Bahnwärter Thiel

Text

von  toltec-head

Wenn ich Urlaub habe, liege ich manchmal tagelang zusammengekauert auf dem Boden und höre alle Opern, die es im Radio gibt.

Die Bahnstrecke, die ich betreue, liegt zwischen Nienburg und Sulingen, sie reicht genauer gesagt vom ehemaligen Bahnhof in Staffhorst bis in das Waldgebiet Herrenhassel hinein. Das ist zwar sicherlich nicht die ganze Bahnstrecke bis nach Sulingen, aber die ganze Strecke bis nach Sulingen zu warten, ist für einen einzelnen Menschen unmöglich. Da müssen andere ran. Die Aufgaben sind vielfältig. Ich schaue etwa, dass das Gras nicht zu hoch wächst und entferne Äste. Natürlich kontrolliere ich die Bahnschienen auch sonst auf ihre Ordnungsmäßigkeit. Das Gras wächst so zahlreich, dass ich es nicht alles ausreißen kann. Es ist aber gut, dass es jemanden gibt, der dem Gras beim Wachsen zuschaut, denn sonst wüchse es vollkommen unkontrolliert. Es mag sinnvollere Tätigkeiten geben, aber schließlich werde ich für die meine auch bezahlt. Wenn man genau hinschaut, ist die eine sogenannte Tätigkeit, die die Menschen ausüben, so sinnvoll oder sinnlos wie die andere sogenannte Tätigkeit, die sie ausüben. Der eine schaut Geld beim Wachsen zu und ich eben dem Gras. Und außerdem mache ich ja auch noch andere Dinge, damit die Züge wieder fahren können. Unter den Opern liebe ich vor allem die italienischen. Wenn nur nicht so viele Männerstimmen wären. Männerstimmen find ich garstig. Frauenstimmen, wenn sie nicht gerade in Opern singen, sind auch garstig. Es gibt im Radio immer mehr normale, sehr garstige Stimmen von Männern und Frauen und immer weniger Opern. Was schade ist. Dafür gibt es zum Glück immer mehr Gras auf den Bahnschienen. Dem Gras beim Wachsen kann man immer zuschauen. Manchmal tue ich es auch im Urlaub, wenn es im Radio, was jetzt immer häufiger der Fall ist, keine Opern gibt.

Die Leute werden auch immer komischer. Als ich kürzlich bei Netto vor einer Palette mit Weißwein stehe, meint doch einer von ihnen, ein Mann, mit einer recht garstigen Stimme, ich sei ein Sozialschmarotzer. Meine Bahnstrecke sei längst still gelegt. Ich antwortete ihm, dass ich deswegen ja auch nicht von der Bahn sondern vom Staat bezahlt werden, der sich um so etwas kümmere. Zufällig hatte ich meine Gehaltsbescheinigung dabei und zeigte sie ihm. Da sah er mich ungläubig an und verschwand mucksmäuschenstill, so wie er gekommen war. So ein verfluchter Lehrertyp mit Nickelbrille, weißem Stoppelbart und rotem Kopf. Als wenn er sein Geld nicht auch vom Staat bekäme.

- Troll dich, rief ich ihm hinterher. Und schau zu, wem immer du zuzuschauen vermagst.

Aber solche Lehrertypen mit Nickelbrille, weißem Stoppelbart und rotem Kopf, sind, wie ich aus Erfahrung weiß, elend schlechte Zuschauer, können überhaupt niemandem richtig zuschauen, sondern sind immer nur hippelig und rot im Gesicht. An meiner Stelle würde er wahrscheinlich anfangen, das Gras zwischen den Schienen, statt es nur zu kontrollieren, ganz auszureißen. Was nun wirklich sinnlos ist. Opern kann man hören und dem Gras beim Wachsen zuschauen auch ganz ohne Weißwein. Es ist dann nur nicht immer so amüsant.

Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren

Kommentare zu diesem Text

Zweifler (62)
(16.08.13)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 toltec-head meinte dazu am 17.08.13:
Danke :)
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram