Tag des Mitgefühls (1/3)

Novelle

von  autoralexanderschwarz

Der vermeintliche Selbstmörder

oder

Tag des Mitgefühls

(Version 1.2)







„Ach“, sagte die Maus, „die Welt wird enger mit jedem Tag.
Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte,
ich lief weiter und war glücklich,
daß ich endlich rechts und links
in der Ferne Mauern sah,
aber diese langen Mauern
eilen so schnell aufeinander zu,
daß ich schon im letzten Zimmer bin,
und dort im Winkel
steht die Falle,
in die ich laufe.“

„Du mußt nur die Laufrichtung ändern“,
sagte die Katze
und fraß sie.

                                                                                              Franz Kafka






Das Leben ist schön, denkt er, als er durch die Schranke ins Parkhaus fährt. Alles ist gut gelaufen, er hat es geschafft. Er hat hart gearbeitet für diesen Moment, hat so oft verzichtet, wenn die Anderen sich gehen ließen und umso größer ist nun sein Triumph, weil er es geschafft hat. Er wird eine Party geben, eine große Party, und all jene einladen, die in den letzten Jahren zu kurz gekommen sind. Nicht nur für die Anderen, auch um sich selbst zu zeigen, dass es sich gelohnt hat. Seine sozialen Kontakte sind rar, aus Freundschaften Bekanntschaften geworden. Zu oft hat er abgesagt, bis er schließlich nicht mehr eingeladen wurde, doch jetzt wird alles anders werden. Die Beförderung bedeutet nicht nur mehr Geld und Verantwortung, er wird sich seine Zeit nun freier einteilen können, delegieren, anstatt delegiert zu werden, ich habe es geschafft, denkt er, endlich. Es geht aufwärts, in mehrfacher Hinsicht. Etage um Etage fährt er nach oben. Das Parkhaus ist überfüllt, wahrscheinlich wegen dieser unsäglichen Urzeitausstellung, auf die auf diversen Plakaten hingewiesen wird, vielleicht auch wegen des schönen Wetters an einem der voraussichtlich letzten schönen Spätsommertage. Auto steht neben Auto. Kein Platz für ihn. Fast ärgert es ihn ein wenig, dass er den Sekt nicht unterwegs an der Tankstelle gekauft hat, schließlich hat er ja das Geld, aber dieser kleine Ärger reicht nicht, um seine Stimmung zu trüben, ich habe es geschafft, denkt er, als er auf dem obersten Stockwerk ankommt. Zum Glück gibt es einen Aufzug, der einen direkt bis hinunter in die Einkaufspassage fährt. Hier oben ist es merklich leerer, rasch findet er einen Parkplatz und steigt aus dem Fahrzeug. Bald ist es Zeit für ein neues Auto, denkt er, vielleicht ein Sportwagen, damit die Leute seinen Erfolg sehen können, vielleicht auch eine Eigentumswohnung, er wird sich den schönen Dingen des Lebens widmen können, vielleicht doch noch eine Familie, schließlich ist es noch nicht zu spät, eine richtige Frau, keine dieser Nutten, mit denen er sich gelegentlich die Zeit vertrieb, eine richtige Frau, die kochen und lieben kann. Er bleibt einen Moment stehen, lässt sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Das Leben ist schön, denkt er, die Sonne warm, die Urwaldgeräusche, die von unten aus der Passage nach oben steigen, amüsieren ihn, dann bemerkt er die Dose, die genau auf seinem Weg hinüber zum Aufzug liegt, eine Coladose, die man seit der Einführung dieses dämlichen Dosenpfandes nur noch selten sieht. Die Zeiten ändern sich, denkt er, und erinnert sich, wie sie damals auf dem Schulhof immer mit diesen Dosen gespielt haben, mit der Picke auf mit Schulranzen markierte Tore geschossen haben oder die Dose einfach möglichst lange in der Luft hielten. Es ist eine schöne Erinnerung. Er lässt den Fuß auf die Dose krachen, trifft sie perfekt in der Mitte und spürt durch die Sohle hindurch, wie sich das Aluminium verformt, wie ein Puck liegt sie nun vor ihm und mit einem Mal wird er wieder zum Kind, zum Jungen, der nur Unsinn im Kopf hat, der nie an die Zukunft denkt und nur für den Moment lebt. Er klemmt die Dose zwischen die Füße und lässt sie nach oben schnellen, beobachtet sie, wie sie steigt, ihren höchsten Punkt vor der blendenden Sonne erreicht und dann wieder fällt, fängt sie mit dem rechten Fuß, manche Dinge verlernt man nie, und dann erinnert er sich an seinen größten Trick, den damals niemand außer ihm beherrschte, lässt die Dose wieder steigen, fängt sie in der Kniekehle, lässt sie wieder herausspringen, um sie dann mit der Schuhsohle in die Luft steigen zu lassen. Über ein Jahrzehnt hat er diese Bewegung nicht mehr gemacht, seinen größten Trick vergessen, tritt, trifft die Dose aber nicht voll, so dass sie zur Seite wegspringt. Gebannt blickt er ihr nach, wie sie außer Reichweite aufschlägt und dann aufgrund einer kleinen Delle zur Seite hin ausbricht, auf das Geländer zu, unter dem sich die Besucherströme durch die Passage schieben. Scheiße, denkt er, als sie immer weiter rollt und schließlich genau auf der Kante liegen bleibt. Noch mal Glück gehabt. Nicht auszudenken, wenn er jemanden getroffen hätte. Es geht dort tief hinab. Eine Platzwunde wäre das Mindeste gewesen, am Ende hätte ihm diese Dose noch seinen ganzen Tag versaut. Er blickt sich um. Niemand ist auf dem Parkdeck zu sehen, eigentlich könnte er sie liegenlassen, aber vielleicht gibt es Kameras, die alles aufzeichnen. Alles wird ja heutzutage überwacht. Selbst so ein dämliches Parkdeck. Er erreicht das Geländer und beugt sich nach vorne. Als Kind hätte er wohl unten herum gegriffen, aber sie liegt etwa einen halben Meter entfernt und so jung er sich in diesem Moment auch fühlt: in seiner guten Hose wird er nicht auf dem Boden herumkriechen. Er erreicht sie mit den Fingerspitzen, noch ein kleines Stück, er greift nach ihr und entdeckt dabei unter sich den Tyrannosaurus aus Pappmaschee, der die Menschen überragt. Als Kind hat er sich auch für Saurier interessiert, Sammelhefte mit Aufklebern gefüllt und diese Plastikfiguren gesammelt. Er hat die Dose, lächelt noch einmal über die Urwaldgeräusche, Affenschreie, die nun wirklich nichts mit Dinosauriern zu tun haben, fast entgleitet ihm die Dose, er fasst nach, erreicht sie, doch er hat sein Gewicht zu stark verlagert, der Schwerpunkt verschiebt sich, er erschrickt, greift nach dem Geländer, doch er verschätzt sich, greift ins Leere, stürzt nach vorne. Dann geht es hinab, rasend schnell, unfair, denkt er.
Die Dose entgleitet im Sturz seinen Händen, trifft aber niemanden und schlägt ungefähr gleichzeitig mit ihm auf dem Pflaster auf. Unbemerkt rollt sie beiseite und wird in der darauffolgenden Nacht vom Reinigungspersonal entfernt werden.         
                                        *
Der Wachmann sitzt in seinem Büro, den schläfrigen Blick auf die Monitore gerichtet. Er wird immer müde, wenn er so lange dort sitzt und obwohl an diesem Tag die Ausstellung beginnt, ist ansonsten bislang nichts Besonderes passiert. Es hat etwas Meditatives, wie die Menschenströme aneinander vorbeiziehen, Passage I, II und III sind vollständig ausgelastet. Die Überwachungskameras dokumentieren reges Treiben, aber die Ströme organisieren sich selbstständig, sobald jemand stehenbleibt, findet der Folgende einen neuen Weg und die Hintermänner folgen, manchmal stockt es, aber im Großen und Ganzen geht alles seinen geregelten Gang. Es ist ein schöner Tag, wolkenfreier Himmel, 22 Grad, gleichbleibender Luftdruck, ein letztes Aufbäumen vor dem Winter, gute Aussichten., Springbrunnenplätschern, lächelnder Kapitalismus, bis zu jenem Moment, als eine Frau aufschreit und damit die Bewegung der anderen Menschen verändert. Er kann den Schrei nicht hören, er sieht nur die Reaktionen, die Bewegungen, wie wenn ein Hai in einen Fischschwarm stößt.
