Opa Willis neue Haarpracht
Geschichte zum Thema Gesellschaft/ Soziales
von hei43
Anmerkung von hei43:
Opa Willis neue Haarpracht
Das Leben in der Straße schien seit fünfzig Jahren stehengeblieben zu sein, und jeder kannte jeden. In diesem Stadtviertel gab es nur einen einzigen Frisörsalon. Gegenüber in einem dreistöckigen Haus wohnte die Familie Lohmann, zu der die Eltern, der Opa Willi und die Enkelin Marie gehörten. Ihre Wohnung befand sich im Erdgeschoss und bei schönem Wetter waren die Fenster zur Straße weit geöffnet, damit Opa Willi das Treiben auf der Straße genau verfolgen konnte.
Oft und gerne platzierte er sein grellbuntes Sofakissen für seine Ellenbogen auf die Fensterbank, um möglichst lange mit den Anwohnern plaudern zu können. Außerdem war er sehr darauf bedacht zu erfahren, wer den Frisörsalon besucht und mit welchem Aussehen er ihn wieder verlässt.
Seit Jahren war er schon Rentner und jedem, der es hören wollte und sollte, erzählte er gerne vom Rock ‘n‘ Roll aus seiner Jugend und ließ natürlich Bill Haleys Schmalzlocke nicht aus. Willi hatte seit langer Zeit schon keine Haare mehr und die Sehnsucht nach seiner einstigen Haarpracht wurde immer stärker. Marie hörte sich gerne all die vielen Geschichten an, die aus Wahrheiten und Phantasien bestanden. Er berichtete ihr vom genauen Aussehen einer Schmalzlocke und wie er seine eigene sorgsam pflegte, um den Mädchen zu gefallen. Schon oft hörte Marie diese Geschichte und plötzlich hatte sie eine Idee.
Eines Tages spazierte sie über die Straße zum Frisörsalon und blieb, mit dem Blick zum Fenster, dort stehen. Weil ihre Neugierde ständig wuchs, drückte sie ihre Nase dichter an die Scheibe, um zu sehen, was drinnen vor sich ging. Sie sah Frauen unter Hauben sitzen und Männer, die rasiert oder denen die Haare geschnitten wurden. In dem Moment, als Marie mal wieder zur Straße blickte, ging eine junge Frau mit langen dunklen Haaren an ihr vorbei, hielt vor der Tür kurz inne und drückte verhalten auf die Klinke. Wieder hielt Marie ihr Gesicht dicht an die Fensterscheibe und sah, wie die junge Frau mit der Chefin sprach und andeutete, dass sie die Haare abgeschnitten haben möchte. Das war nun Maries Chance und sie wartete weiter geduldig vor der Tür. Zum Glück konnte Opa Willi sie nicht sehen, denn er hielt seinen üblichen Mittagsschlaf.
Dann war es soweit und die abgeschnittenen Haare der jungen Frau lagen am Boden. Fast ängstlich musterte sie sich im Spiegel und ihr Blick fiel sofort nach unten neben ihren Stuhl.
„Da liegt nun die Pracht!“, seufzte sie leise und begutachtete sich erneut im Spiegel.
Die Chefin hatte für diese Situation Verständnis und erwiderte:
„Dafür sehen Sie jetzt aber noch viel jünger aus!“.
Sie griff nach einem kleinen Handspiegel und so konnte die junge Frau sich von allen Seiten bewundern. Beim Verlassen des Frisörsalons machte sie einen recht zufriedenen Eindruck. Sogleich ging Marie durch die noch offene Tür zur Chefin, die im Begriff war, die am Boden liegenden Haare zusammenzufegen, und fragte ganz aufgeregt:
„Kann ich die haben?“, beugte sich hinunter und nahm einen großen Büschel in ihre kleine Hand.
„Was willst Du denn mit den Haaren?“, fragte die Chefin skeptisch.
„Es soll eine Überraschung werden! Vielleicht für die ganze Straße!“, entgegnete Marie mit fester Stimme.
„Na, dann nimm sie alle mit!“, sagte sie verwundert lächelnd.
Nun brauchte Marie noch Stoff aus der Flickenkiste, die neben Mutters Nähmaschine stand, und eine Tube Uhu. Jeden Tag, wenn Opa Willi seinen Mittagsschlaf hielt, bastelte sie an den Haaren nach dem Muster von Bill Haley. Dicht an dicht klebte sie die Haarbüschel auf den beschnittenen Stoff, dessen Maße sie sich während eines Mittagsschläfchen vom Opa besorgt hatte. Geduldig klebte Marie noch als letztes die berühmte Schmalzlocke an die Stirnseite.
So ging ihr Plan dem Ende entgegen und der Überraschungsmoment sollte folgen. Opa Willi saß wie immer, schlummernd und schnarchend in seinem alten Ohrensessel. Behutsam setzte Marie das haarige Kunstwerk auf seinen kahlen Kopf und zupfte die Schmalzlocke vorsichtig auf der Stirn zurecht. Mit einem Spiegel vor seinem Gesicht wartete sie still auf den spannenden Augenblick seines Erwachens. Dann war es soweit und Opas Augen öffneten sich langsam und starrten erschrocken in den Spiegel, den Marie ihm freudestrahlend entgegen hielt.
„Was ist denn das, Marie!“, rief er laut lachend und drehte den Spiegel zur Seite.
„Du bist jetzt ein Bill Haley!“, entgegnete sie und fiel ihm um den Hals.
Mit einem Satz war er am Plattenschrank und legte eine alte Platte auf. Marie stand wie angewurzelt da und sah nun einen wild tanzenden Opa Willi vor sich, der kaum zu bändigen war. Ganz außer Puste öffnete er das Fenster und Rock ‘n‘ Roll Musik schallte durch die Straße, was nicht unbeachtet blieb. Mutter Lohmann kam gerade vom Einkauf um die Ecke und traute ihren Augen nicht, als sie die Menschenmenge vor ihrem Fenster sah. Doch bald entdeckte auch sie des Rätsels Lösung und bog sich vor Lachen beim Anblick von Opas neuer Haarpracht.
„Aber Opa, was macht Du für Sachen! Was hast Du da bloß auf dem Kopf?“, rief Frau Lohman und verschwand eilig mit ihren Taschen im Haus.
Immer wieder legte er die gleiche Platte auf und die Zuschauer feuerten den rockenden Alten durch rhythmisches Klatschen an oder tanzten auf der Straße mit. Dieses Spektakel blieb den Kunden im Frisörgeschaft nicht verborgen und sie rannten neugierig samt Umhang und Lockenwicklern vor die Tür. Die Chefin stellte sich dazu und sagte in die Runde:
„Die kleine Marie hat uns alle wirklich überrascht, so, wie sie es mir gesagt hatte!“.
Seit diesem Tag standen jeden Nachmittag viele vor dem Fenster und wollten Opa Willis neue Haarpracht sehen und natürlich seine Rockmusik hören. Das Schmunzeln setzte schlagartig ein, sobald die Musik ertönte und der nachgemachte Bill Haley seine Runden rockte. Stolz zeigte er jedesmal auf seine kleine Marie und dann auf seine Haare, die ihn zurück in seine Jugendzeit versetzten.
© Heidrun Gemähling