Man mag den Titel dieser kleinen (Streit)Schrift auf den ersten Blick für überzogen und für übertrieben halten, doch es ist das Bestreben eben diesen Umstand auf den folgenden Seiten darzustellen; wohlwissend, dass dies ein einsamer und nicht konsensfähiger Standpunkt ist, der wahrscheinlich lediglich Spott und Häme aber keine Einsicht evozieren kann. Vorab ist es darum dem Verfasser ein Anliegen bereits prophylaktisch darauf hinzuweisen, dass die folgende Kritik weder generell noch technikfeindlich zu verstehen ist, ebensowenig als Dekadenztheorie, reaktionärer Standpunkt oder Schrei hinab aus dem Elfenbeinturm eingebildeter Erkenntnis, was stereotype Reaktionen auf die Verbreitung neuer Medien - sei es das Buch, die Zeitung, das Fernsehen, das Internet - waren und sind. Vielmehr ist dies der Versuch ausgehend von Phänomenen, die jeder kennt, Veränderungen der Lebens- und Erfahrungswelt durch Smartphones weitgehend neutral zu skizzieren und sie hinsichtlich einer möglichen degenerierenden Wirkung zu hinterfragen. Hierbei wird der Standpunkt vertreten, dass ein solcher Einfluss in seiner Summe als "Beitrag zu einer Entartung der Menschheit" verstanden werden kann.
Phänomene
Es bedarf keiner umfangreichen statistischen Erhebungen, um die fortschreitende - und in den westlichen "Industrienationen" vielleicht gerade ihren Zenit erreichende - Verbreitung des Smartphones zu belegen, da sie ein Phänomen darstellt, das von jedem Leser sofort überprüf- und verifizierbar ist. Für die Leser, die nicht zurückgezogen in ihren eigenen vier Wänden diese Zeilen lesen, empfiehlt sich an dieser Stelle ein kurzes Aufblicken und ein heimlicher Blick nach links und rechts. Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, dass in eben diesem Moment der Sitznachbar, die Frau gegenüber oder der kleine Junge die Symptome zeigt, die bereits das ganze Ausmaß der Degeneration metaphorisch offenbaren. Man betrachte den gekrümmten Rücken, den gefesselten Blick, den gesenkten Kopf, die Aufmerksamkeit fokussiert auf einige Quadratzentimetern, ein Minenspiel, das einer Maschine gilt, dann betrachte man sich selbst und die eigene Versenkung.
Der Leser hingegen, der sich einen ruhigen Ort gesucht hat, um diese Zeilen zu lesen, suche die nähere Umgebung ab, den Tisch, das Bett, den Boden, lokalisiere das nächste Smartphone und die eigene Affinität. Hierfür bedarf es keiner Zahlen, Statistiken oder weiterer Erläuterungen. Das Smartphone ist ein neues Medium, das ungeachtet der Kultur - ignoriert man die Verzögerung, mit der Phänomene aus ökonomischen Gründen in den sogenannten "Entwicklungsländern" sichtbar werden -, ungeachtet der Religion (wozu hier auch der Atheismus gerechnet wird), ungeachtet der sozialen Zugehörigkeit oder einer sogenannten "Schicht", ungeachtet des "Intellekts" oder "akademischer Bildung", ungeachtet der politischen Orientierung einfach alles und jeden und überall erfasst.
Widersprüche
Nun mag man einwenden, dass ein solcher Umstand für sich genommen noch nichts Schlechtes ist und selbst wenn man das Schicksal ausgebeuteter Arbeitssklaven ignoriert - die diese Milliarden von Geräten produzieren - und nur auf die Vorteile verweist, die sich dem Nutzer dieses neuen Mediums bieten, sollte man doch zumindest die vermeintlich positiven Konsequenzen einmal hinterfragen. Da ist doch der menschlich so lang erträumte Zugang zu unbegrenztem Wissen, die unbegrenzte Möglichkeit der Kommunikation, die in einem nie dagewesenen Maße die sozialen Bindungen der Menschen allgegenwärtig macht, die Bannung der schnöden Langweile, die einen zuweilen beschlich, wenn einmal ein Moment kam, indem es gerade nichts zu tun gab.
Fürwahr, niemals war bislang Wissen in einem solchen Maße verfüg- und transportierbar wie in der heutigen Zeit. Die Alexandrinische Bibliothek passt in einen einzigen Wikipedia-Artikel. Heutzutage ist es einem Proleten auf einer einsamen Insel möglich die Relativitätstheorie herzuleiten oder ganze Passagen aus Goethes "Faust" zu rezitieren. Alles ist recherchierbar, jeder Stein jede Pflanze, jedes Rezept, jede Zutat, jede Sprache der Welt kann in den eigenen Verständnishorizont übersetzt werden, für jedes Problem gibt es eine "App", das Smartphone hat es vollbracht aus jedem Menschen einen Universalgelehrten zu machen, ohne dafür irgendetwas tun zu müssen. Was könnte daran schlecht sein? Sind wir nicht alle klüger geworden?
das eigenständige Denken
Ein bedeutender Katalysator für die Entwicklung des Menschen ist von jeher das eigenständige Denken gewesen. Eigenständiges Denken sei hier, um etwaigen Missverständnissen und bspw. tiefenpsychologisch begründeten Widersprüchen und anderen Spitzfindigkeiten zu begegnen, folgendermaßen definiert, als ein Bewusstseinsakt, der sich dahingehend von anderen unterscheidet, dass er seinen Ausgang aus dem Bewusstsein selbst nimmt und nicht direkt aus einem externen Reiz resultiert. Eigenständiges Denken kann in diesem Sinne als Reflexion verstanden werden. Eigenständiges Denken ist die Erfindung des Rads, wenn alle anderen sich ohne Rad abmühen. Egal welche Neuerung, welchen Fortschritt, welche Disziplin man zur Prüfung heranzieht, stets war es ein Problem - eine scheinbare Aporie -, das über den Akt des eigenständigen Denkens, über die Lösung zu einer Entwicklung führte. Der "Anbeginn der Neuzeitlichen Philosophie" wird gemeinhin an Descartes Erste Erkenntnis gekoppelt, dass das denkende Subjekt nicht notwendig einen Gott braucht, um zu existieren. Descartes löste ein Problem indem er eigenständig dachte oder, wie er selbst formuliert: "Ich meinte deshalb, dass im Leben einmal Alles bis auf den Grund umgestossen und von den ersten Fundamenten ab neu begonnen werden müsste, wenn ich irgend etwas Festes und Bleibendes in den Wissenschaften aufstellen wollte." Hätte Descartes ein Smartphone besessen, hätte er nie begonnen zu meditieren.
Die bereits erwähnte Allwissenheit des postmodernen Massenmenschen kennt mehr Lösungen als Probleme. Jedes Problem ist sofort gelöst, jede Frage beantwortet. Menschen meiner Generation erinnern sich vielleicht noch an Situationen, in denen der Titel eines Buches, das Geburtsjahr eines Künstlers oder vergleichbare Fragen zu wildesten Spekulationen, Diskussionen und Theorien führte, zu Gedanken, die nie entstanden wären, ohne ihre Ausgangsfrage. Heutzutage sind solche Diskussionen seltener geworden, oftmals auch bereits in den virtuellen Raum verschoben, wo sich Antworten bspw. anhand ihrer Beliebtheit vorsortieren lassen. "Ich hab's" ist dann oft der Halbsatz.
"Im Jahr 2013 wurden mehr illegale israelische Siedlungen auf palästinensischem Autonomiegebiet errichtet, als jemals zuvor" oder "ich hab doch gewusst, dass die Null keine Zahl ist, oder "cogito ergo sum" oder "ego sum, ego cogito". In den Kampf der Gedanken tritt unentwegt ein übermächtiger Ringrichter, der den Kämpfern Wahrheit in die Augen träufelt und ihnen damit den Anlass zum Kampf nimmt. Das Gehirn ist träge geworden. Der Leser frage sich selbst, wie viele Fragen er bereits beantwortete, ohne über sie nachzudenken. Wenn man weiß, dass Nietzsche 1844 in Röcken geboren wurde, übersieht man leicht, was es bedeutete in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu leben. Googeln ist ein Neologismus für Verdummen. Es gibt viele solcher Beispiele.
Folglich lässt sich konstatieren, dass das eigenständige Denken - in dem oben dargestellten Sinne - degeneriert, da es ihm an Anlässen ermangelt. Das Smartphone verringert Reflexion, weil es die allgegenwärtige Verfügbarkeit einer Antwort suggeriert, die zumeist anhand ihrer Beliebtheit ausgewählt wird. In diesem Sinne tritt an die Stelle eines eigenständigen Denkprozesses eine Teilhabe an einer Art virtueller Schwarmintelligenz, der man folgt und die man dabei durch seine Spuren indirekt beeinflusst.
Wichtig ist dem Verfasser hier, dass dieser Text lediglich als Darstellung und Reflexion eines Phänomens und nicht als eine wie auch immer geartete ideologische Stellungnahme zu verstehen sein soll - man mag sich sofern man möchte für die eigene Ideologie passende Drahtzieher, Verschwörer, Tempelritter, multinationale Konzerne, Muslime, Juden oder radikale Christen vorstellen - und dass es an dieser Stelle irrelevant ist, wer dafür verantwortlich ist, dass alles so ist, wie es ist. Es ist.
qualitative Degeneration der Erfahrungswelt
Das Smartphone reduziert aber nicht nur das eigenständige Denken, es reduziert auch das eigenständige Erleben, kurz: das eigenständige Fühlen. Auch an dieser Stelle prüfe der Leser das Phänomen anhand seiner eigenen Erfahrung. Es ist vielen zum automatisierten Reflex geworden, bei jedweder Art von Ereignis, welches das Individuum als außergewöhnlich empfindet, sei es eine Landschaft, ein Konzert, ein Moment, ein Naturereignis oder ein terroristischer Anschlag, umgehend das Smartphone zu zücken und das Geschehen mit der integrierten Kamera festzuhalten.
Auch hier geht es nicht um eine weitergehende Kritik, um Privatsphäre, Datenschutz und derartige Dinge, sondern lediglich um die Darstellung eines Phänomens. Ein außergewöhnliches Erlebnis wird dokumentiert, was notwendig ungeachtet der fortschreitenden Technik immer eine Verkleinerung des Ereignisses ist - ein Strand hat mehr Farben als jedes Display. Ein Sonnenuntergang, der auf eine Größe von einigen Quadratzentimetern reduziert ist, muss eine Reduktion des eigentlichen Schauspiels sein. Neben dieser rein visuellen Reduktion des Ereignisses - und der damit verbunden Erfahrung - bedeutet die Speicherung eines optischen oder akustischen Ereignisses immer auch eine Reduktion individuellen Erlebens und kann als Objektivierung eines subjektiven Empfindens verstanden werden. Die Aufnahme eines Sonnenuntergangs, die immer wieder verfügbar ist, duplizierbar, versendbar, kommentierbar und veränderbar, überlagert die eigentliche und bereits durch die Aufnahme geschwächte Erinnerung an das eigene Erleben und sie zeigt immer nur den Schatten desjenigen, der dies das alles filmt. Die ursprüngliche Funktion solcher Aufnahmen - bspw. eine Hochzeitsvideos - diente vergangenen Generationen zumeist als Ausgangspunkt für eigene Erinnerungen - oder Gefühle - und bildete eine Art Leitfaden für die Rekonstruktion subjektiv erlebter Ereignisse. Die Aufnahme eines Hochzeitstanzes ist ein (objektives) Dokument, das von Personen, die diesem Ereignis nicht beigewohnt haben - ungeachtet erkenntnistheoretischer Unschärfen - übereinstimmend und exakt beschrieben werden kann. Für die Personen jedoch, die diesem Schauspiel beiwohnten (ohne selbst zu filmen) ist es nur der Ausgangspunkt einer Assoziationskette, der Dinge, die nicht auf der Aufnahme zu sehen sind. Diese Erinnerung wird mutmaßlich jede Braut und jeder Bräutigam als bedeutender und wichtiger als die Aufnahme bewerten.
Eben dieses subjektive Erleben und - retrospektiv gewendet - diese Erinnerung wird in der heutigen Zeit (um 2014) allzuoft durch "objektives Erleben" und "objektive Erinnerung" ersetzt. Der Erlebende verkleinert seine Sicht auf ein Ereignis, indem er bereits bei der Aufnahme das Ereignis durch das Objektiv - und somit im Sinne möglicher Betrachter - wahrnimmt. Der durch das Smartphone mögliche Austausch mit Anderen über die Objekt gewordene Wahrnehmung unterbindet nicht nur eine individuelle Reflexion, sondern ersetzt die Wahrnehmung durch eine bleiche - objektive - Kopie (bspw. durch die Reduktion eines Ereignisses auf Bild und Ton).
Im Sinne der Theorie ließe sich dies als qualitative Degenerierung der Erfahrungswelt durch Smartphones bezeichnen, die aber mit einer quantitativen Degenerierung der Erfahrungswelt gekoppelt ist.
quantitative Degenerierung der Erfahrungswelt
Smartphones reduzieren durch die Fesselung der Aufmerksamkeit des Individuums auch rein quantitativ die Summe der Sinneseindrücke eines Menschen. Auch hier prüfe der Leser selbst anhand eines kleinen Experimentes die Beschreibung. Er achte einmal bewusst - bspw. bei der Fahrt in einem öffentlichen Verkehrsmittel - darauf, wie viele Menschen ihre Aufmerksamkeit konstant auf einen kleinen Bildschirm richten und wie viele es während einer Fahrt zumindest kurzzeitig tun werden. Der heutige Jugendliche bietet einer alten Frau den Sitzplatz nicht an - nicht weil er unhöflich ist, sondern weil er sie nicht sieht. Und heute sind alle jugendlich.
Nun mag man einwenden, dass ein hochauflösendes Blueray-Video unterhaltsamer und auch lehrreicher sein kann, als eine Bahnfahrt durch eine nächtliche Dörferlandschaft, aber ungeachtet des transportierten - Bildungs- oder Unterhaltungswertes des - Inhaltes findet physiologisch nahezu immer eine Verengung des Sichtfeldes, eine Fokussierung auf optische Signale bei gleichzeitiger Ausblendung der akustischen Umgebung statt, eine durch die Bedienung des Smartphones - Navigation - fokussierte und in diesem Sinne gefesselte Aufmerksamkeit, eine Schwächung der eigenen körperlichen Wahrnehmung und die Einnahme einer Position, die auf das Smartphone ausgerichtet ist - allesamt Haltungen, die sich als degenerativ beschreiben lassen. Gleichzeitig ist es häufig eine Verlagerung des (emotionalen)Wahrnehmens und Empfindens in eine virtuelle Welt, die unabhängig von der gegenwärtigen Umgebung existiert.
Auch hier mag man einwenden, dass dies eben eine Entwicklung der sozialen Beziehungen sei, dass soziale Netzwerke Organisation, Aufklärung und zahlreiche weitere Möglichkeiten bieten, sei es die Organisation friedlicher Proteste gegen despotische Regime oder sozialer Ereignisse wie Flashmobs oder Tanzveranstaltungen. Diese Möglichkeiten bestehen zugegebenermaßen. Die Verlagerung von Aufmerksamkeit (und Lebenszeit) von einer analogen in eine digitale Welt muss hinsichtlich des Erkenntnisgewinns nicht notwendig nachteilig sein. Dies wird zu prüfen sein. Hierbei lassen sich zwei Formen der Smartphonenutzung unterscheiden, die gleichsam Aufmerksamkeit fesseln und - zumindest in Teilen - das Bewusstsein des Nutzers von einer realen in eine virtuelle Ebene überführen, nämlich (1) Interaktion mit anderen Menschen über das Smartphone oder (2) die Interaktion mit dem Smartphone.
Interaktion mit anderen Menschen über das Smartphone
Menschen interagieren mit ihren Smartphones. Mit der flächendeckenden Verbreitung des Internets, ist eine Plattform geschaffen, die all diese immer neuen Generationen und Modelle von Smartphones miteinander verbindet. Hierbei hat es die Technik möglich gemacht, dass die Interaktion nahezu ohne zeitliche Verzögerung möglich ist, gleichzeitig aber gespeichert wird. Dies ermöglicht es Menschen unterschiedlichste Kommunikationspartner gleichzeitig in einem Gespräch zu halten, wobei die einzelnen Partner zumeist unterschiedliche Rollen aufweisen. So kann über entsprechende Anwendungen gleichzeitig mit Freund, Freundin, Mutter, Oma, Feind oder Behörde kommuniziert werden. Diese Ausweitung gleichzeitiger Kommunikationen beeinträchtigt dabei notwendig die Qualität jeder einzelnen. Man möge sich nur vorstellen, wenn all die Personen mit denen man kommuniziert beieinander und um einen herum sitzen würden. Auch wenn es inzwischen - zumindest - Tausende von Smileys gibt - die nichts anderes, als eine Objektivierung eines Gefühls sind - vermögen es diese nicht auch nur ansatzweise, die Pluralität menschlicher Mimik wiederzugeben. Gleichzeitig ist mit der Welt der Foren, Verteiler und sozialen Netzwerke eine neue Form von Öffentlichkeit entstanden, die ebenfalls die Art der Kommunikation verändert. Hierbei geht es nicht um eine bei Linguisten umstrittene angebliche "Verrohung" der Sprache, die sich in der syntaktischen und semantischen Ausdrucksweise spiegeln würde, sondern vielmehr - ganz neutral - um eine Reduktion der inhaltlichen Qualität und Tiefe von Kommunikation, die durch einen quantitativen Anstieg der Gesprächspartner und durch den - zumindest im Angesicht der Spionagetätigkeiten diverser Dienste - Verlust von Vertraulichkeit und Diskretion bedingt ist. Smileys, Floskeln, Ausrufezeichen etc. verdeutlichen auch im Bereich der Kommunikation eine Reduktion und im oben dargestellten Sinne eine Degenerierung. Hiermit ist nicht gesagt, dass Menschen, die ein Smartphone mit sich führen generell keine tieferen Diskussionen führen könnten - es sei denn, dass ein Kommunikationsstrang durch einen anderen unterbrochen wird -, aber mit einer Zunahme von Zeit, die in der virtuellen Welt kommuniziert wird, sinkt insgesamt tendenziell die Zeit analoger Kommunikation. Der Jugendliche von heute schreit häufig in sein Telefon; nicht weil er unhöflich ist, sondern weil er in diesem Moment die analoge Welt vergessen hat. Und alle sind heute jugendlich.
Interaktion mit dem Smartphone
Um die Zeit zu füllen, die eine zeitweilige Rückkehr in die analoge Welt bedeuten könnte, bietet einem das Smartphone unzählige Beschäftigungsmöglichkeiten, wenn alle Diskussionsstränge abgearbeitet, alle Mails gecheckt und alle Neuigkeiten erfahren wurden. Neben der bereits erwähnten Alexandrinischen Bibliothek und dem noch viel größeren dionysischen Freudenhaus daneben, bietet das Smartphone auch eine Vielzahl von Spielen, die sich je nach gewünschter - zusätzlicher - Verweildauer in der digitalen Welt installieren lassen. Man schießt auf Hühner, dreht und wendet Steine, Diamanten, rast durch Tunnel, besiegt feindliche Gladiatoren oder vernichtet Asteroiden. Man blicke an dieser Stelle einmal auf und betrachte die Menschen um einen herum, die mit ihrem Smartphone spielen, wie sich ihre Pupillen bewegen, wie sich konzentrieren, um etwas zu erreichen, Erfahrungswerte, Punkte, Zahlen, die in sich in bunten Balken mit den Zahlen der Anderen vergleichen lassen, die ebenfalls spielen und mit denen man vielleicht sogar gleichzeitig kommuniziert. Hierbei ist die Aufmerksamkeit und Fokussierung derart stark an das Gerät geknüpft, dass das unwissende Testobjekt niemals erfahren wird, dass wir gerade ihn angesehen haben. Er sieht nicht die Frau neben ihm, die auf ihr eigenes Gerät starrt, sieht vielleicht nicht den Obdachlosen, das Schild, den Vogel vor dem tristen Herbstmorgen. Dies ist nicht kritisch oder wertend gemeint - niemand muss einem Obdachlosen helfen -, aber die Tatsache, dass es ihn gibt oder das Lächeln der Frau hätten vielleicht eine weitere Assoziation, einen eigenen Gedanken, ein Gespräch, vielleicht eine neue Liebe bedeutet. Spiele, die man auf dem Smartphone spielen kann, - ungeachtet des Umstandes, dass es bestimmt auch tolle Spiele gibt, die überdies pädagogisch ganz besonders wertvoll sind - reduzieren sowohl die äußere Aufmerksamkeit für das analoge Leben um einen herum, als auch die innere Aufmerksamkeit, die obenstehend als Reflexion oder eigenständiges Denken bezeichnet wurde, oder positiv formuliert: sie ersetzen Langeweile.
Langeweile
Langeweile war für eine lange Zeit ein Privileg kleiner Bevölkerungsteile und kann als Situation verstanden werden, die - physiologisch und psychologisch - eine Art Aufmerksamkeitsüberschuss ist, der nicht bereits von vornherein durch ein bestimmtes Vorhaben oder eine bestimmte Tätigkeit eingegrenzt wird. Langeweile kann in diesem Sinne als dysfunktionales Denken verstanden werden. Positiv formuliert ist sie nur schwer von der sogenannten Muße zu trennen; Langeweile als Chance für - schöpferische - Kreativität. Für Aristoteles gehört ein arbeitender Sklave notwendig zum Haus und bietet damit überhaupt erst die Möglichkeit für die freie - und dem bloßen Überleben entrissene - Betätigung in der Polis. Ohne Langeweile wäre Newton wohl nicht der Frage nachgegangen, warum - schenkt man der Anekdote Glauben - der Apfel hinunter auf die Wiese fällt. Auch im Rückgriff auf die oben erwähnte Erfindung des Rads ist anzunehmen, dass dieser Gedanke eben nicht während einer Tätigkeit sondern vielmehr in der Reflexion einer Tätigkeit entstand. Die Demokratisierung der Möglichkeit von Langeweile ist ein Phänomen der Neuzeit. Der Arbeiter des 19. Jahrhunderts kennt sie nicht, weil sie notwendig an Freizeit - und damit dem bloßen Überleben entrissene Zeit - gekoppelt ist. Langeweile öffnet überhaupt erst die Perspektive für die kleinen Dinge, die man sonst übersieht, bspw. eine trübe Stelle im Fensterglas oder - nach innen gewendet - einen lang aufgeschobenen Gedanken. Langeweile wird hier in diesem Sinne als eine Art Übergangsstatus verstanden, der häufig zur Reflexion und zum eigenständigen Denken führt. Das Smartphone jedoch vermag es, diesen Zustand durch den - immer möglichen - Transfer von einer analogen in eine digitale Welt gewissermaßen zu objektivieren. Analoge Langeweile wird in digitales Erleben transferiert, das in den seltensten Fällen produktiv ist, wie oben im Zusammenhang mit Spielen ausgeführt wurde. Hierdurch entsteht jedoch ein Missverhältnis beider Welten, das - wie im Weiteren sichtbar wird - auch ein Grund für die Fixierung des Menschen an sein Smartphone ist, denn die digitale Welt ist voller Erlebnisse und Möglichkeiten, in der digitalen Welt muss es nie langweilig sein. Die - bewusste und unbewusste - Fesselung analoger Erfahrung, die als Langeweile empfunden wird, bedingt dementsprechend eine quantitative Verlagerung von Lebenszeit in einen digitalen Erfahrungsraum. Gleichzeitig ist aber die digitale Welt notwendig weniger komplex, schwierig, belastend oder eben langweilig, sodass die Zeit in ihr tendenziell als erfüllender erlebt werden muss, weil eben stets das Resultat analoger Langweile ausbleibt, weil das potentielle Ergebnis analoger Langeweile - eigenständiges Denken - durch den Transfer in die digitale Welt ausbleiben muss. Der Suchtfaktor, der mit dem Erreichen neuer Level, Schwierigkeiten oder Belohnungen verbunden ist, kann als sublimierte (hier im Sinne von objektivierte) Reflexion verstanden werden.
Fixierung
Alle bislang thematisierten Degenerationsformen - die sich in Reduktionen der Erfahrungs-, Gefühls- und (analogen) Denkwelt manifestieren - sind für sich genommen nicht ausreichend,
um eine Entartung zu konstatieren. Der Mensch tut viele Dinge, die ihm schaden. Niemand wird mehr ernsthaft die Schädlichkeit des Rauchens leugnen, aber dennoch treffen viele Menschen - ob bewusst oder unbewusst - die Entscheidung dazu. Sei es durch die schwache Gewichtung von "ein paar zusätzlichen Lebensjahren" oder aber dem übergewichtigen Wunsch nach Bedürfnisbefriedigung geschuldet. Niemand lebt so, dass all sein Handeln auf Produktivität, Gesundheit, Erkenntnis und all die anderen positiv konnotierten großen Wörter ausgerichtet ist. Viele würden dem Satz zustimmen, dass es ja kein Leben und auch keine Freiheit darstellen würde, wenn man immer das Richtige täte. Niemand wird kritisiert, weil er - gelegentlich - virtuelle Kommunikation oder ein Spiel einer analogen Begebenheit vorzieht. Eine Entartung lässt sich jedoch dort konstatieren, wo die Symptome in ihrer Summe eine wie auch immer geartete ursprünglichere Natur überlagern und hierbei eine Art Zwangscharakter entsteht, der ohne eine bewusste Entscheidung auskommt. Jeder Ausflug in die virtuelle Welt wird belohnt, ist erfolgreich. Für alles gibt es Punkte, Kommentare, Anerkennung, Belohnungen und Smileys. Reaktionen. Im Gegensatz zu anderen Drogen - man denke an die berüchtigten Opiumhöhlen, die in erster Linie eine Flucht aus der analogen Welt zum Ziel hatten -, die in weiten Teilen der Gesellschaft sozial geächtet - oder zumindest scheingeächtet sind - erfreut sich das Smartphone allgemeiner Beliebtheit. Es wird häufiger als Statussymbol, als wie hier, als Symbol einer Entartung verstanden. Ein Fixerbesteck vermag es noch im öffentlichen Raum für Aufregung, Empörung und Ablehnung zu sorgen, ein rauchendes Kind empört den Bildungsbürger häufig ebenso, wie den Arbeiter; ein Kind mit einem Smartphone ist inzwischen zur Normalität geworden. Die psychischen Mechanismen, die hierzu führen, können und sollen an dieser Stelle nicht vertieft werden und sind für den Gang der Ausführung auch belanglos. Wesentlich ist erneut das Phänomen, das jeder Leser anhand seiner eigenen Erfahrung bestätigen kann. Man betrachte bspw. in einem Restaurant ein junges - oder älteres - Paar, beide werden auf ihr Smartphone blicken oder es zumindest in Griffweite positioniert haben, ganze Familien, in denen nur scheinbar alle an einem Tisch sitzen, da jeder auf seinem eigenen Weg eigentlich gerade in der digitalen Welt verweilt. Eltern, die - was immer seltener vorkommt - versuchen ihren Kindern den Zugang zu ihren Smartphones - zumindest temporär - einzuschränken, kennen die Reaktionen, die an das Verhalten Schwerstdrogenabhängiger auf - kaltem - Entzug erinnern. Störungen des Zugangs zur digitalen Welt evozieren ein Gefühl für die Leere, die sich in der analogen Welt auftut. Der technische Fortschritt und die Veränderung des gesellschaftlichen Klimas vermögen es jedoch diese Momente seltener zu machen, in denen das Subjekt seiner Scheinwelt entrissen und auf die eigene Degeneration aufmerksam und zurückgeworfen wird.
Entartung
Der Begriff der "Entartung" erscheint reißerisch und suggeriert zugleich implizit, dass es eine Art Maßstab gebe, wie der Mensch sein solle, oder einen höheren Zweck, dem die konstatierte Degeneration zuwiderläuft. Ein solches Leitbild soll hingegen hier nicht gegeben oder vertreten, noch eine anthropologische Bestimmung geleistet werden. Jeder prüfe für sich selbst, wie er Menschsein definiert und welche Werte und Maßstäbe sich daraus ergeben. Bemüht man hier berühmte Begriffe, wie das zoon politikon oder das animale rationale, lassen sich diese Tendenzen, die in sozialen und rationalen Bereichen degenerierend wirken, als Entartung bezeichnen. Lediglich an einer Stelle wurde im Vorigen auf den Umstand verwiesen, dass die Aufhalte in der digitalen Welt - nach heutigem Erkenntnisstand - konstant und total überwacht, ausgewertet, analysiert, interpretiert, geordnet, verglichen und für weitere Verwendung gespeichert werden. Jeder Smiley ist auch eine weitere Linie auf dem Psychogramm des objektivierten Bewusstseins. Es wäre naiv zu glauben, dass die gewaltige, rasante, weltweite und dahingehend epidemische Veränderung menschlichen Lebens eine zufällige und in irgendeiner Form evolutionär bedingte sei. Das Smartphone ist vielleicht nur eine Art Brücke - die Technik schreitet ja immer schneller voran - vielleicht ist in einigen Generationen das Smartphone belanglos, weil die analoge Welt nicht mehr in der heutigen Form existiert. Jeder mag hier seine eigene Dystopie malen. Es ist nicht Ziel dieses Textes dabei auf vermeintliche Profiteure oder einen Schuldigen zu weisen; derer gibt es zu viele. Der Titel und das Wort "Beitrag" deuten an, dass aus Sicht des Verfassers durchaus auch andere Phänomene entsprechende Tendenzen verstärken und vielleicht bedingen, von denen jedoch hier nur das Smartphone exemplarisch hervorgehoben werden soll.