Für die Ausstellung "Unsere Urzeit" ist die gesamte Passage mit tropischen Pflanzen bestückt worden, welche nur die Kulisse für das eigentliche Programm - Urzeitwesen - sind. Er selbst hat mit angepackt, die großen Kübel aus den LKWs gehoben und mit den Arbeitern die maßstabsgetreue Nachbildungen von Dinosauriern an sorgfältig ausgewählten Punkten der Passage positioniert. Um die Illusion perfekt zu machen, dringen seit dem Morgen Urwaldgeräusche aus verborgenen Boxen, was der Grund dafür ist, dass niemand den Aufprall hört und auch wenn im Nachhinein unzählige Lautbeschreibungen kursieren, ist es erst der Schrei der Frau, der die Aufmerksamkeit der Menge weckt. Auch in der Überwachungszentrale ist das eigentliche Ereignis unbemerkt geblieben, da der vermeintliche Selbstmörder zu einem ungünstigen Zeitpunkt gesprungen ist, eben innerhalb jenes Zeitfensters von gerade mal einer halben Sekunde, in dem sich ein toter Winkel zwischen den Kameraschwenks geöffnet hat. Der Wachmann kennt die Menschenströme, weiß sofort, dass etwas nicht stimmt, als sich ausgerechnet an einer Engstelle in Passage III ein Kreis bildet. Andere Passanten drängen von hinten nach. Die beiden Ströme, die rechts und links die Menschen aneinander vorbeispülten, verwirbeln sich, die Organisationsform der Masse ändert sich. Alles drängt sich jetzt an einer Stelle zusammen, ohne dass die Ursache dieses Verhaltens erkennbar wäre.  Auf den Monitoren ist nicht zu erkennen, was wirklich los ist. Er muss hin, greift nach seinen Schlüsseln und rennt nach draußen. Es sind nur wenige Meter. Er bahnt sich einen Weg durch die Menge, machen Sie bitte Platz, bis er das Zentrum erreicht und die Leiche sieht. Der Tote ist mit den Knien und dem Gesicht auf den Basaltsteinbelag geschlagen, so dass die Wucht des Aufpralls die Wirbelsäule zusammengedrückt und in einen unförmigen Buckel gezwungen hat. Es sieht aus, als würde der Tote beten. Für einen kurzen Moment zerbricht etwas, das sich nicht beschreiben lässt. Die Menschen stehen beieinander, die vorderen versuchen mit ihren Rücken dem Druck der Nachdrängenden standzuhalten, um zumindest einen kleinen Raum des Anstands um den Toten aufrecht zu erhalten, mancher Blick geht nach oben, zur ansonsten unbeachteten Dachterrasse. Vielleicht ist ja noch einer dort oben, alles scheint in diesem Moment möglich, alles in Frage gestellt. Ein Selbstmord? Ein terroristischer Anschlag, vor dem die Medien seit so vielen Jahren warnen. Der Tote sieht nicht aus wie ein Islamist. Niemand sagt ein Wort und da keiner auf die Idee kommt die Urwaldgeräusche zu dämpfen, springen die Schreie der Affen und Vögel auf einmal in den Vordergrund. Jeder sucht seine eigene Erklärung, niemand spricht, alle warten, auch der Wachmann weiß nicht, was zu tun ist, bis endlich die erlösende Sirene des nahenden Notarztwagens hilft, die Erstarrung zu lösen und das Geschehen einzuordnen. Die Affen schreien. Es bildet sich eine Gasse - lasst ihn durch, er ist Arzt -; sie wickeln den Toten in eine schwarze Folie, Polizisten weisen die Menschen an weiterzugehen, da es nichts zu sehen gebe, das Knäuel löst sich auf, zäh, widerwillig, der Wachmann merkt, dass er hier nicht mehr gebraucht wird und kehrt in die Zentrale zurück, ein letztes Mal brüllt der Tyrannosaurus, dann schaltet er die Geräusche ab. Der Menschenstrom fließt wieder und umspült sanft eine kleine abgesperrte Insel, in der Polizisten die Stelle begutachten, bis später das Reinigungspersonal die Spuren beseitigt. 
                                        *
"Da hat wieder einer ins Pflaster gebissen, haben Sie's schon gehört?", fragt der Zeitungsverkäufer und weist auf die Tageszeitung. "32 Meter, Kopf auf Stein, das muss man sich mal vorstellen. Man hat noch zehn Meter weiter Zahnsplitter gefunden, das arme Schwein."
Er zögert sich mit diesem Mann gemein zu machen, der so pietätlos über einen Toten spricht.
"Nein. Davon weiß ich nichts."
"Gestern", fährt der Zeitungsverkäufer fort, der ein guter Erzähler ist und diese Geschichte an diesem Morgen bereits einige Male erzählt hat, "gestern ist einer vom Parkhaus gesprungen und das zur Haupteinkaufszeit. Ich will nicht wissen, wie viele Kinder er mit seiner Aktion traumatisiert hat, aber so sind die Menschen heutzutage, rücksichtslos bis zuletzt, keinen Anstand mehr. Es gibt ja fast gar keine Selbstmörder mehr, nur noch Selbstmordattentäter, welche die anderen Menschen durch ihren Selbstmord verstören; früher hat man sich noch vornehm zurückgezogen, hat sich die Pistole an die Schläfe gesetzt oder eine Giftkapsel zerbissen. Ich weiß zwar nicht, wer er war, aber für mich ist der Kerl ein rücksichtsloses Schwein, so wie dieser Torwart, der sich vor den Zug geworfen hat. Manchmal muss man einfach auch klare Worte finden. Wenn die Menschen nicht mehr leben wollen, dann haben sie mein vollstes Verständnis, die Zeiten sind hart, ich verstehe das, aber es kann doch nicht zu viel verlangt sein, dass man sich zuhause umbringt. Die Menschen denken nicht nach. Wer will denn wirklich, dass sein Gehirn aus den Fugen gekratzt wird?"
Noch immer schweigt er, obwohl der Zeitungsverkäufer ihn fragend ansieht und auf ein Zeichen der Zustimmung, ein Nicken oder eine Antwort wartet.
"Oder nicht?", fragt der Zeitungsverkäufer.
"Ich nehme eine Zeitung", sagt er und erst später, als er den Laden verlässt, dass auch früher nicht alles gut war.
                                        *
"Mami, warum ist der Mann von dem Parkhaus gesprungen?"
"Ich glaube nicht, dass er gesprungen ist, meine Kleine, es war bestimmt ein Unfall. Das Geländer ist da oben sehr niedrig, das weißt du doch. Weißt du noch, als ich dir verboten habe, an dem Geländer zu spielen?"
"Aber in meiner Klasse haben sie gesagt, dass es ein Selbstmörder gewesen ist. Was ist ein Selbstmörder, Mami?"
"Das ist eine schwierige Frage, meine Kleine. Möchtest du nicht lieber noch ein bisschen spielen?"
"Was ist ein Selbstmörder, Mami?"
"Manche Menschen sind sehr traurig, meine Kleine. Dann glauben sie, dass ihr Leben keinen Sinn mehr hat, verstehst du, oder vielleicht kann man es noch anders erklären: Manche Menschen sind sehr unglücklich und haben keine Hoffnung, dass sie je wieder glücklich sein können."
"Warum sind die Menschen so traurig, Mami, und warum haben sie keine Hoffnung?"
"Die Welt ist manchmal sehr traurig, meine Kleine, manchmal passieren Dinge, die..."
Sie unterbricht sich. Was erzählt sie der Kleinen?
"Du musst schlafen, meine Kleine."
Sie schaltet die Nachttischlampe aus und spürt das Verlangen noch irgendetwas Positives zu sagen, ihr Kind auf andere Gedanken zu bringen, doch ihr fällt nichts ein, das nicht falsch und verlogen geklungen hätte. Die Kleine schläft. Vorsichtig erhebt sie sich von der Bettkante und merkt, dass ihr Tränen in die Augen gestiegen sind. Sie geht hinüber ins Wohnzimmer. Manchmal passieren sehr traurige Dinge. Darum ist sie nun so allein, weil traurige Dinge passieren, weil das Leben immer seinen ganz eigenen Plan hat, den man erst im Nachhinein erkennt. "Du musst kämpfen", hatte sie gesagt und er hatte gekämpft, gegen den Krebs, gegen die Bestrahlung, gegen das Gift, gegen die Schwäche, "du musst stark sein", hatte sie gesagt und "lass uns nicht allein."
Der vermeintliche Selbstmörder geht ihr nicht mehr aus dem Kopf. Wie leichtfertig ließ sich ein Leben wegwerfen. Auch er muss eine Mutter gehabt haben, die ihn in die Welt gepresst, gesäugt und beschützt hatte, vielleicht sogar einen anderen Menschen, der ihn geliebt und den er zurückgelassen hat. Wie er gekämpft hat, denkt sie, obwohl er so schwach gewesen ist, so eingefallen, ausgezehrt, obwohl sie selbst nicht mehr an einen Sieg geglaubt hat und obwohl er es wusste, "ich sterbe jetzt", hat er geflüstert, "Papi ist bei den Sternen" hat sie der Kleinen gesagt.
Das ist jetzt über ein Jahr her, aber sie hat immer noch solche Momente, in denen alles zusammenbricht, in denen eine Assoziation die nächste nach sich zieht und sie dann in tiefe Verzweiflung stürzt. Sie sieht ihr weiteres Leben vor sich in solchen Momenten, es ist vorbei, die Wunde wird nicht mehr heilen, sie hat sich für den falschen Weg entschieden, der sie auf unvorhersehbaren Pfaden aus dem vertrauten Wald in die Wüste geführt hat. Sie würde noch oft so alleine sitzen und irgendwann, wenn die Kleine groß und aus dem Haus wäre, würde sie noch einsamer und schließlich ganz alleine sein. Dann würde sie sich vielleicht auch umbringen, diesen Gedanken hat sie häufig, dann wird alle Schuldigkeit getan sein und das mit dem Glück ist eine große Lüge, ebenso wie das mit der Hoffnung. Was bedeutet überhaupt Hoffnung?
"Mami, weinst du?"
Die Stimme kommt von der Tür. Sie muss stark sein.
"Nein, meine Kleine. Ich mache nur meine Atemübungen."
"Kann ich in deinem Bett schlafen?"
Sie ringt mit der Fassung.
"Ja. Geh schon mal vor. Ich komme gleich nach.“ 
                                        *
Zuhause liest er die Zeitung. "Eröffnung mit Zwischenfall" steht bereits auf Seite 2, auf Seite 3 ein Interview mit einer Frau, neben welcher der vermeintliche Selbstmörder aufgeschlagen war. Es wird darauf hingewiesen, dass der Name der Frau von der Redaktion geändert worden ist. Er fragt sich warum. "Ich habe eine Berührung gespürt, weil seine Hand im Sturz meine Schulter gestreift hat", liest er, "ich weiß nicht, ob es Zufall war oder ob er noch versucht hat nach mir zu greifen und mich mit in den Tod zu reißen. Ich habe viel darüber nachgedacht. Es ist entsetzlich." Er überfliegt ihre Antworten, "dann habe ich mich umgedreht und gemerkt, dass mein Kleid nass ist, erst dann habe ich all das Blut gesehen, furchtbare Bilder, die ich nicht vergessen werde."
Dann kommt die eigentliche Frage, auf die er unbewusst gewartet hat, eine Mutmaßung hinsichtlich der Motive: "Ich habe Mitleid mit diesem armen, kranken Menschen, aber ich verurteile dieses rücksichtslose Verhalten nicht nur wegen mir, sondern auch wegen der Kinder, die sich auf die Ausstellung gefreut haben und dann so etwas mit ansehen müssen. Ich glaube auch nicht an irgendeine politische Botschaft. Ich weiß nichts über diesen Mann, aber ich bin mir sicher, dass eine große Verzweiflung oder aber eine geistige Krankheit die Ursache sind." Dann folgt ein Satz, über dem der Chefredakteur der Zeitung eine ganze Weile gegrübelt hatte, da der konstruierte Zusammenhang insgesamt unglücklich war. Letztendlich war er aber der Argumentation des Journalisten gefolgt, die besagte, dass es ja der Sinn eines Interviews sei, eine möglichst unverfälschte Sicht der Person zuzulassen. "Wir leben ja schließlich nicht in Tibet", war der letzte Satz von Barbara S., deren Name von der Redaktion geändert worden war.
"Wir leben ja schließlich nicht in Tibet", denkt er, als er später im Bett liegt und kurz bevor er einschläft ist er sich fast sicher, dass es doch eine politische Botschaft war, die der vermeintliche Selbstmörder auf das Pflaster geschmiert hat.         
                                          *
Die Drehtür, die in das Arbeitsamt führt, liegt oberhalb einer breiten Treppe, die ein wenig steiler als normale Treppen ist, was der Architekt bei der Planung dahingehend begründete, dass sie so als eine Art natürliche Bremse die Geschwindigkeit des Besucherstroms drosseln könne. Nicht bedacht wurde dabei, dass die Rampen, die auch den behinderten Menschen den Zugang gewähren sollen, einem ähnlichen Winkel wie die Treppe gehorchen müssen, sodass manchem couragierten Pfleger der Schweiß auf der Stirn steht, wenn er einen Rollstuhl dort hinauf schiebt. Sie beobachtet das Geschehen, sie hat Zeit, weil sie zu früh ist. Die Kleine hat sie bei ihrer Mutter gelassen. Sie ist angespannt, die Bewerbungsmappe zittert in ihrer Hand. Sie hat alles überarbeitet, was der Sachbearbeiter kritisiert hat. Rechtschreibfehler, Formulierungen. Obwohl es noch sehr früh am Morgen ist, herrscht bereits großer Betrieb. Die Drehtür spuckt und schluckt Menschen.
"Der frühe Vogel pickt den Wurm", hat ihr Mann immer gesagt, als er noch lebte. Noch zögert sie, blickt auf die Uhr, dann gibt sie sich einen Ruck und reiht sich in den Strom ein, die Treppe hinauf, die Drehtür wirbelt, ein kurzer irrationaler Moment voll Angst, dass sie die Drehtür nicht mehr verlassen kann, dass in der Kreisführung eine Art Selektion stattfindet, die ihr den Zugang verwehrt, dass sie aussortiert wird, wie so oft, dann ist sie drinnen und der Schwung trägt sie noch einige Schritte weiter, so dass sie fast ohne Zutun vor einer gewaltigen Rezeption zum Stehen kommt. "Kleinknecht ist mein Name. Ich habe einen Termin mit Herrn Strippenzieher."
Die Finger der Angestellten rasen über die Tastatur. Sie bewundert ihr Gegenüber für diese Sicherheit, mit der sie die Tasten berührt, ihr ganzes Auftreten, das Make-Up, das Kostüm, der Lip-Gloss, alles aufeinander abgestimmt, alles so professionell.
"Raum 22.13. Der Nächste, bitte."
Sie tritt zur Seite und betrachtet die Schilder. Links Aufzug, rechts Treppen, noch acht Minuten Zeit. Sie ist pünktlich, sie hat alles richtig gemacht.
Sie folgt dem Menschenstrom in Richtung der Aufzüge, so viele Menschen. Vor den Fahrstühlen warten bereits viele andere Besucher, noch sieben Minuten, sie kämpft die Nervosität nieder, reiht sich erneut ein, wartet, der erste Fahrstuhl füllt sich, nicht genug Platz, andere drängen nach, sie wartet den nächsten ab, noch fünf Minuten, schließlich der nächste Aufzug, Teil einer Menschenwoge, die hineinschwappt, es ist eng, irgendwie beklemmend, sie spürt fremde Körper an ihrem eigenen, sie hat Angst vor dem Gespräch, schließt die Augen, lauscht auf die leise Musik, die aus verborgenen Boxen hallt. Die Fahrt verläuft schleppend, der Aufzug hält auf jeder Etage und leert sich nur langsam. Immer wenn sich die Tür öffnet, sieht sie in die enttäuschten Gesichter derer, die nach unten fahren wollen, immer nur für einen Moment Enttäuschung, eine kurze traurige Reaktion, ein Nicken, ein Blick, wenn sich die Türen schließen bereits wieder geschäftsmäßige Emotionslosigkeit. "Dann nehmen wir eben den nächsten", sagt ein gut gekleideter Mann mit einem routinierten Lächeln. Noch drei Minuten. Inzwischen ist es leerer geworden, 20, 21, 22. Der Aufzug hält, sie steigt als einzige aus und steht auf einem leeren Flur mit verschlossenen Türen. 22.13, da ist es, direkt gegenüber, Glücksgefühle, weil sie pünktlich ist, weil sie diesmal alles richtig gemacht hat, noch zwei Minuten, Zeit sich noch einmal herzurichten, wenn es einen Spiegel gäbe, sie streicht sich die Haare aus dem Gesicht, ruhig atmen, ruhig, hebt die Hand zum Klopfen und zögert, weil sie von drinnen eine Stimme hört. Vielleicht ist noch jemand drin, vielleicht telefoniert er, sie will nicht unhöflich sein, lauscht an der Tür, es ist nur eine Stimme, seine unangenehme Stimme, er telefoniert, sie hat Angst, ihre Tochter hat ihr einen Glücksbringer gebastelt, nach dem sie in ihrer Handtasche tastet. Sie weiß, wofür sie kämpft. Jetzt ist sie bereits eine Minute zu spät, noch immer telefoniert er, vielleicht ist es wichtig, vielleicht beschäftigt er sich nur, während er auf sie wartet, noch einen kleinen Moment, zwei Minuten zu spät, erste Panikschübe, die sie hinunterschluckt, sie muss jetzt dort hinein, sie wird jetzt klopfen, noch einen kleinen Moment, sie steht auf, klopft, "herein" schallt es von drinnen durch die Tür.     
                                          * 
"Suizid", sagt der Gerichtsmediziner zu seinem Assistenten, "ziemlich eindeutige Sache. Die meisten Selbstmörder, die auf diese Art sterben, versuchen das, Kopfsprung, aber den wenigsten gelingt es. Sehen Sie", er weist mit dem Finger auf die Leiche, "der Absprung ist noch selbstbestimmt, mit dem Kopf voran, aber dann passiert etwas, womit die wenigsten rechnen: der Körper übernimmt die Kontrolle. Schließlich will ja nur der Geist sterben, der Körper will nie sterben, der Körper will leben, um jeden Preis. Das ist der Grund, warum man als Selbstmörder nicht einfach die Luft anhalten kann, deswegen diese Haltung. Sehen Sie die Handgelenke. Das sind Abwehrverletzungen, der Versuch des Körpers den Kopf zu schützen, den Sturz abzufangen, die gleichen Reflexe, wie wenn ein Kleinkind stolpert, sehen Sie, die Hände wandern nach vorne, das Gesicht zur Seite, er hat Glück gehabt, dass es so tief hinunterging. Häufig ist es nicht der Tod, der unten wartet, sondern nur eine Querschnittslähmung, weil die Wirbelsäule Schaden nimmt. So wie hier. Wären es zehn Meter weniger gewesen, hätte er vielleicht überlebt. Der Körper tut alles, um seine Existenz zu retten."
"Und kann es kein Unfall gewesen sein?", fragt der Assistent.
"Sie hören nicht zu", sagt der Gerichtsmediziner und für einen Moment wird seine Stimme ärgerlich: "Der Körper reagiert immer gleich, immer die gleichen Abwehrbewegungen. Wenn wir diese Bewegung zurückdrehen, können wir die ursprüngliche Sprunghaltung rekonstruieren. Der Sturz hat vielleicht drei oder vier Sekunden gedauert. Es ist ganz einfach. Dieser Mann ist mit dem Kopf voraus von dem Parkhaus gesprungen. So."
Er nimmt die beschriebene Haltung ein und steht wie ein Turmspringer neben dem Obduktionstisch.
"Wahrscheinlich hat er mit den Füßen auf dem Geländer gestanden. Ohne dieses Geländer gäbe es Zweifel, aber wenn er gestolpert wäre, wäre er nicht über das Geländer gekommen. Dazu die Blutergebnisse: kein Alkohol, keine Drogen, nicht einmal Spuren davon. Dieser Mann war vollständig klar im Kopf, als er sprang. Suizid. Der Fall ist ganz eindeutig. Notieren Sie das."
Er breitet ein Tuch über dem Toten aus. "Kommen wir zum nächsten Fall."
                                          *
Er fühlt sich unglaublich frei und selbstbestimmt, als er endlich einen Schritt nach vorne tritt, so wie ein Baum, der erst nach Jahrhunderten des Wartens seine Wurzeln als Beine begreift und sich aufmacht die Welt zu erkunden, losgelöst, Schritt für Schritt, den Blick irgendwo in den Wolken, bis er ins Leere tritt und strudelt, stürzt und fällt, mit dem Kopf voran, immer schneller hinab, und auf einmal hat er Angst, Angst, dass er einen Fehler gemacht hat, vielleicht nur ein kleiner Fehler in einem riesigen komplizierten Logarithmus, aber es gibt keine kleinen Fehler und es gibt Folgefehler, so viele Folgefehler, ewiger Sturz, schon eine ganze Weile geht es hinab, immer schneller, die ganze Welt rauscht an ihm vorbei, unendliche Geschwindigkeit, dann: der Aufprall, ein Schlag, der alles explodieren lässt, alles zerreißt und zermalmt, urplötzlicher Stillstand, zerquetschte Zeit. Er hört Urwaldgeräusche, ein schreiender Affe - wo bin ich? - und als er aufblickt, hat sich ein Kreis um ihn gebildet, alle schauen zu ihm hinunter, Indios, Azteken, Passanten, sogar seine Mutter steht dort, alle schauen ihn an, alle schweigen und dann, wie in Zeitlupe, verziehen sich die Mundwinkel und alle brechen in ein lautes Gelächter aus, Finger zeigen auf ihn, Lachen steckt an, seine Mutter flüstert dem Indio neben ihr etwas ins Ohr, er hat einen Fehler gemacht, einen Fehler in der Rechnung und jetzt spürt er den Schmerz, der mit einiger Verzögerung alles andere überstrahlt, soviel Schmerz, dass er schreien muss und er schreit so laut er kann, doch er kann seine Stimme nicht hören, nur das Gelächter, das immer lauter wird und sich zu einem hellen, hohen Ton verdichtet, er will dort weg, kann sich nicht bewegen, schreit und schreit, schreit...
Jemand schlägt gegen die Wand. Er ist wach. 6:45 Uhr, früher Morgen, dabei hat er frei, kann ausschlafen. Er zittert. Der Traum wirkte so real, dass der Verstand einige Momente braucht, um ihn vom Pflaster zurück in sein Bett zu tragen - wo bin ich? -. Er setzt sich auf, lächelt über seine wackligen Beine. Träume sind unheimlich. Warum träumt er? Und was macht das Gehirn in der Zeit, wenn es völlig mit sich allein ist? Neben dem Bett liegt noch die Zeitung, in der er vor dem Einschlafen gelesen hat. Sonnenlicht sickert durch die zugezogenen Vorhänge. Er lässt das Licht ausgeschaltet und geht hinüber ins Wohnzimmer, lässt sich auf die Couch fallen. Die tastenden Finger finden die Zigarettenpackung auf dem Tisch, das Feuerzeug. Ein kurzes Aufleuchten seines Gesichtes im Halbdunkel. Warum war der Mann gesprungen? Er kommt nicht darüber weg. Wenn es irgendein persönliches Leid war, warum hat er es auf die Straße getragen? Warum hat er seinen Selbstmord öffentlich gemacht? Und wenn es ein Motiv gab, wenn sein Sturz die Einkaufspassage so treffen sollte, wie die Flugzeuge das World Trade Center, warum hat er keine Botschaft hinterlassen, einen Hinweis. Am gleichen Tag hat es noch einen anderen Selbstmord gegeben, der es aber nur auf die hinteren Seiten der Zeitung geschafft hat. Eine kurdische Peschmerga-Kämpferin hat sich selbst in die Luft gesprengt, um ihre Stadt vor den vorrückenden mordenden und brandschatzenden Feinden - die sich Islamischer Staat nannten - zu schützen. Etwa 20 Menschen hat sie mit in den Tod gerissen. Obwohl er nichts über die Frau weiß, bewundert er sie dafür. Er weiß nicht, wie das bei den Kurden mit der Religion ist und ob sie die Hoffnung hatte in irgendeinem Jenseits für ihre Tat belohnt zu werden, aber sie hat ihr Leben gegeben, um andere Leben zu schützen, ein Extremfall, der die gängigen Moralvorstellungen sprengt. Ihr Handeln war weder gut noch böse. Es war etwas anderes sich selbst zu zersprengen, als in ein brennendes Haus zu rennen, um ein Kind zu retten. Sie hat ihren Körper zu einer Waffe gemacht und sie hat Menschen mit in den Tod gerissen, die sie nicht kannte. Dennoch scheinen ihre Motive klar. Sie hat das, was ihr wichtiger schien als sie selbst, verteidigt, es ist Notwehr gewesen. Warum aber ist der Selbstmörder gesprungen? "Wir leben ja schließlich nicht in Tibet", hat die Frau in dem Interview gesagt, "Selbstmordattentäter" der Zeitungsverkäufer. War dem Mann nicht klar gewesen, dass sein Tod nichts änderte und dass er im höchsten Maße sinnlos gewesen ist, nichts als ein vergeudetes Leben. Der Passantenstrom fließt einfach weiter, in ein paar Tagen wird er vergessen sein. Niemand wird verstehen, was die Botschaft ist. Nicht einmal er selbst versteht es. Er erkennt, dass diese Gedanken sich nicht verdrängen lassen, alles hängt mit allem zusammen, und dass irgendein psychischer Mechanismus sie mit Bedeutung aufgeladen hat. Warum hat er das getan? Er hat zwei Therapien hinter sich, die ihm nichts gebracht haben, er hat viel über seinen Vater gesprochen, der sich im Treppenhaus erhängt hat, auch so ein öffentlicher Selbstmord, der ihm vor einigen Jahren den Boden unter den Füßen weggerissen hat. Die Nachbarskinder haben ihn gefunden. Er hat es nie verstanden. Er versteht es auch jetzt nicht. Er will das nicht wieder, wieder all diese Gedanken, wieder die schlaflosen Nächte, die Angst vor den Träumen und doch weiß er, dass er mehr über diesen Toten herausfinden muss, wenn er wieder ruhig schlafen will.
                                            *
"Sie sind zu spät", sagt der Mann zur Begrüßung, nachdem er mit einer schwerfälligen Bewegung seine Füße vom Schreibtisch hinuntergehoben hat. "Ich ruf später zurück", sagt er in das Telefon, "ja, ich dich auch."
"Frau Kleinknecht", er spricht sie an, während er in ihre Akte blickt. Dann schaut er endlich auf, sein Blick ist streng.
"Sehen Sie die Uhr? Ihr Termin war vor drei Minuten. Wir haben doch das letzte Mal über Pünktlichkeit gesprochen."
Er überlegt einen Moment. Noch immer steht sie zögernd in der Tür. Hinter ihr, auf dem Flur, hört sie ein leises Lachen.
"Nun nehmen Sie schon Platz, auch wenn es reine Kulanz ist, dass ich mir jetzt noch die Zeit für Sie nehme. Auf dem normalen Arbeitsmarkt hätten Sie sich mit einem solchen Verhalten schon disqualifiziert."
"Ich habe durch die Tür gehört, dass Sie noch telefonierten. Es tut mir leid. Ich wollte nicht unhöflich sein."
"Sie machen es nur noch schlimmer, Frau Kleinknecht. Gelinde gesagt finde ich es recht infam, dass Sie es jetzt so drehen wollen, als wäre Ihre Verspätung die Schuld unserer Firma oder gar meine. Sehen Sie, ich war hier. Sie nicht. So einfach ist das. Ich habe heute schon an die zwanzig Termine hinter mir, jede Minute, die ich auf Sie warte, muss ich jemand anderem vorenthalten. Ich habe auch gar keine Lust darüber zu diskutieren."
"Es tut mir leid."
"Das sollte es auch. Ich halte Ihnen diese Predigt ja auch nicht nur wegen den anderen Kunden. Es geht schließlich auch um Sie. Stellen Sie sich doch einmal vor, welchen Eindruck ein solches Auftreten bei einem potentiellen Arbeitgeber gehabt hätte. Unpünktlichkeit, Unsicherheit, Renitenz, wer möchte schon einen solchen Arbeitnehmer, der einem erklärt, dass die eigenen Versäumnisse die Schuld der Firma seien. Glauben Sie mir, dass ich mich damit auskenne. Eben sprach ich noch mit einer anderen Frau mit vergleichbaren Qualifikationen. Etwa in Ihrem Alter, aber ein ganz anderes Kaliber. Tadellose Manieren, sage ich, direkter Blick, fester Händedruck. Sie hingegen haben so etwas Krummes, Unsicheres. Ich sage es Ihnen ganz offen heraus. Ihnen würde ich die Registrierkasse nicht anvertrauen, wenn Sie verstehen, was ich meine."
Er macht eine kleine Pause. Sie schweigt, weil jede Entgegnung ihn noch wütender machen und am Ende die Demütigung noch vergrößern würde. Sie senkt den Kopf.
"Nun gut. Kommen wir zum Papierkram. Haben Sie irgendwelche Berufserfahrung?"
Sie nimmt allen Mut zusammen.
"Ich habe nach der Schule eine Ausbildung in einer Schreinerei gemacht. Ich habe mit Holz gearbeitet. Ich..."
"Vollkommen wertlos in einer Zeit, in der selbst Metalle schon antiquiert sind. Die Zukunft gehört den Kunststoffen", sagt er, "wissen Sie das denn nicht? Und überhaupt ist Ihre Ausbildung schon drei Jahre her. Meinen Sie, man wartet auf Sie. Wie wollen Sie denn solche Lücken in Ihrem Lebenslauf erklären?"
"Ich könnte aber auch irgendetwas anderes machen. Ich..."
"Da haben wir es wieder, Frau Kleinknecht, diese Beliebigkeit. Auch darüber haben wir doch schon gesprochen. Beliebigkeit ist doch nichts anderes als Begeisterungslosigkeit. Was wollen Sie denn anderes machen? Steine schleppen auf dem Bau? Dafür sind Sie doch zu schwach. Gastronomie? Dafür ist Ihr Auftreten zu unbedarft. Vielleicht habe ich etwas als Putzkraft. Da gäbe es einen Markt."
"Ich bin auf das Geld angewiesen. Mein Mann ist vor einem Jahr gestorben. Ich habe eine kleine Tochter."
"Lassen Sie es, Frau Kleinknecht. Nehmen Sie es mir nicht übel, dass ich Sie hier unterbreche, aber ich bin kein Seelsorger. Dafür fehlt mir offen gesprochen jegliche Qualifikation. Was glauben Sie mit was für Schicksalen ich hier jeden Tag konfrontiert werde? Was glauben Sie, was ich hier alles tagtäglich höre. Die Leute können nichts Schweres heben, haben Drogenprobleme, Alkohol, alles dabei, aber am beliebtesten sind doch noch immer die Kinder. Persönlich gesprochen finde ich es beschämend, wenn die Leute hier ihre Kinder vorschieben, aber gleichzeitig Sozialleistungen für eben diese Kinder bekommen. Sie kriegen doch Kindergeld. Die armen Kinder. Wie oft ich das höre. Immer die Kinder."
Sie merkt, wie ihr die Tränen in die Augen steigen, nicht jetzt, nicht auch noch weinen, einen kleinen Rest Würde bewahren. Sie presst die Fingernägel in die Oberschenkel, versucht mit dem Schmerz wieder die Kontrolle über ihre Gefühle zu bekommen.
"Sie können also nichts für mich tun?", fragt sie.
"Das habe ich nicht gesagt, Frau Kleinknecht. Sie hören mir nicht zu. Ich kann jetzt nichts für Sie tun, alles Weitere liegt an Ihnen. Haben Sie Ihre Bewerbungsunterlagen endlich dabei?"
Sie reicht ihm mit zitternder Hand die Mappe. 3,50 Euro hat sie dafür bezahlt.
"Lassen Sie den Kopf nicht hängen", sagt er ohne besondere Wärme. "Ich habe schon ganz andere Fälle vermittelt. Auch bei Ihnen besteht eine kleine Chance. Reißen Sie sich zusammen. Nur weil Sie nicht direkt von hier aus zu Ihrem Bewerbungsgespräch marschieren, bedeutet das nicht, dass Sie nichts tun können. Arbeiten Sie an Ihrem Auftreten. Machen Sie etwas aus sich."
Er legt die Mappe auf einen Stapel mit anderen Mappen.
"Lassen Sie sich unten an der Rezeption einen neuen Termin geben. Bewerben Sie sich. Wir wünschen Ihnen alles Gute für Ihre weitere berufliche Zukunft."
Er erhebt sich. "Ich denke, Sie finden selbst hinaus."
                                          *
Auch der Wachmann hat in dieser Nacht schlecht geschlafen. Das Blut und der Tod haben ihn an etwas erinnert, das er nicht vergessen kann. Er ist nicht immer Wachmann gewesen und die Vergangenheit wiegt schwer, das spürt er in diesem Moment wieder. Er beobachtet die Passage auf dem Bildschirm, gerade sind dort wieder viele Schulkinder unterwegs, die regelmäßig, im Takt der Schulpausen, das Einkaufszentrum fluten, Gruppen bilden und gemeinsam durch die Passage flanieren. Er ist auch einmal Schulkind gewesen, denkt er, vor einer Ewigkeit, aber er kann sich nicht mehr erinnern, wie das war, was er selbst in den Pausen gemacht hat. Er hat gern Ball gespielt, denkt er, kann sich aber an keine konkrete Situation erinnern. Es ist zu viel passiert seitdem. Irgendwie haben die neuen Erinnerungen die alten überlagert. Irgendwie hat er seine Kindheit verloren. Das ist die nächste Generation. Noch ein paar Jahre, dann werden sie sich entscheiden müssen, so wie er, manche von ihnen werden auf die Hochglanzwerbung reinfallen, Soldat werden, so wie er, manche werden kämpfen und vielleicht werden auch sie solche Verletzungen erleben, solches Leid, sie wissen es nur noch nicht. Vielleicht ist es das, was Kindheit bedeutet, denkt er, es einfach noch nicht zu wissen, alles vor sich zu haben und sich dabei auf die Zukunft zu freuen. Ob er sich auch auf die Zukunft gefreut hat? Er hätte gerne studiert, damals als die Schule zu Ende ging, hat sich für Soziologie interessiert, Bücher gelesen, Wissen, das er größtenteils vergessen hat, das verschwunden ist. Massenpsychologie, Schwarmintelligenz, vielleicht hat er sich gerade deshalb diesen Job gesucht, bei dem er Tag für Tag die Menschenmengen beobachtet, vielleicht auch, weil er die Routine mag und weil jeder Tag dem vorigen ähnelt, so ist es im Frieden, denkt er, jeder Tag ähnelt dem vorigen und das gibt Sicherheit, weil man genau weiß, was wo ist und wo man hingehen muss. Deshalb ist die Sache mit dem Selbstmörder so schlimm, weil dieser alles durcheinandergewirbelt hat. Blut und Tod, dabei ist doch Frieden. Das muss man erst einmal verstehen. Er selbst hat den Krieg kennengelernt, ist Krieger gewesen, hat um sein Leben gekämpft und anderen ihr Leben genommen, so wie es eben im Krieg ist. Das waren die Spielregeln gewesen, aber dass jemand sein eigenes Leben einfach so wegwarf, das leuchtet ihm nicht ein, das macht keinen Sinn, das versteht er nicht. Er zoomt mit der Kamera auf eine Gruppe Schulkinder, die einen kleinen Kreis gebildet haben. Was sie dort wohl tun? Er bekommt keine gute Sicht, doch in diesem Moment laufen sie auch schon wieder auseinander. Zurück bleibt ein kleiner Junge, der sich auf dem Pflaster abstützt. Tränen laufen aus seinen Augen. Auch das ist etwas, das er nicht versteht. Immer wieder beobachtet er, wie sie einander ausgrenzen, sich gegenseitig zum Weinen bringen, dabei sind sie doch alle Kinder, dabei ist doch Frieden. Sie wissen ja gar nicht, wie kostbar das ist. Er ist fast dankbar für diesen kleinen weinenden Jungen, der ihm leid tut und seine Gedanken von diesem Selbstmörder wegzieht. Du wirst es verkraften, denkt er, vielleicht wird es dich stärker machen und eines Tages wirst du dich vielleicht an ihnen rächen.     
                                          *
Der Selbstmörder geht ihr nicht aus dem Kopf. Einfach so hat er sich das Leben genommen. Er hat sich getraut, denkt sie und erschrickt, als sie merkt, dass sie ihn beneidet. Tot sein, einfach nur schlafen, schlafen für die Ewigkeit, ungestört, Frieden, keine Verantwortung. Wenn es die Kleine nicht gäbe, dann hätte sie sich auch getraut, aber vielleicht wäre dann auch alles anders gewesen. Sie liebt ihre Kleine, bedingungslos, deswegen fühlten sich solche Gedanken wie Verrat an, aber ohne die Kleine wäre sie frei gewesen, ein Flugticket irgendwohin, neu anfangen, alles zurück auf Los, doch das geht nicht. Manchmal denkt sie aber auch, dass diese Gedanken nur vorgeschoben waren, dass sie egoistisch ist und dass sie es ist, die im Weg steht. Sie hat nichts, dass sie ihr bieten kann, nicht mal einen Garten, nur ein kleines Zimmer, darin ein kleines Leben.
Sie spürte eine Hand in ihrem Schritt und drehte sich um.
"Bist du frei?", seltsame Frage, so als wäre sie ein Taxi, "ja", haucht sie zurück und versucht die Gedanken zu verdrängen, den Selbstmörder, die Kleine, ihr versautes Leben. Der Sekt hilft, sie muss mehr trinken, greift nach der Flasche, nimmt ihn an die Hand wie einen kleinen Jungen, wartet geduldig ab, als er auf der Treppe erneut unter ihren Bademantel fasst, alle machen das, nur ihr Gesicht darf er in diesem Moment nicht sehen, als er ihr den Finger reinschiebt; dort lauert ein Abgrund. Ob er sich stark gefühlt hat, als er sprang, fragt sie sich, was es wohl für ein Gefühl ist, wenn man alles, einfach alles einfach beiseiteschiebt, alles überwunden hat. Es geht weiter, sie erreichen das Zimmer, wieder greift er nach ihr, als sie kurz anhält, um die Türe zu öffnen, er begrabscht sie, als wolle er möglichst viel für sein Geld bekommen. Sie öffnet die Tür. Der Schweiß der letzten Besucher hängt noch in der Luft, mindestens zwei Parfums, die sich miteinander vermischen, sein Bartwasser, sie hat eine gute Nase, unvermeidliches Rotlicht, der gleiche Farbton, mit dem im Kaufhaus das Fleisch beleuchtet wird, damit es frischer aussieht. Sie weiß was er will, lässt den Bademantel fallen, positioniert sich auf dem Bett, ohne Worte, die Bedeutung hätten, tastet nach ihm, spürt seine Erregung, wird schon gehen, denkt sie, greift noch einmal nach der Sektflasche, ein tiefer Schluck, bevor er in sie eindringt, jetzt fällt es ihr auf, sie hat vergessen die Musik anzudrehen, es ist still, nur sein keuchender Atem und das Klatschen, mit dem ihre Körper aufeinandertreffen, sie stöhnt leise, damit er nicht merkt, wie allein er in seiner Erregung ist, er schlägt sie, nicht so, dass es weh tut, aber sie hat jetzt ein wenig Angst, dass er Gefallen daran findet, dass er fester schlagen wird, wenn sie nicht reagiert, und auf einmal legt sich ein Schalter in ihr um, "schlag mich härter", flüstert sie, damit er sie für dieses verkommene Leben bestraft, 25 Jahre alt und nichts, aber auch nichts erreicht, versagt auf ganzer Linie, ganz unten angekommen.
"Schlag mich so, dass es weh tut", flüstert sie, obwohl sie noch immer Angst vor den Schmerzen hat, aber sie muss bestraft werden, weil sie alles versaut hat, weil sie der Kleinen nichts bieten kann und weil sie eine schlechte Mutter ist. Er schlägt zu. Ein einzelner und brutaler Schlag, ein Probeschlag, mit dem er seine Grenzen auslotet, jetzt müsste sie reagieren, doch sie schweigt, beißt die Zähne zusammen, er packt sie am Hals, würgt sie, sie hat das Monster in ihm geweckt, in jedem Mann schläft ein Monster, niemand weiß das so gut wie sie, "Schlampe", haucht er und dann spürt sie, wie er in ihr kommt, wie sich die kleine Blase oben im Kondom füllt. Nur noch eine hauchdünne Latexschicht trennt seine wütenden Spermien von ihrem Körper. Sie will ihn hinausziehen, beugt sich nach vorne, doch er macht weiter, packt sie fester, ganz gefangen in seiner Geilheit, vor und zurück, sie hat Angst, dass das Kondom platzt, "warte", flüstert sie, doch er ist wie gefangen in seinem Rausch, erst als sie schreit, lässt er von ihr ab, erschrocken, zurückgestoßen in die Realität, in die Konvention. "Es tut mir leid", sagt er, "ich war nicht ganz bei mir."
"Alles gut", flüstert sie und sieht an ihm vorbei, damit er ihren Ekel nicht spürt.
"Alles gut", flüstert sie und meint dabei auch sich selbst.
                                            *
Der Alte erinnert sich noch genau an die Diskussionen, die es vor der Modernisierung des Einkaufszentrums gegeben hat. Raues oder glattes Pflaster. Der Riss zwischen Befürwortern und Gegnern einer vorgeschlagenen Pflastersorte war erstaunlicherweise eine Art Generationenkonflikt gewesen. Jüngere Bürger, vornehmlich Eltern, waren bei einem rauen Pflaster in Sorge um die Knie ihrer Kinder gewesen, da das Einkaufszentrum - so war auch das Motto - ja ein Ort für die ganze Familie sein sollte. Ältere Bürger hingegen plädierten mehrheitlich für einen rauen Stein, der genug Halt für Gehhilfen und Rollstühle bot. Den Ausschlag hatte gegeben, dass sich der Rechtsberater den Rausteinbefürwortern angeschlossen hatte. Schließlich war ein aufgeschlagenes Knie juristisch betrachtet nicht so schlimm wie eine gebrochene Hüfte.
"Zwei Dinge haben wir nicht bedacht", denkt der Alte, als er auf eben jenem Pflaster sitzt und von Zeit zu Zeit heimlich an seiner Bierdose nippt. Damals hat er noch einen Anzug getragen, eine Krawatte, ein Haus, eine Familie gehabt, aber er hat alles verloren. Zwei Jahre ist die Versammlung her und die Zeit auf der Straße ist zähflüssig. Hätte er damals gewusst, welchen Weg sein Leben nehmen würde, hätte er den glatten Stein befürwortet, weil sein Schlafsack nun immer aufreißt, wenn er sich nachts von der einen Seite auf die andere wälzt, das andere ist der vermeintliche Selbstmörder, von dem man damals nichts ahnen konnte. Er blickt hinüber zu dem Fleck, der auf dem Stein zurückgeblieben ist, eben dort, wo der Kopf aufgeschlagen ist, ein dunkler Schimmer, der sich über zwei Platten zieht und in der Fuge dazwischen besonders dunkel ist. Es fällt nur auf, wenn man es weiß, aber wenn man es weiß, ist es unübersehbar. Der eine oder andere Passant wird wohl noch über Jahre feinste Partikel des Selbstmörders durch die Welt tragen. Zwei Stunden haben sie den Stein gereinigt und dann das Ergebnis für gut befunden. Erst rückblickend fällt ihm auf, dass andere belebte Plätze, gerade solche im Schatten hoher Gebäude, zumeist mit glatten Steinen gepflastert sind, die man rasch und problemlos mit einem Hochdruckreiniger säubern kann. Man konnte quasi jeden Selbstmörder mit einem Wisch in den Eimer bringen. Er muss laut lachen, als er das denkt und bricht abrupt ab, als er merkt, dass er Aufmerksamkeit erregt. Bloß nicht auffallen, sonst gibt es wieder Ärger. Er nippt an der Dose.
"Warum hast du gelacht?"
Er erschrickt, so dass er sich verschluckt, prustet, hustet. Vor ihm steht ein kleines Mädchen.
"Weil die Welt zum Lachen ist und weil Lachen besser ist als Weinen. Schau mal da vorne."
Er zeigt auf die Rolltreppe, zu der die Menschen strömen und auf der sie dann stillstehen, abwarten, während das Band sie nach unten trägt, während auf der anderen Seite Menschen stehen, die nach oben fahren. "Alle fahren in einem großen Kreis", sagt er, "die meisten merken es nur nicht."
Das Kind lacht, für einen Moment freut er sich mit ihm. Wie Kinder müssten wir sein, denkt er, so naiv, so unschuldig, sie sieht in ihm einen Menschen, nicht die abgerissene Kleidung, nicht den unrasierten Bart, einen Menschen, besser: einen Mitmenschen.
"Kleine."
Er sieht die Reaktion in ihrem Gesicht, sie ist gemeint, sie ist die Kleine.
"Entschuldigen Sie", sagt eine Frauenstimme, "sie rennt immer weg."
"Sie ist ein tolles Kind."
Sie sieht ihn misstrauisch an und er sieht all die Vorurteile in ihren Augen aufblitzen, Landstreicher raubt kleines Kind, "ich meine das nur nett. Sie hat mich zum Lachen gebracht. Sie hat mich daran erinnert, wie es ist, Kind zu sein."
"Na gut."
Er merkt, dass andere Gedanken sie beschäftigen, entdeckt die tiefe Traurigkeit, die da im Verborgenen lauert.
"Ich wünsche Ihnen alles Gute", sagt er.
Sie sucht in ihrem Portemonnaie, dann wirft sie ihm eine Münze in den Becher.
                                            *
Die Idee mit dem Grablicht kommt dem Alten mitten in der Nacht, als er nicht schlafen kann, weil er immer wieder an das kleine Mädchen denken muss, mit dem er gesprochen hat. Ihre Frage hat ihn betroffen gemacht, warum lacht er, wo es doch nichts zu lachen gibt, seine Lügen haben ihn beschämt. Warum hat er gelacht? Weil ein junger Mensch sich in den Tod stürzt? Er fragt sich, ob er sich verändert hat, ob es stimmt, dass man wie die Straße wird, wenn man zu lange auf ihr lebt. Es ist ein schleichender Prozess, denkt er, den man selbst immer nur in besonderen Momenten begreift. Dies ist so ein Moment, denkt er und: habe ich mein Mitgefühl verloren? Er denkt, dass es vielleicht an der untergeordneten Position liegt, daran, dass man immer von unten nach oben mit den Menschen spricht, dass man sie um etwas bittet und selbst nichts als ein schlechtes Gewissen zu geben hat. Irgendwann stört das schlechte Gewissen, denkt er, und dann denkt man, dass die da oben ohnehin alle Abschaum sind, allesamt privilegiert, gefühlskalt wie der Stein, auf dem er sitzt, weil sie alle da oben sind und er selbst da unten. Da verliert man den Bezug. Da wird man selbst kalt. Er hat das nie so gesehen, denkt er, eigentlich aber auch nie darüber nachgedacht, alles irgendwie in leere Floskeln gehüllt, von der Hand in den Mund, Freiheit und weicher Kern mit harter Schale. Alles nur Worte. Er denkt, dass die Straße ihn verändert hat, dass er verwahrlost ist und dass der Gestank und das alles gar nicht so schlimm sind, aber dass er sich schämt, weil er über den Selbstmörder gelacht und das kleine Mädchen belogen hat. Ich bin doch ein Mensch, denkt er. Jetzt macht es ihn betroffen, dass all die vielen Schuhe ohne jeden Anstand auf die Platten getreten sind, dass alle den Mann so schnell vergessen haben. Dann: die Idee mit dem Grablicht. Er hat das schon häufig bei Unfallopfern am Straßenrand gesehen, ein Symbol, damit der Tod wenigstens nicht ganz umsonst war und damit man ihn nicht so schnell vergisst. Ein Grablicht kostet 99 Cent, Streichhölzer um es zu entzünden 10 Cent, etwas mehr als ein Euro, ein Tetrapack Wein. Er wird ein Grablicht kaufen und es auf die Platte stellen, damit die Menschen nicht auf diese Stelle treten. Es ist ein gutes Gefühl, das mit diesem Gedanken gekoppelt ist, ein Gefühl, das er vermisst hat, er hat lange nichts mehr gegeben, denkt er. Es ist ein feierlicher Moment, aus dem er ohne Umwege in einen tiefen Schlaf hinübergleitet, dann, am nächsten Morgen, setzt er seinen Plan um, betrachtet er das Grablicht, das er genau in der Mitte der Platte platziert hat, freut sich, wie es leuchtet, wie der kleinste Luftzug die Flamme in Bewegung setzt, ist gespannt, wie die ersten Passanten reagieren werden. Die junge Frau vom Blumenladen ist die erste. Bereits als sie um die Ecke biegt, bemerkt sie das Grablicht auf dem besenreinen Pflaster, schaut auf die Platte, dann zu ihm, doch er schaut zur Seite, weil er sich ein wenig schämt, aber es ist eine gute Scham, sie ist anders als das Gefühl am Tag zuvor. Ich habe das Licht dahin gestellt, weil ich immer noch ein Mensch bin, denkt er. Es ist ein schöner Moment.
Dann kommt der Mann vom Wachdienst, "Morgen, Alter", sagt er, so wie immer, dann stutzt er, als er das Grablicht entdeckt.
"Ist das von dir, Alter?" Die Stimme klingt verärgert. Er muss auf der Hut sein.
"Es ist als Erinnerung gedacht", sagt er, "für den Mann, der von dem Parkhaus gesprungen ist."
"Was hast du denn mit dem zu tun, Alter?"
"Nichts. Ich habe nur gedacht, dass es vielleicht schön ist, wenn sich jemand an ihn erinnert."
"Das ist überhaupt nicht schön, Alter. Das ist ein billiges Grablicht. Das ist traurig. Du bist schon traurig genug mit deinem Schlafsack und deinen tausend Taschen. Du bist hier nur geduldet, Alter, nicht erwünscht. Verstehst du den Unterschied?"
Er hört aus der Stimme heraus, dass er verloren hat, dass er es wieder wegräumen muss, dass jede Diskussion sinnlos ist, weil er diesen jungen Mann nicht überzeugen kann, der vielleicht gerade mal halb so alt ist wie er selbst. Sein Status verbietet jedes Insistieren.
"Ich dachte nur, es wäre vielleicht schön..."
Der Andere spürte das Einlenken in seinem Tonfall.
"Wenn die Kunden hier einkaufen", erklärt der Wachmann, "dann wollen die was Schönes sehen. Saurier eben oder Meereswelten. Die wollen sich entspannen und nicht an den Tod denken. Räum das schnell weg, bevor die Leute kommen. Wir hatten schon genug Stress mit diesem Selbstmörder.
"Aber ich..."
"Mach es, Alter, mach es einfach. Mach mir keinen Stress."
Schwerfällig erhebt er sich und denkt, dass es so weh tut, wenn man sich an einen kleinen Rest Stolz klammert, weil man nicht alles loslassen kann, ohne wahnsinnig zu werden, irgendwas muss man festhalten, irgendeine Linie muss es geben, hinter der sich die Würde verkriechen kann, wo sie sicher ist. Dann hebt er das Licht auf und bläst es aus.
"Tut mir leid, Alter", sagt der Wachmann im Weggehen, "du kannst sie ja nachts anzünden."
                                          *
Die Frau vom Blumenladen ist an diesem Morgen besonders früh im Einkaufszentrum, weil sie noch die Dekoration für eine goldene Hochzeit vorbereiten muss, in zwei Stunden sollen die Gestecke abgeholt werden, sie ist ganz in Gedanken, als sie wie jeden Morgen um die Ecke biegt und plötzlich das Grablicht bemerkt. Noch ist es fast leer hier und das kleine flackernde Licht ist wie ein Fingerzeig, dort war der junge Mann von dem Parkhaus gestürzt, sie selbst war gerade im Keller gewesen, als es passierte und hat es erst später durch aufgeregte Kunden erfahren, traurig ist das, denkt sie, dass das Leben ein wenig so wie ein kleines Licht ist, ob er wohl Familie hatte. Links sitzt der Obdachlose, von dem alle erzählen, dass er früher Akademiker gewesen sei, so tief kann man fallen, denkt sie, selbst wenn man Akademiker ist. Ob er wohl das Licht dorthin gestellt hat. Sie schaut ihn an, doch er blickt weg. Ob er sich schämt? Sie erreicht den Laden, erst mal hinein, Mantel ablegen, Schlüssel in den Schrank, prüfender Blick über die Ware. Dann geht sie wieder zurück in den Vorraum, um noch einmal durch das Fenster nach dem Licht zu sehen, eine schöne Idee, denkt sie, man vergisst ja sonst so schnell, dann sieht sie den Wachmann, der sich vor dem alten Mann aufgebaut hat. Sie reden miteinander und sie versteht alles auch ohne Worte: die breiten Schultern auf der einen Seite, der gesenkte Kopf auf der anderen, schließlich erhebt sich der Alte und geht mit hängenden Schultern zu dem Licht und irgendwie erscheint ihr das alles auf einmal mit Bedeutung aufgeladen, wie er das Licht auspustet und in seiner Manteltasche verschwinden lässt, man könnte doch, denkt sie, man müsste...
Das Klingeln der Ladentür erschreckt sie furchtbar, ganz so, als hätte sie etwas Verbotenes getan.
"Guten Morgen, Grete", sagt die Hilfskraft, "hast du das mitbekommen? Was ist denn da draußen mit dem Penner los?"
                                            *
Aus Frust über das entfernte Grablicht hat er seine Notreserve angebrochen und sich eine Flasche Schnaps gekauft. Der Alkohol hat ihn abgelenkt, damit er nicht immer auf die Platte starren muss, auf die vielen Schuhe, die wieder und wieder auf die Platte treten. Er hat sich in sich selbst versenkt, was er manchmal tut. Der Blick wird dann trübe, er starrt ins Leere und wärmt sich an Erinnerungsfetzen aus seiner Jugend, Ferien auf dem Land, Heuernte, Obstbäume. Wenn man zurückblickt, erscheint zumeist das am idyllischsten, was früher Nebensache gewesen ist, bloße Kulisse, wie der Schlag der Kirchturmuhr oder der Sonnenuntergang über den Bergen. Irgendwann ist er eingeschlafen und dann mit schmerzendem Kopf erwacht. Das erste, was er hört, ist das Stimmengewirr, so viele Menschen, die einander etwas zu sagen haben, dass das Gehirn überfordert ist, eine einzelne Botschaft zu verstehen, dahinter, wie ein Takt, die unzähligen Schritte auf dem Pflaster, Hochbetrieb. Es muss bereits Mittag sein. Vorsichtig öffnet er die Augen, betrachtet die Hosenbeine, die an ihm vorbeistreichen und dann - unvermeidlich - die Platte. Jemand hat ein neues Grablicht dorthin gestellt und daneben einen Strauß mit Lilien gelegt, wunderschöne weiße Blätter mit lila Sprenkeln in der Blüte. Obwohl Hochbetrieb ist, bewegt sich der Strom jetzt in einem respektvollen Bogen um die Stelle herum, immer wieder bleiben einzelne Menschen stehen und verweilen einige Momente neben den Blumen. Manche kommen miteinander ins Gespräch, andere machen Fotos, am Nachmittag beobachtet er ein junges Pärchen, das eine weiße Rose neben die Lilien legt und eine weitere Kerze entzündet.

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