KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Freitag, 01. April 2011, 10:37
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N8hall - octave. Lyrik (36)

234. Kolumne

octave, *1986, Baden-Württemberg. Eine starke poetische Stimme in Lyrik und Prosa. In der Prosa: Bestechende Sprachbeherrschung und der ergiebige Versuch, vergangene Zeiten als Gegenwartsträume zur Deutung unserer Zeit in neuen Kleidern gehen zu lassen. In der Lyrik: Kühner, freier - überraschendere Bilder.


Impression Notturno

Unter Bäumen schläft es sich leicht. Mit dem Skizzenbuch in der Hand, im hohen Schatten der Disteln. Etwas schillert im Licht. Der Rauschsüchtige. Sie haben sein Haus gefunden, ein Haus für Gehängte, das er verbarrikadierte.
Noch flüstern die Früchte des Baumes neben der Tür und ein Hermelin zittert ängstlich vorbei. Blumensterne wehen bunt. Eine Ziegenhirtin kämmt ihr rotes Haar und schaut zu den Wolken hinauf. Ein gestreifter Fesselballon schwebt vorüber und der schwarze Abglanz eines Menschen winkt ihr entgegen, in der Ferne. Aus Schindeln und sonnigen Gassen steigt der Geruch nach Gewitter und überzieht auch den Hain des Schläfers. Vom aufkommenden Wind wanken die Bergamotten, die Gräser roten Klees regen sich wie ein Harfenspiel.

Zu müde, um zu lächeln, zu dunkel, hat der Schlafende seine Arme weit von seiner Brust gestreckt, wie einer, den nichts mehr hält, den nichts mehr schmerzt. Sein Haar liegt feucht und verschwitzt im Grün.
Der Rauschsüchtige aus ligurischen Tälern mit der glitzernden Seidenweste am Körper hat einen Fuß ins Paradies gesetzt. Er kehrt nicht wieder.

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Ich lese octave schon lange. Immer wieder gelingen ihr in der Einfachheit der Worte, Sätze und Verse komplexe Inhalte und große poetische Wirkungen.

Der Titel – ein Mixtum aus Deutsch, Französisch oder Englisch (Impression) mit Italienisch (Notturno) – bezeichnet ein Nachtstück.
Es beginnt mit dem Bild eines in Harmonie mit seinen Gedanken Schlafenden, er liegt in der freien Natur unter Bäumen. Aber schon tritt im Traum der „Rauschsüchtige“ auf, eine rätselhafte Figur, Hüter der Gehängten. Er hat sich in seinem Haus verbarrikadiert. Drinnen brennt Licht. Die Stimmung ist hoch romantisch, gespenstisch, das erinnert an die Kulisse im „Erlkönig“. Aber hier geht kaum Wind, die Natur flüstert. Da sitzt in der Nacht eine Ziegenhirtin und kämmt ihr rotes Loreley-Haar, es muss Mondlicht darauf scheinen. Jetzt mischen sich die Zeiten: Ein Fesselballon treibt vorbei, aus der Höhe winkt ein Fremder. Der Geruch der Häuser nach einem Gewitter schwebt heran zum Schläfer. Im auffrischenden Wind singen nun lauter die Gräser, roter Klee wird zur Harfe. Der Schlafende fühlt sich unbewusst wohl, er räkelt sich, ihm war heiß, er hat geschwitzt. Schmerzlosigkeit nun. Und der Rauschsüchtige – der wie eine ferne Bedrohung oder Verlockung so nah in den fühlenden Gedanken war, ist verschwunden.

Der Schlaf heilte den Schläfer vom Tag. Die singende Natur verbildlicht die Verarbeitung der Tageserlebnisse. Der Schläfer erholt sich fern der Gesellschaft, der städtischen oder dörflichen Häuser. Ganz nah waren im Traum Tod und Liebe, der Rauschsüchtige verkörpert die sinnliche Erregung: Die Nähe von Sehn-Sucht nach Liebe und Gewalt. Es ist sowohl eine gewaltige Kraft in der Liebe als auch das im Bild der Gehängten aufscheinende warnende Über-Ich. Der Tag war erlebnisreich, der Schläfer handelte. Jeder Handelnde wird schuldig, er macht Fehler, jede Handlung vernichtet eine andere mögliche Handlung, erzeugt also ein schlechtes Gewissen manchmal. Vielleicht deutet das Schwitzen im Schlaf darauf hin, es kann aber auch das Nachschwingen erlebter Liebe sein, oder die Sehnsucht danach. Ambivalent. Erstaunlich der Schluss: Der Rauschsüchtige, der Hüter der extremen Gefühle, hat einen Fuß ins Paradies gesetzt, er wird entlastet – so entlastet sich auch der Schläfer vom Tag und kann erleichtert aufwachen.

Ulrich Bergmann, 19.1.2011


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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 loslosch (28.01.11)
"Der Schluss erinnert mich an das Kondolenzgedicht über einen toten Sperling (lat. passer) von Catull (Carmina), von Moerike übersetzt, lauter Hendekasyllaben:

...dorthin, wo sie verneinen,/ dass jemals einer zurückgekommen ist.

Nicht nur der Spatz ist weg, passé. Ich stellte mir beim Lesen ein Gemälde aus der Romantik vor. Auf eigenartige Weise berührend. Catull-Revival."

So kommentierte ich seinerzeit. Welche Bandbreite! Man mag denken, es sei beliebig. Nein, es bewegt was - beim Leser! Lo
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