rücken zu Janus, blieb bewegungslos, Louise rannte in den Salon, und Janus ließ die halb geöffnete Balkontür los und ging zurück auf den Balkon, beugte sich über die Wasserwanne, sah sich auf dem Grund des Zinks und weinte leise. - Die Ehe lief trotzdem, dachte Louise. Vier vergnügte und gesunde Kinder. Sie erinnerte sich, wie Carl aus Cottbus nach Frankfurt kam, um sich seine drei Cousinen anzusehen, von denen er Photographien besaß. Er kam, sah und wählte die schönste der Cousinen aus, nachdem er sich in Pose geworfen hatte, männlichen Charme demonstrierte, Wagners Tristan und Isolde rezitierte und mit Leitmotiven aus dem Ring die amourösen Scharmützel kommentierte. „Nie sollst du mich befragen...“, summte er, wenn von Treue die Rede war. Auf einem chamoisfarbenen Foto von 1908 hält Carl Louise fest im Griff und schaut auf sie mit begehrenden Augen, die Janus nicht verstand, er erkannte den Großvater auf diesem Bild kaum wieder, so sehr glänzte dessen Kopf vor einem verschwommenen Hintergrund, aus dem, leicht zurückgelehnt, Mama Louises Kopf weiß herausstach, sie schaute aus dunklen auf den Rotglühenden, dessen gezwirbelter Schnurrbart über dem gesteiften Kragen widerspiegelte, was die Seele kaum verbarg: Es ist erreicht! Er sah das Bild von Pamina und wollte sie erobern, zog aus nach Frankfurt in die Mainluststraße und bestand die Probe. Eine Rose im Sturm gebrochen... Sie glühte nun auch, er spürte ihre Dornen nicht, die sie ihm liebevoll verbarg. Er sprach von Schönheit, von Liebe, er klagte, dass diese Tage in Frankfurt, welche sein Glück machen, wenn sie kalt würden, sein Unglück auf immer entscheiden. Er beschwor mich. Aber ich blickte nicht auf, tat so, als ob ich es nicht hörte. Aber ich sagte innen längst Ja. Ich zitterte, ihn anzuschauen. Und dann: Meine Sinne hatten mich verlassen. Er sprach, und ich hab ihm geantwortet. Was er sprach, weiß ich nicht mehr, was ich antwortete, auch nicht. Nimm es für einen Traum, dachte ich, während ich wach war. Er war ein Mann von Charakter, dachte ich, von Stellung und guten Sitten. Für ihn will ich der Efeu sein, der sich um ihn rankt. Aber wenn Zärtlichkeit und Liebe nicht ewig dauern? Daran dachte ich da noch nicht. Ich wuchs, während er schwächer wurde, weit über mich hinaus. Nicht Efeu war ich, die Umstände haben mich zur Eiche gemacht...

Die schönste Zeit war, als die Kinder klein waren. Ich bin jeden Tag mit ihnen an die Promenade gegangen, die Säuglingspflege hat mir große Freude gemacht. Ich habe alle meine Kinder sieben Monate nähren können. Als Kammergerichtsreferendar hat Carl sich mit mir verlobt. Er musste noch seinen Assessor machen. Und da haben wir uns in der Zeit jeden Tag Briefe geschrieben, jeden Tag flogen, wenn kein Brief kam, Liebeskärtchen hin und her, unter der Briefmarke standen die Hauptworte der Liebe. Und das ging so drei Jahre, und es war nichts zu machen. Aber dann hat meine Schwiegermutter schweren Herzens doch noch in die Verlobung und die Heirat eingewilligt. Carl war der einzige Sohn einer Mutter, die viel durchgemacht hat, das Töchterchen verloren, als es vier Jahre alt war, und der Mann starb früh. Manche haben gesagt, Carl ist mehr Sohn als Ehemann. Ich hab mich um die Kinder kümmern müssen. Man hat ja genug Personal und Hilfe gehabt. Erst wohnten wir in Peitz. „Auch Peitz hat seinen Reiz“, hat Carl gesagt. Aber die Entfernung war meiner Schwiegermutter zu weit, sie wollte uns näher haben. Sie wohnte in Cottbus an der Promenade, und dann zogen wir auch nach Cottbus, in die Luisenstraße. Wir haben uns jeden Tag gesehen, waren jeden Sonntag mit der Schwiegermutter zusammen. Jedenfalls hat sie an meinen Kindern und in der Familie bei mir ihre glücklichste Zeit verlebt.
Sie war eben die heiße Liebe für ihren Sohn, das ließ sie sich nicht nehmen.
Ich hab gelitten, dass sie in alles reingeredet hat. „Mein lieber Sohn, das ist man viel zu viel für dich!“, sagte sie, wenn schon wieder ein Baby kam. Er ist nachts nur beim ersten Kind aufgestanden, hat die Wiege gewiegt und hat gesagt: „Mein süßes, süßes, mein allerliebstes süßes, süßes Püppchen, mein Püppchen, mein süßes, süßes Püppchen.“ Aber nachher mit den anderen Kindern wurde es ihm bei dem schweren Beruf zuviel. Wenn nachts die Kinder schrieen, hat er sein Bett genommen und gesagt: „Auf Wiedersehen, viel Vergnügen!“ Schwiegermutter hatte furchtbare Angst, dass es über seine Nerven geht mit den Kindern. Nicht genug, sie hat auch nach dem Grundsatz „Wo wir alles zahlen“ alles unternommen, ihren Sohn mit in ihre Sommerfrische zu nehmen, und ich bin mit meinen Kindern an die See, oder – sie sagt, ich hätt ja einen Balkon – ich bin zu Haus geblieben. Bei jedem Geburtstag hat Carl morgens der Mutter einen Choral gespielt. Ich hab ihm oft gesagt: „Geh zu deiner Mutter!“ Wenn sie krank wurde, hab ich gesagt: „Du musst zu deiner Mutter.“ Er sagte morgens beim Aufwachen: „Mütterchen wartet“, und ich sagte: „Geh zu Mütterchen!“

Ich hatte Hemmungen, ich traute mich oft gar nicht richtig ihr die Wahrheit zu sagen, vor Angst. Zum Beispiel kam mal eine Freundin in der Mittagszeit, Lotte von Düring: „Ach, Louischen, ich lad dich ein, komm morgen zum Kaffee zu mir.“ „Vielen Dank“, sag ich, „ich kann’s nicht, ich wag’s nicht, meiner Schwiegermutter zu sagen. Ich kann’s nicht sagen.“ „Was! Das kannst du nicht sagen?“ „Ich krieg’s nicht fertig.“ Denn sie sagte jedes Mal: „Willst du uns wieder alleine lassen?“ Lotte ist gegangen und sagte: „Ich schreib dir ein Kärtchen.“ Da hab ich gedacht, es kommt am anderen Tag an. Kaum ist sie eine Stunde weg, klappert der Briefkasten. „Na, Louischen, sieh mal nach, Post scheint gekommen zu sein“, sagt Mütterchen. Und ich guck an den Briefkasten, ist eine Karte drin: „Mein liebes Louischen, ich würde mich sehr freuen, dich morgen bei mir zum Kaffee zu sehen.“ Lese ich vor, bin ganz perplex, dass ich schon eine Karte hab im Briefkasten. „Nanu, die Düring war doch eben erst da! Kann man gar nicht begreifen... Hat sie dir denn gar nichts gesagt?“ Vor Angst hab ich gesagt: „Nein, sie hat mir nichts gesagt.“ Carl hat gesagt, wir müssen’s die heilige Lüge nennen.

Und so ist es mir auch mit dem Wasserglas passiert. Sie schickte mich abends, elektrisch Licht gab’s noch nicht, ins Zimmer: „Louischen, hol mir mal die Schlüssel.“ Ich hab das ja alles meinen Freundinnen erzählt, wir haben gequietscht vor Lachen. Also ich soll die Schlüssel holen, sie liegen auf ihrem Nachtisch. Ich taste mich an den Nachttisch heran, da steht ein Glas Wasser, ich seh’s nicht und stoße gegen das Glas, das kippt ins Bett. O Gott, jetzt Holland in Not! Ich traute mich nicht wieder hervorzukommen, verschwinde mal erst auf die Toilette. Jetzt ruft sie: „Louischen, findest du denn nicht die Schlüssel?“ „Augenblick“, sage ich. Endlich: „Ich hab sie!“ Vom Wasserglas natürlich nichts erzählt, ich hätte mich ja niemals getraut zu sagen, dass das Wasser ins Bett gefallen ist. Ich finde, wo man kein Vertrauen hat, ist es kein richtiges Verhältnis. Als sie zu Bett ging, da ruft sie unser Mädchen: „Pauline, Pauline, was ist denn man hier passiert?“ Die wusste es auch nicht. Keiner wusste es, auf jeden Fall war ihr Bett nass. Und Pauline musste nun das neue Bett beziehen und ein Bolzen musste warm gemacht werden. Elektrisches Heizkissen gab’s noch nicht, sie kann sich ja nicht in ein nasses kaltes Bett hineinlegen. Da wurde noch am Abend mit dem Bolzen das Bett geplättet, und ich lachte mich unter meiner Bettdecke tot und schüttelte mich kaputt. Ich hab’s auch nie gestanden, dass ich’s gewesen bin, und schlief dann langsam unter Tränen lachend ein.

Ein andermal, als sie Gesellschaft hatte, sagte sie zu mir, ich soll eine Kristallschüssel zum Tisch bringen lassen. Ich ging in die Küche. Ein bisschen Obst war in der Schüssel, ich wasch sie ab, da knallt mir die Kristallschüssel unter meinen Händen kaputt. Ich sag: „Pauline, ich kann’s nicht“ - ich hab wieder nervöses Lachen gehabt –, „ich kann die Schüssel nicht reintragen. Sie kriegen 50 Mark, sagen Sie doch bitte, bitte, Ihnen wär’s passiert.“ Sie sträubte sich zuerst und wollte es nicht, ich sag: „Pauline, bitte tun Sie’s, ich kann’s nicht sagen.“ Na, Pauline zieht ne weiße Schürze an, geht rein und klopft an die Tür und sagt: „Frau Rat!“, ganz bedeppert, ihr wäre das passiert. „Na, ist das möglich! Ist so was möglich! Pauline, es ist Ihnen ja noch nie...“ „Verzeihung, Frau Rat, es tut mir furchtbar leid.“ „Louischen, komm mal rein. Ich denke, du solltest...“ – Also ich konnt’ nichts sagen, ich konnt’s nicht sagen! Ich hab’s Carl gesagt. Und als meine Schwiegermutter dann sagte, Carl hat ihr gesagt: „Mütterchen, Louischen hat Angst“, da hat sie gesagt: „Wo keine Furcht ist, da ist auch keine Liebe.“

Einmal hatte meine Schwiegermutter mich eingeladen, mit ihr nach Oybin zu reisen. Aber sie hat mir erzählt, sie genierte sich, dass ich immer die Endsilben weglasse. „Das musst du doch wissen“, sage ich, „der Frankfurter lässt die Endsilben weg, so hat unser Goethe auch gesprochen.“ An meiner Sprache hat sie allerhand auszusetzen gehabt. Aber da kam dann ein Landrichter, der hatte einen Nimbus zu der damaligen Zeit. Ein Vortragender Rat im Ministerium in Berlin, oder am Kammergericht war er, der war Frankfurter und sprach nun toll frankfurterisch. Dieser Landrichter war meine ganze Rettung, er hofierte mich ein kleines bisschen. „Sie kommen unbedingt nach Berlin. Da sind sie eine Woche unser Gast!“ Ich habe bis ins hohe Alter, teils aus Opposition, meine Frankfurter Sprache gelassen, meine Bekannten haben immer gesagt: „Liebes Louischen, das ist dein bester Charme.“ Wenn ich auf Carl wartete, sagte ich: „Ich hab als auf dich gewartet.“ Dann kam er und sagte: „Ich sehe zwei niedliche Füßchen, sie nahen sich schüchtern und sacht, sie kommt, die Teure, die Süße, ich hab mir’s ja gleich gedacht.“ Janus lachte. Er liebte Carls verschrobene Galanterie. In diesem Punkt passten die Großeltern großartig zusammen. Janus wäre gern an den Abenden dabei gewesen, wo Carl und Mama Louise Loeweballaden gesungen hatten, Robert Schumann und Schubert, Wagnerarien und lustige Lieder noch und noch... „Ich habe dich lieb, du Süße, du meine Lust und Qual...“ – Dabei hatte ich kaum Gesangsstunde, erzählte Mama Louise. Ich war angeblich nicht musikalisch genug. Aber viele haben gesagt: „Ach, Frau Mundt, an Ihnen ist eine Schauspielerin verloren gegangen.“ Carl und ich haben gewetteifert im Erzählen.

Aber es war nicht immer lustig. Wenn er von unseren Kindern sprach, sprach er vom Zirkus. „Na, Herr Mundt, sind Sie auch in diesem Sommer verreist?“ „Ja, mit dem ganzen Zirkus!“ Er ist ja nie mit dem Zirkus verreist! Er hat mich allein mit dem Zirkus fahren lassen, ich bin vorgefahren, hab alles vorgerichtet, und wie wir eingerichtet waren, kam er nach. An der Ostsee war ich zwei Mal drei Monate mit den Kindern; drei Monate, weil der Arzt sagte: „Für vier Wochen brauchen Sie gar nicht mit vier Kindern zu rüsten, wenn Sie wirklich eine Kur haben wollen; wenn eben das Kind sich eingelebt und an die Luftveränderung gewöhnt hat, dann reisen die Leute ab.“ Da ist es ja viel richtiger, sich mindestens drei oder vier Monate an die Luft zu gewöhnen. Ich hab Carl zu seiner Mutter in den drei Monaten geschickt. Ich fühlte mich so sicher, dass ich in keiner Weise neidisch oder eifersüchtig gewesen war. Und er hat da in Ruhe arbeiten können. Für meine Schwiegermutter sind es die schönsten Zeiten gewesen, dass der Sohn kam und ich mit meinen Kindern die Monate an der See war. Ich habe das vor dem Krieg so gehalten und nach dem Krieg auch. Mit Jan war ich auch einmal lange in den Ferien verreist. Die Ferien haben gar nicht gereicht. An der See hatten wir Zeit und sprachen über alles. Wir sprachen über Dinge, auf die wir zu Hause gar nicht gekommen wären, soviel Zeit hatten wir, im Strandkorb oder beim Frühstück oder am Riek, wo der Junge geangelt hat. Warum heiße ich Janus?, fragte der Bub, als wir mit dem Bus nach Lubmin fuhren. Er war acht. Ich wusst es nicht mehr. Carl sagte: Der Junge hat zwei Leben. Er hat ein Leben ohne seinen Vater und eins mit ihm, wenn er wiederkommt. Nachher habe ich gedacht: Er hat ein Leben im Osten und eins im Westen. Carl sagte: Das ist noch nicht alles. Janus hält sich das Jenseits vom Leib. Das sagte Carl, als er wieder in Schwung kam, als er das Hinterzimmer verlassen und selber ein neues Leben begonnen hatte. Ich hab den Jungen groß gezogen. Das weiß jeder in der Familie, und die großen Probleme, die damit zusammen hingen. Ich lieb den Jan über alles.

Mama Louise, sagte Janus, erzähl die Geschichte von Carl und der Bierflasche! Aus Mama Louises Augen blitzte der Schalk. Sie hatte die Gabe, von dem Erlebten das zu behalten, das sie schauspielerisch umsetzen konnte und wie Medizin ihre Seele stärkte. Gut, sagte sie, ich erzähl’s noch einmal. Aber beim nächsten Mal erzählst du’s! Wieder mal waren wir eingeladen bei Mütterchen mit Pastor Siegel, Frau und Tochter, und wir, Carl und ich. Und noch eine junge Dame, es herrschte große Hitze. Wir alle sitzen beim Abendbrot, da will mein Mann eine Flasche Bier aufmachen, das nannte sich Jungbier. Er ist nicht sehr geschickt in allem, ich hab ihm das oft abnehmen müssen. Das hat meine Schwiegermutter nicht so gern gesehen. Ich sag: „Männi, sei vorsichtig mit dem Bier!“ „Na, mein liebes Louischen, Carl wird doch wooohl noch mal ne Flasche Bier aufmachen können!“ Und in dem Moment geht die Flasche Bier auf und spritzt das ganze Jungbier auf das neueste Hochsommerkleid von Frau Pastor Siegel. Also das gab einen Aufruhr! Sie war mit hochrotem Kopf außer sich. „Mein liebes Margotlein, nein nein nein, wir gehen sofort nach Hause. Wir können ja so gar nicht bleiben!“ „Mein liebes Margotchen, lassen Sie mal, es trocknet vielleicht ab!“ Wir sind einzeln aus dem Zimmer gelaufen, wir haben vor Lachen uns kaum halten können, mussten uns biegen vor Lachen. Nichts gegessen, aufgestanden und davongelaufen sind sie! Nur meine Schwiegermutter hat sich ernsthaft gezeigt, als Frau Pastor Siegel ging. Jetzt war natürlich der ganze Abend bedeppert. Da entschlossen wir uns, noch den Abend ins Varieté zu gehen zur Abwechslung. Mütterchen nicht mit. Wir und die junge Dame, die noch eingeladen war, auf die Frau Pastor Siegel kiebig war, weil sie überhaupt eingeladen war – eine hübsche Dame neben der Tochter...! Aber ehe wir dort hingingen, sind wir noch einmal in das Haus bei Frau Pastor Siegel und wollten fragen, ob sie vielleicht mitging ins Varieté. Es machte keiner auf, es war alles dunkel. Den Tag haben wir nie vergessen... Ich hab ja vorbeugen wollen, aber es hieß ja: „Carl wird man wooohl noch ne Flasche Bier aufmachen können!“

Jetzt noch die Geschichte vom fremden Mann, Mama Louise! Na gut, sagte sie, mit dieser Geschichte kehren wir zur großen Geschichte zurück. Es war ja Krieg. Der Weltkrieg dauerte schon drei Jahre, und die ganze Begeisterung vom Anfang war verflogen. Als mein Bübchen vierzehn Tage alt war, musste Carl zur Musterung – er hatte Angst die ganze Nacht, er muss ins Feld. In aller Frühe muss er aufstehen. Wir lagen noch im Bett, da klingelt’s im Morgengrauen an der Tür. Das Dienstmädchen rennt an die Tür und macht auf. Da steht ein Mann in Hemdsärmeln vor der Tür, sie rennt weg: „Ein Mann, ein Mann!“, und ehe wir uns vergucken, war der Mann in unserer Wohnung und stand im Schlafzimmer. Ich sag: „Männi, ein Mann!“ Er sucht seine Brille und guckt. Der Mann läuft aus dem Schlafzimmer, ich weiß nicht wohin. Ich hatte eine furchtbare Angst, ein Einbrecher oder was, man weiß es nicht. Kurz, ich hol die Kinder aus dem Kinderschlafzimmer, werf sie in mein Bett wie Kartoffelsäcke und schließ und rammel ab. Meine Schwiegermutter hat im Hinterflügel gewohnt, die hat sich einen Schrank vor die Tür gestellt, weil sie hörte: Ein Mann. Das Mädchen ist über die Hintertreppe weggelaufen, vor Angst, ein Mann ist in der Wohnung. Mein Mann hat sich angezogen, und wir kamen langsam aus den Türen und dachten, er ist wieder weg. Ich ging ins Herrenzimmer, da liegt auf der Chaiselongue bis oben hin zugepackt der Mann! Um Gottes willen! Sag ich: „Männi, der liegt in unserem Herrenzimmer auf dem Sofa!“ Na, Carl ist hin, er dachte, vielleicht wird der betrunken sein, und ging an den heran – und das alles, bevor er zur Musterung musste! Das war Anfang Februar 1917. Und das Kind vierzehn Tage alt! Wir flogen! Mutter sagte: „Du kannst das Kind nicht nähren, die Milch ist zu aufgeregt, den ganzen Tag kannst du nicht nähren.“ Und dann kriegt das Kind Tee, es hat geschrieen. Ich ging runter, wollt im ersten Stock Hilfe holen, da liegt auf der Treppe ein Hut, ein Stock, ein Schirm – und die Jacke. Jetzt frag ich unten im ersten Stock, ob sie helfen kommen, aber sie taten, als ob sie nichts wüssten. Endlich kommt die Dame mit hochfrisiertem Kopf im guten Morgenrock an und sagt: „Aber Herr Doktor, aber Herr Doktor!“ Sie tat so, als beschwerte sie sich über die Störung am frühen Morgen. „Kennen Sie den nicht?“, fragte Carl. „Nein, kenn ich nicht“, log sie. War das ein Studienassessor, der bei ihnen eingeladen war, wie sich später herausstellte! Wir haben ihn dann aus der Wohnung transportiert. Carl musste zur Musterung – und kam Gott sei Dank schon um 12 Uhr wieder mit der Nachricht, dass er noch nicht ins Feld muss. Vor dem Abendessen, wir waren noch alle aufgeregt, ging ich mit den Kindern an die Promenade. Jeder Milchmann, jeder Droschkenkutscher, jedes Dienstmädchen und jeder Kaufmann in der Straße wusste, was mir am Morgen passiert ist. Das hat sich so schnell rumgesprochen. Das Mädchen hat’s beim Bäcker erzählt, der Bäcker hat’s im Kolonialwarengeschäft erzählt, der nächste, der kam: „Haben Sie schon gehört? Heute Morgen bei Frau Mundt, im Wochenbett der Junge, kommt ein junger Mann ans Bett in Hemdsärmeln!“ Es war eine große Aufregung. Am Abend machte Studiendirektor Isleib bei uns einen Entschuldigungsbesuch mit ihm, der junge Assessor wusste von nichts.

Als der Krieg vorbei und der Sommer kam, rüsten wir für die Ostsee, mit Koffern und Kindern und Betten und allem, was dazugehört, um in eine Kochwohnung zu ziehen für drei Monate. Die Züge waren überfüllt. Eh wir wegfahren, sagt meine Schwiegermutter noch: „Reist doch lieber nicht, man weiß ja nie – wenn die Kinder unterwegs krank werden, was dann?“ „Dann muss ja auch gesorgt werden,“ sag ich. Kurz und gut, ich hab mir das mit der Luftveränderung nicht nehmen lassen. Und mein Arzt hat ja auch sehr zugeredet, dass wir unbedingt fahren sollen. Es gab ja zu der Zeit keine richtige Milch und nichts. Und die Kinder haben von den pommerschen Kühen, die da auf da Weide waren, die frische Milch direkt vom Feld bekommen und sind da aufgeblüht... Auf der Hinreise haben sie unterwegs tatsächlich die Windpocken gekriegt. Mit glutroten Köpfen sitzen wir in der Bahn. In Berlin hat mich meine Schwester in Empfang genommen, wir haben da genächtigt. Sie hat sich den Trubel gemacht, uns alle aufzunehmen mit Stütze, immerhin sechs Personen. Am anderen Morgen hat sie uns an die Bahn gebracht zur pommerschen Ostsee. Die Kinder hatten leichtes Fieber, aber unterwegs wurde das Fieber mehr und mehr. Als wir ankamen in dem kleinen Ort, ging der Bummelzug nicht mehr. Wir mussten rennen und uns entscheiden: Einen Wagen nehmen mit Pferd oder in ein Gasthaus. Wir landen im Gasthaus – alles war schon überfüllt – zwei Betten. Da haben wir die Kinder reingesetzt, und meine Stütze und ich haben die ganze Nacht im Sessel gesessen. Andern Morgen sind wir mit dem kleinen Zug an der See angekommen, und die Tränen sind mir vor Freude gekommen, wie ich die Betten alle bezogen hatte. Carl konnte diese Strapazen mit dem Zirkus nicht vertragen. Da hat’s von vornherein geheißen, er kommt mal nach, wenn wir eingelebt sind. Wir hatten ja von Cottbusser Kaufleuten Gries und Mehl schicken lassen, Butter und Zucker, alles im Vorrat, und haben dort auch gekauft, denn es war ja die Zeit der Inflation, wo es nichts gab. Man hat sofort, wie wir angekommen sind, ein paar tausend Mark hingelegt – das Geld war ja entwertet -, sodass die Wohnung für die drei Monate bezahlt war. Da hat die Frau von dem Geld sich sofort eine Einrichtung gekauft. Wir waren gut versorgt und hatten eine unkündbare, schöne Wohnung an der See...

Nun kommt Halle, sagte Janus, meine Stadt, und mein Vater. Ja, sagte Mama Louise, 1930 sind wir von Cottbus nach Halle umgezogen, Robert kam dort aufs Stadtgymnasium. Alle vier Geschwister strebten zum Abitur. Es war eine ernstere Zeit wie die, die wir in Cottbus erlebt haben. Bald tat sich die Hitlerjugend auf, da hieß es: Jugend erzieht Jugend. Wenn wir sahen, dass sie in einem sehr guten Kreis waren und liebe Freunde hatten, waren wir damit einverstanden. Einer nach dem anderen machte das Abitur. Sofort nach dem Abitur ist Günther in die Kriegsschule gekommen, nach München. Wir haben ihn dort und später in seiner Garnison besucht, er hat eine schnelle Laufbahn gemacht. Dann ist der Krieg ausgebrochen. Als Robert sein Abitur machte, war schon Krieg. Er ist Medizinstudent geworden, in der Armee Unterfeldarzt. Günther fiel am Don. Und Robert ist in die schwerste Gefangenschaft gekommen. Da kann sich ja jeder denken, was eine Mutter durchgemacht hat. Die Zeit des Hungers ist eingetreten und Not. Wir mussten nach Kohlen laufen, wir hatten überhaupt kein persönliches Leben mehr gehabt. Wir haben in der Heimat auch sehr gelitten. Jeden Tag haben wir gedacht, wenn bloß Post käme. Eines Tages kamen Heimkehrer, die sagten, entweder er kommt jetzt bald, oder er kann für lange Zeit nicht kommen. Die haben Bescheid gewusst.
Wir sind auf die Straße mit schweren Karren gegangen, haben Kohlen holen müssen, damit die Kinder ein warmes Zimmer haben und wir sie baden konnten. Wir sind hamstern gegangen, nach Reideburg gefahren, immer abwechselnd, einmal Usch, einmal ich mit Irmgard. Wir sind nach Lauchstedt gefahren, früh morgens haben wir uns im Dunkeln einen Laster angewinkt, der uns da hinfahren soll, um in einer Mühle Mehl zu bekommen. Da ist man schlecht behandelt worden und musste lange warten, bis man was gekriegt hat. Wir waren selig, wie wir mit fünf Pfund Mehl heim konnten von Lauchstedt! Immer wieder sind wir hin, um mal fünf Pfund Mehl zu bekommen.

Robert hatte sich ja mit Usch verheiratet. Seine junge Frau kam mit dir in unsere Wohnung. Sie hat sich dann einen Freund zugelegt... Das war ein schwieriges Kapitel, wenn man mit fünf Frauen zusammen ist – Usch, Lilo, Irmgard, Günthers Frau, Ev, und ich. Sechs Frauen ohne Mann! Die Frauen haben alle auf ihre Männer gewartet und gehofft und gedacht, sie schreiben. Da ist natürlich alles in gedrückter Stimmung verlaufen. Einer hat gedacht, er hat mehr Sorgen wie der andere. Die kleinen Kinder haben uns Auftrieb gegeben, dass sie sich entwickelten. Aber dann auch wieder Darmkatarrh und Fiebergeschichten und Halsentzündungen und Rachenmandeln; wir mussten oft zum Arzt. Das waren schwere Zeiten.




Das Hinterzimmer

Dann ist Carl krank geworden vor lauter Angst, er wird abgeholt. Wie der Zustand war, hat man ja niemand groß erzählt, jedenfalls hat es der Arzt Dämmerschlaf genannt. Und weil er einen Dämmerschlaf hatte – die kleinen Kinder mussten in die Wohnung, laufen lernen und krabbeln lernen, ein Laufgitter wurde aufgestellt – und ihn störte das furchtbar mit Kindern. Und wenn’s klingelte, hatte er Angst. Jedes Mal, wenn es klingelte, ist er zusammengefahren und hat Angst gehabt, es käme jemand, der ihn abholt. Dann haben wir ihn ins kleinste Zimmer gebracht, was grad gemütlich war für ein Bett. Der Professor Ratschow hat gesagt, das ist der richtige Platz für Ihren Gatten, der spürt hier nichts von den Kindern, und Sie müssen sich jetzt in erster Linie den Kindern widmen. Ihr Mann braucht weiter nichts wie den Schlaf. Carl wurde elend und elender. Er hat ja immer zuerst, eh wir an den Tisch gegangen sind, sein Deputat Essen bekommen aus der warmen heißen Küche. Und alles hab ich ihm gereicht. War ich einmal verreist, zu einer Erbschaftsauseinandersetzung, hab ich mir eine Krankenpflegerin genommen, die jeden Tag zwei Mal kam, morgens und abends. Sieben Jahre lag er im Hinterstübchen. Er hat aber Gott sei Dank gar nicht teilgenommen, in gewisser Beziehung hat er das alles nicht gespürt, aber wenn ich gefragt habe, immer wieder: „Glaubst du, dass Robert wiederkommt?“ – er war sonst gar nicht ansprechbar – hat er immer gesagt, er glaubt’s ganz bestimmt. „Wir beten für ihn.“ Das hat er gesagt. Er war immer klar beisammen, aber nicht im Familienleben. Das mit Kleinkindern war ja nie für ihn das Richtige, da war zuviel Unruhe im Haus.

Das stimmt, aber es stimmt nicht alles. Nicht so, wie Louise das sagt... Carl lag im Hinterzimmer und ließ sein Gehirn auslaufen, Tag für Tag dachte er zurück an die Zeit, als er nach Frankfurt fuhr und Louise erwählte, an die langen Momente des gegenseitigen Magnetismus. Ich schrieb meine Liebe mit Herzblut in ihre Seele, und sie antwortete genauso, sagte er sich. Er sah zum Stuhl, auf dem der Teller stand, Spinat mit Püree und Spiegelei, er ließ das Essen stehen. Die Zeitung lag aufgeschlagen auf dem Bett, die FREIHEIT, er las die Schlagzeile vom Tod Stalins. Das musste langfristig das Ende der Zone bedeuten, Sowjetrussland fällt auseinander, es fehlt die starke Hand, die das dritte Rom zusammenhält, es fehlen die Waffen... Es stimmt, ich hatte keine Nerven für die Kinder, es war besser, ich blieb zu Hause und arbeitete die Akten durch, während Louise mit den Kindern an der See war, mein Urlaub war zu klein für ihre extravaganten Luftveränderungen. Meine Mutter ließ mich nicht los, ich war zu schwach, ihr entgegenzutreten, ich war auch zu schwach für ein Familienleben mit einer so vitalen Frau und vier Kindern in schwierigen Verhältnissen: Inflation, Gehaltseinsparungen, Krieg, drohender Militärdienst, wieder Krieg, die Kosten für Roberts Medizinstudium, die Auseinandersetzungen mit den Frankfurter Verwandten. Er dachte an die dreißigtausend Goldmark, die er dem Schwiegervater in die marode Textilfirma steckte. Die Inflation entwertete das Geld, das er als Notgroschen auf die sichere Kante gelegt hatte, das nun aufgerieben wurde in einem verzweifelten, immer aussichtsloseren Kampf, die Firma in Frankfurt zu erhalten. Der Schwiegervater zahlte die Dreißigtausend zurück, als das Geld wertloser war als das Papier, auf dem es gedruckt war. Das schmerzte ihn, zumal die Frankfurter Verwandten, alles Geschäftsleute, auf ihn als Beamten herabblickten. Louises Heirat war nur zweite Wahl gewesen. Das drehte sich dann in der Zeit des wirtschaftlichen Niedergangs nach dem Ersten Weltkrieg. Jetzt hatte Carl sein solides Auskommen, der Frankfurter Schwiegervater, nun zu alt, kam wirtschaftlich nicht wieder hoch. Ihm blieben zum Glück noch drei Häuser im Zentrum der Stadt, von denen er leben konnte, und er behielt aus der Geschäftsauflösung die feinsten Kleider, Kostüme, Anzüge und Stoffe. Louises Vater schickte jedes Jahr einiges davon nach Halle.

Ich weiß, ich lebe in einer anderen Welt als Louise, ich liebe sie längst anders, als sie mich je liebte. Wir entfernten uns Jahr für Jahr, ohne das zu registrieren und mit ihr zu bereden. Carl, ich mach die Arbeit für die Kinder, ich besorge die Einkäufe, und du lebst in ganz anderen Regionen!, sagte sie. - Ich sagte, ich schreibe Einnahmen und Ausgaben auf, ich sage dir, du kaufst zuviel, wir können uns keinen Pump leisten! – Sie: Die Kinder müssen raus aus der Stadt, sie brauchen Erholung, Männi! – Louise, wir haben das Geld nicht! – Wir geben in der Sommerfrische weniger aus als hier in der Stadt! – Also gut, sagt er, dann fahr, ich bleibe in Halle! – Bleib du, wo du bist, sagt sie, du hast ja Mütterchen! – Sie dachte, Carl hätte nie heiraten sollen, aber da waren die wunderbaren Gesellschaftsabende, wo sie mit ihm sang und wo sie sich ergänzten in ihrer Neigung, vor den Gästen eine Welt zu spielen, die schon nach dem Ersten Weltkrieg bröckelte und der die gesellschaftlichen Grundlagen abhanden kamen, es fehlte die alte Bildung, das wilhelminische Fluidum – während andere Bedürfnisse wichtiger wurden. Carl erkannte das erst jetzt.

An die Politik dachte er nicht, und doch gab es keine politischere Situation als seine Verlorenheit auf einem Bauerngut bei Posen, als die sowjetischen Armeen die Grenzen des Großdeutschen Reichs überschritten. Louise war mit Carl nach Posen zu Irmgard gefahren, als Madlen geboren wurde. Horst hielt als stellvertretender Propagandaleiter bis zuletzt die Stellung und arrangierte die Rückkehr nach Halle erst, als die russische Artillerie schon zu hören war. Louise bestieg mit Irmgard und Madlen einen Lastwagen, den Horst organisiert hatte, und fuhr ab, ohne Carl vom Bauerngut abzuholen. Sie sagte Charlotte, die beim Reichssender arbeitete, sie soll den Vater holen und mit ihm nach Halle zurückkehren. Carl durchschaute nicht, in welcher Lage er sich befand. Als er den Artilleriedonner hörte, war es fast schon zu spät. Charlotte bekam kein Auto, Horst war telefonisch nicht erreichbar, weder in der Wohnung noch in der Dienststelle. Carl erlitt eine nie gekannte Angst, er sah sich verloren, die Verwalter des Bauernguts waren Polen, die blieben auf dem Hof und wurden befreit. Die Polen ließen ihn in Ruhe, aber sie sprachen nicht mit ihm. Es gab hier kein Telefon, kein Auto, keinen Bus, keine Bahn...
Wo ist Louise? Es ist ihr etwas zugestoßen, dachte Carl. Keiner holt mich ab, der Gedanke durchschoss sein Hirn. Louise weiß doch, dass ich hier bin...! Horst weiß es auch, Irmgard... An Charlotte dachte er nicht, sein süßes süßes Püppchen.

In letzter Stunde war sie es, die ihn herausholte, Horst erwischte ein Auto und schickte den Fahrer mit Charlotte zum Bauerngut. In Posen bestieg Charlotte, während Horst später mit dem Dienstwagen Posen verließ, den letzten Zug vor den einmarschierenden Sowjetarmeen. Die Angst kroch tief in Carls Seele, als er in Halle eintraf. Er fühlte sich nicht gerettet, obwohl die amerikanischen Truppen in Halle standen. Er nahm Janus, den Enkel mit den zwei Leben, wie er später sagen wird, nicht in die Arme. Mit Louise sprach er kein Wort.

Carl lag im Bett des Hinterzimmers jenseits des Treppenhauses, das Fenster zum Hof mit den Rhabarberbeeten, dem Sandkasten und dem Takt der Schritte auf dem steingepflasterten Weg. Hier lief Usch morgens, mittags und abends über die Steine, die Kinder spielten, hinter der Akazie und den Gärten hörte er die Straßenbahn die Burgstraße hoch fahren, am Abend erklangen die Mundharmonikas der Nachbarn und ein Xylophon aus der Ferne, manchmal die Melodie „Guten Abend, gute Nacht“. Carl murmelte: Brahms, Wiegenlied Opus 49 Nr. 4.

Je älter ich werde, schrieb er am Ende der Zeit im Hinterzimmer, umso weniger begreife ich mein Leben, immer fragwürdiger erscheint es mir. Als ich jung war, wusste ich, als ich noch nichts wusste, alles. Der Sinn meines Lebens zerfließt. Als ich ein Kind war, glaubte ich, die Erwachsenen wüssten Bescheid über das Leben, und jetzt, wo ich alt werde, fällt mir der Begriff vom Erwachsensein aus der Hand und ich sehe, dass selbst die nichts wissen, die es glauben. Absurd, gerade die Sterblichkeit verleiht dem Leben so viel Bedeutung.

Dann ist eines Tags ein Wunder geschehen: Charlotte heiratete. Kurt ist öfter mal zu Carl hinter gegangen. Eines Tages erzählt er ihm: „Vater, wir heiraten, am soundsovielten, würdest du dann aufstehen?“ Carl sagte: „Ja, dann stehe ich auf.“ Ich habe die Krankenschwester kommen lassen, Carl ist von seinem Bett aufgestanden und feierte im Smoking die Hochzeit vorne in der Wohnung mit. Ab da ist er jeden Tag aufgestanden und hervorgekommen und hat teilgenommen an uns, ist spazieren gegangen, und es war, als ob die Welt gar nicht dazwischengelegen hätte in den sieben Jahren. Jeden Tag kam ein Masseur, der ihn ganzkörperlich massiert hat, damit die Gliedmaßen wieder kräftig werden, und er wurde immer frischer, sodass wir, wie Kurt und Charlotte verheiratet waren, sogar konnten zusammen nach Greifswald fahren. Da ist Hajott geboren, Charlottes Sohn. Carl hat Kurt die Bibliothek eingerichtet. Dann wurde Kurt habil. schwer krank, Leberzirrhose.

Morgens klingelt das Telefon in Greifswald, mein Bruder in Frankfurt: „Robert ist in Deutschland! Dein Sohn lebt!“ Ich hab es immer gewusst. Da kam ein Schub Heimkehrer, wir hatten nicht gedacht, dass Robert dabei ist. Immer wo die Heimkehrer waren, ist uns gesagt worden: Die nicht schreiben, können auch nicht kommen. Und eines Tages heißt es, Robert ist in Deutschland. Er hat sich umgetan nach uns, nach seiner Frau, die hat sich verheiratet, hat einen anderen Namen angenommen, sodass seine Post nicht in Halle ankam und er sich wunderte, dass er keine Antwort kriegt. Da hat er sich an meinen Bruder in Frankfurt gewandt, da kriegt er die Nachricht, dass wir in Greifswald sind. Ich ging ans Telefon, da sagt er: „Mutti!“ und fragt mich: „Wo ist Usch? Ist sie wieder verheiratet?“ „Ja!“, ruft Charlotte neben mir in den Hörer. Das war ein schwerer Schlag. Nach zwei Tagen – wir hatten furchtbare Angst, ob das auch klappt, dass er in Berlin durchkommt – kommt Robert in Greifswald an – wir standen wie versteinert da! Die ganze Nacht hat man erzählt. Was er erlebt hat, hat er weniger erzählt. Ich habe gehört, die Gefangenen wollen von sich nichts erzählen und nicht ausgefragt werden, das kommt so langsam erst. Sie wollen von uns erzählt haben. Da hab ich eben – mir war das Herz ja auch voll – erzählt, was ich alles mit Kurt habil. und Charlotte erlebte. Robert gab mir anderntags ein Schriftstück: „Ich schrieb das im Entlassungslager.“

Der chinesische Henkerwettstreit.
Ein einziges Mal trafen sich die zwei besten Henker Chinas. Sie wollten wissen, wer die Kunst der Enthauptung besser beherrschte. Als Delinquenten, die bei dem Wettstreit der beiden Henker zu enthaupten waren, kamen nur Liebhaber der Wahrheit in Frage, die die vollkommene Enthauptung nicht als Handwerk, sondern als absolute Kunst begriffen: Die Henker selbst. Die beiden Rivalen mussten sich also gleichzeitig köpfen. Das Ziel der Meister war die reine Enthauptung, bei der das Schwert den Kopf vom Rumpf ganz trennt, der Kopf aber auf dem Hals stehen bleibt.
Die Henker schritten zum Richtplatz. Sie duldeten kein Publikum außer sich selbst. Sie standen einander gegenüber, schauten sich kühl lächelnd an, gaben sich die Hand, dann griffen sie zum Schwert, und auf ein gemeinsames leises Nicken mit dem Kopf schwang jeder sein schweres Schwert mit der lang gekrümmten scharfen Klinge und führte den Hieb durch den Hals des anderen. Die Schwerter fielen zu Boden. Die geköpften Henker standen fest auf beiden Beinen, die Köpfe blieben auf ihren Hälsen. Sie spürten keinen Schmerz. Sie starrten sich an. Sie hatten diesen Augenblick erwartet, aber sie hatten nicht gewusst, dass er so lange dauert. Keiner wagte eine Bewegung.
Da merkten sie, dass ihre Herzen schlugen, und sie spürten, wie ihr Leben die Kunst widerlegte. Als der eine endlich nickte und sein Kopf nicht fiel, nickte auch der andere, und sie wussten nun, was sie immer schon wussten: An das Göttliche glauben die allein, die es selber sind.

Ich las und verstand nichts. „Mich interessiert, was dieser Kopf denkt, bevor er nickt“, sagte Robert, „das müsste doch Ähnlichkeit haben mit Gedanken unserer Zeit über sich selber.“ Ich wusste nicht, was er meinte. „Heb es für Janus auf“, sagte ich, er wird dich besser verstehen als ich, wenn er alt genug ist.“

Robert blieb nicht in Greifswald, hier ist Volkspolizei, er hat die größte Unruhe gehabt, er wird wieder abgeholt. Er wollte nach Berlin. Aber da wollte ich nicht mit, ich bin viel zu ängstlich, diese Ausfragerei und Durchsucherei von der Volksarmee. Wenn die in die Coupés kommen, das ist so furchtbar. Da ist Charlotte mitgefahren. In Berlin hat die Volkspolizei Robert am Heimkehreranzug erkannt und aufgegriffen: „Folgen Sie mir unauffällig!“ Da mussten er in eine Baracke gehen, Charlotte ging mit. „Wer ist die Dame?“ „Meine Schwester.“ Sie hat gesagt, mein Mann ist Professor in Greifswald. Da konnten sie wieder gehen.

Bei der Hausdurchsuchung haben sie allerhand mitgenommen, alte juristische Blätter, wo das Abzeichen von den Nazis dran war, Briefe und Bücher. Wir hatten schon viel ausrangiert, aber wenn sie wollen, können sie alles mit einem anfangen. Plötzlich gingen sie nach hinten und finden eine Pistolentasche, eine leere: „Frau Mundt, wo ist die Pistole? Sagen Sie aus, wo ist die Pistole?“ „Ich kann sie mir nicht aus den Rippen schneiden, ich hab keine Pistole!“ „Wenn Sie jetzt nicht sagen, wo die Pistole ist, werden Sie an anderer Stelle aussagen müssen!“ Das heißt also mit anderen Worten, habe ich mir so gesagt, das gibt jetzt ne große Sache. Sie sind gegangen, und man wusste von dem Moment an, wo sie mit Bergen von Sachen aus der Wohnung sind, was morgen oder heut Abend noch mit uns passiert. Wir flogen am ganzen Körper! Ich hab’s hinten meiner Schwiegertochter nicht erzählt. Janus war da: „Carl, spiel Schach mit mir!“ Sie spielten Schach. Ich hab’s Janus nicht erzählt, es war mein Geburtstag. Carl sagte: „So ein Unsinn, wir werden doch deswegen nicht flüchten!“

Ich sag: „Wir müssen gehen!“ „Also ich bleibe hier!“ Ich sag: „Wie kannst du denn hier bleiben, wir können ja hier nicht einmal laut sprechen!“ „Willst du denn alles stehen und liegen lassen?“ „Wir müssen gehen, Robert hat gesagt, wenn das Geringste gegen euch vorliegt, das Geringste, dann nehmt ihr eure Handtasche und geht! Und der Moment ist jetzt da!“ „Also, ich bleibe hier. Soll ich denn meine ganzen schriftlichen Arbeiten hier lassen?“ Sag ich: „Ja dann nimm sie mit! Ich packe jetzt!“ Was macht man? Man packt das Verkehrte. Ich hab etwas Silber genommen und hab das zu Bekannten getragen in ein Altersheim, aber ich hab ja auch denken können, unten laufen die auf und ab. Frau Mütze, die im Haus wohnte, hat mir geholfen. Wir haben überall gesagt, auch zu Usch hinten, wir fahren nach Greifswald, die Aufregung ist zu groß, wir fahren zu unserem Schwiegersohn. Wir sind hingefahren auf Umwegen. Mit welcher Todesangst wir da hingefahren sind! Ich musste die Pension bei mir haben, das wichtigste Papier. Die Krankenscheine haben wir vergessen, dadurch sind wir nicht mehr in die Krankenkasse aufgenommen worden. In Greifswald kommen wir an, da meint Kurt habil. wieder, wir sollten in Greifswald unter seinem Schutz bleiben. Ich sag: „Wir gehen!“ Da sind wir nach Berlin gefahren, auch unterwegs die Sachen ausgepackt gekriegt, also jede Minute habe ich gedacht, es geht uns an den Kragen. Ehe wir mit der S-Bahn in Westberlin waren, sagt Carl: „Siehst du, alle Aufregung umsonst!“ Ich denk, der Schlag rührt mich! Das ganze Coupé guckt uns an, jeder merkt: Flüchtlinge! Es hätte da einer sein können, der sagt: „Hören Sie... Was denn für eine Aufregung? Kommen Sie mal mit!“

Jetzt sind wir sofort ins Lager Marienfelde. Dort sagten sie: „Warum sind Sie nicht gleich gekommen? Am 7. war die Hausdurchsuchung, und erst am 10. sind Sie nach Berlin gefahren.“ Wir waren noch zwei Tage in Greifswald. Also noch in der Ostzone. Da haben sie gesagt: „So schlimm können sie ja noch nicht hinter euch her sein, wenn ihr nicht direkt nach Berlin seid.“ Wir hätten sofort nach Berlin gemusst. Aber wir sind doch noch aufgenommen worden. Wir wohnten bei meiner Cousine, das war eine beruhigendere Zeit, obwohl man sich auch sagen musste, wir besitzen nicht ein Handtuch. Wir sind jeden Tag nach Marienfelde, da ging’s von einer Ausfragerei in ein anderes Zimmer, jedes Mal woanders hin, man ist nur nach Nummern gefragt worden, heut gehen wir auf Nummer D ins Haus E und übermorgen ins Haus B, man ist immer wieder aufs Neue ausgefragt worden, und immer wieder musste man Fragebogen ausfüllen. Carl wusste schon gar nicht mehr, was er schreiben sollte. Da hat man in einem Käfterchen gesessen, da haben noch drei andere Leute gesessen und mussten was schreiben. Da sagt Carl, er weiß nicht, was er schreiben soll. Da sag ich ihm, wie alles gewesen ist mit der Hausdurchsuchung und was er schreiben soll. Es war ihm zu drastisch, wie ich es darstellte. „Gut, ich werde von nun an nur noch lügen!“ Er hat’s nicht begriffen! Die Leute, die drum herum gesessen haben, haben alle aufgehört zu schreiben und haben uns groß angeguckt. „Nun gut, ich werde von nun an nur noch lügen!“ Ich hab gedacht, das Herz bleibt mir stehen!

Endlich kam der Abflug nach Loccum. Es ist passiert, dass ein Omnibusfahrer sich hat Geld geben lassen und hat die Flüchtlinge nicht in den Westen gebracht, sondern wieder in die Ostzone gefahren. Wie wir in Hannover angekommen sind in der Nacht, da ging kein Zug mehr nach Loccum. Wir haben uns nicht getraut, uns in ein Auto zu setzen, weil wir Angst hatten, sie fahren uns einfach wieder zurück. Da sagten uns die Leute: „Sie brauchen keine Angst zu haben, Sie sind im Westen, es tut Ihnen kein Mensch was.“ Nein, sagten wir, wir fahren nicht mit fremden Leuten im Auto! Da sind wir die Nacht im Bahnhof geblieben auf der Bank bis zum frühen Morgen. Dann sind wir im Lager angekommen.

Wir haben immer gedacht: Janus kommt hoffentlich, wenn bloß der Janus kommt! Der Abflug ohne Jan war mir das Schlimmste. Uns hat die Fürsorge gesagt, wir kennen Fälle, wo die Mutter verspricht, er kommt mit, und wenn sie ihn wirklich hergeben soll, hat sie nicht die Kraft dazu. Aber Uschs Vater hat uns geholfen: „Der Sohn gehört zum Vater!“


Ulrich Bergmann

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