Eine neue Idee im Corps: Literarische Bühnenauftritte. Das Oberkommando hatte die Idee abgesegnet, weil sie geeignet schien, die Moral der Truppe zu stärken. Es gab erstaunlich viele Freiheiten. Keine strengen Vorgaben, nur die allgegenwärtige Ideologie. Die Meisten fanden sich nicht zu überpünktlich, aber dennoch rechtzeitig ein. Die wenigen Nachzügler wurden von einem zwielichtigen Mann in der Ecke notiert. Ich kam zwei Minuten zu spät. Ich sah nicht, wie sich seine Hand bewegte, aber bei der Gestapo weiß man nie so genau.
Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube sah ich mich nach einem freien Platz um. Die Emporen in diesem ehemals prunkvollen Theater waren größtenteils mit Offizieren und diversen leichten Mädchen besetzt. Weitere Mädchen hatten sich mit einigen Matrosen, die mit dem gestern hier in Le Havre eingelaufenen U-Boot “Hermann Göring“ angekommen waren, in die Nischen zurückgezogen.
Auch die Sitzreihen waren bereits sehr gut gefüllt. Schließlich entdeckte ich einen Platz in der dritten Reihe, den ich sofort ansteuerte. Zu meiner Freude sah ich, dass mein guter Freund Werner, der im selben Infanterieregiment dient, wie ich, mein linker Sitznachbar war. Leider stellte sich mein rechter Sitznachbar als Feldwebel Hans Stein heraus, der bei uns im Regiment nur den Spitznamen “Schleif“ trug.
Er schien entspannt, doch ich traute dem Braten nicht so recht. Seit er mich an meinem ersten Tag an der Front erst zu Unrecht beschuldigt und dann zum Latrinendienst verdonnert hatte, bäumten sich bei seinem Anblick alle meine Instinkte auf.
Er grüßte zuerst, ich grüßte zurück. Dann umarmte ich meinen Freund Werner und besetzte meinen Platz. Die Anwesenheit des Feldwebels störte mich nicht all zu sehr, war fast schon vergessen. Er schien nur selten mit Menschen außerhalb seiner Einheit zu verkehren und hielt sich wohl zurück.
Man hatte uns nicht viel über das “Dichterduell“ gesagt, aber es war in den letzten zwei Tagen das Gesprächsthema Nummer eins gewesen. Gerade die Offiziere schienen einer intellektuellen Herausforderung überaus offen gegenüber zu stehen.
Das Licht im Saal erlosch und der Duellführer, ein Koch von einem der Zerstörer, die im Hafen vor Anker lagen, betrat die Bühne. Er begrüßte die Anwesenden, insbesondere die Offiziere sehr ausgiebig und erklärte dann die Regeln. Acht Poeten aus allen hier stationierten Teilen der Wehrmacht sollten in Duellen mit selbst verfassten Texten gegeneinander antreten. Der Applaus des Publikums sollte dann über Sieg, und das damit verbundene Weiterkommen, oder Niederlage, und somit eine Woche Latrinendienst entscheiden. Dem Sieger wurde eine Woche Heimaturlaub in Aussicht gestellt, den er baldmöglichst antreten könne.
Ich kannte keinen, der auftrat, wirklich gut. Die Meisten waren junge Emporkömmlinge aus der Offiziersriege, dazu drei aus der Truppe. Am meisten freute ich mich auf Heinrich Schneider, einen einäugigen Scharfschützen, der für sein aufbrausendes und rebellisches Wesen viel Sympathie in der Truppe und viel Schelte von den Offizieren genoss. Angeblich hatte er schon mehr als ein französisches Mädchen mit seiner Dichtkunst verführt.
Vom ersten Dichter bekam ich nicht viel mit. Er war neu an der Front und offenbar für jedes Bisschen des höflichen Applauses dankbar. Die nächsten beiden Teilnehmer waren zwei dieser Emporkömmlinge. Während der Erste eine fünfminütige Hasstirade gegen die Juden vom Stapel ließ und zu Recht ins Halbfinale einzog, zitierte der Andere ungeniert Walther von der Vogelweide und wurde von einem der SS-Offiziere mit einem barschen „Genug!“ von der Bühne verwiesen. Somit kam Oberst Möller automatisch ins Halbfinale, wo er gegen den anderen Schnösel antreten würde. Da der Gefreite Gerland wegen akuter Magenprobleme, vermutlich durch eine ungesunde Mischung aus Nervosität und Alkohol, ebenfalls ausfiel und somit mit Leutnant Storch ein weiterer Halbfinalist feststand, ruhten nun alle meine Hoffnungen auf Heinrich Schneider. Werner schien ähnlich zu denken wie ich, und ein flüchtiger Seitenblick auf Feldwebel “Schleif“ verriet mir, dass er ebenfalls Sympathien für Schneider zu hegen schien. Zunächst war aber dessen Kontrahent, Kapitän Hansen, an der Reihe. In seinem Gedicht stellte er die Überlegenheit der Kriegsmarine, insbesondere der deutschen U-Boote, gegenüber den Tommys heraus und bekam dafür besonders von seinen Matrosen starken Beifall.
Schneider schien von diesem starken Auftritt unbeeindruckt zu sein, und gab ein Gedicht über die Schönheit des Reiches und insbesondere seiner Dichter und Denker zum Besten. Ich bin mir ziemlich sicher, dieses Gedicht schon einmal im Propagandafunk gehört zu haben. Offensichtlich ging es vielen der hier Anwesenden auch so, denn der Applaus, der gefühlt mehrere Minuten dauerte, war schier ohrenbetäubend.
„Ein guter Mann.“ sagte “Schleif“ mehr zu sich selbst,“Ungeschliffen, aber effektiv.“ „In der Tat.“ wagte ich zu antworten. Im Augenwinkel sah ich sein gruseliges Lächeln, das er sonst nur in einsamen Momenten abseits der Truppe aufsetzte. Nachdenklich, beinahe herzlich. Ich unterdrückte ein Schütteln.
Im Halbfinale zeigte die Autorität des Oberst ihre Wirkung. