KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
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SCHNITTERWUNDE
156. Kolumne
Je älter ich werde, umso weniger begreife ich das Leben. Ich begreife mich selbst zwar etwas besser, aber immer größer wird die Verantwortung dessen, was ich als Schöpfer meiner Realität tue, immer fragwürdiger auch die finale Begründbarkeit meines Handelns. Immer relativierter erscheint mir, was ich mache, und bin trotzdem gezwungen mich absolut zu setzen, denn ich bin (abgesehen von allem, was mich und mein Leben determiniert) der Gott meiner permanenten Selbsterschaffung; und das meine ich nicht als Vermessenheit, sondern als die Last, die ich, ein moderner Sisyphos unter vielen, tragen muss.
Als ich jung war, wusste ich, als ich noch nichts wusste, alles. Der Satz des Sokrates erschien mir immer nur als eine virtuose Bescheidenheitsfloskel, jetzt erst erkenne ich, was er meint.
Aber auch der Sinn meines Lebens zerfließt immer mehr - ich kann die Launen der Natur nicht sicher kommentieren, und ich sehe, wie auch die Wissenschaften in dieser Frage scheitern, und ich sehe, dass nur ich selbst mir einen Sinn geben kann. Das gelingt zwar in guten Ansätzen, ist aber immer den konkurrierenden Sinnsetzungen anderer ausgesetzt, und damit ist mein Schöpfertum relativiert. Das Fragment will Ganzheit.
Als ich ein Kind war, glaubte ich, die Erwachsenen wüssten Bescheid über das Leben, und jetzt, wo ich selber so erwachsen bin wie die Erwachsenen, fällt mir der Begriff vom Erwachsensein aus der Hand und sehe, dass selbst die nichts wussten, die es glaubten. Das ist der Verlust der Kindheit, der manche in die Arme des Glaubens an transzendente Mächte treibt, das ist die Falle der Religion, in die auch ich, der ich nichts glaube, immer wieder tappe. Auch mein Nichtglauben ist letztlich ein Glaube.
Das ganze Leben ist ein nie endendes Lernen, Beginnen, Sich-Ändern, Verändertwerden, Sich-Behaupten, Sich-Entwickeln, Sich-Verraten und Sich-Treubleiben in einem sehr komplexen dialektischen Sinn. Es ist absurd: Aber gerade die Sterblichkeit verleiht meinem Leben so viel Bedeutung, und zugleich lebe ich vermutlich bis zum Schluss, wie ein Unsterblicher.
Ich lebe gern.
Zwar haben meine Neigungen zur Melancholie zugenommen, vor allem im Winter, aber mir gelingt immer wieder das Kokettieren mit meiner Melancholie, ein Scherzen mit meiner manchmal allzu ernsten Veranlagung. Ich lebe so gerne, dass ich eben traurig werden kann angesichts des feststehenden Todes, der mir noch so weit weg vorkommt, und ich weiß, dass ich mich schon sehr bald umsehen werde. Gegen solche Gedanken, die die Wahrheit sind, die einzige Gewissheit im ganzen Leben, ist kein Kraut gewachsen, kein Bier und keine Kunst, kein Theater und keine Religion und - wenn ich es recht bedenke - keine Freundschaft, keine Liebe. Bei aller Liebe, die gegenseitig möglich ist, erkenne ich: Am Ende sind wir immer ganz allein.
Trotzdem habe ich oft genug die Kraft zur Selbstüberredung: Dass das Leben etwas Schönes ist (und ich empfinde es ja meistens so), dass die Dinge, mit denen ich mich beschäftige, mich nicht nur ablenken von der Traurigkeit der permanenten Todesnähe, sondern mich auch froh stimmen, mir ein kleines Glück sind, das ich mir mit ihnen erschaffe.
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LG, Inge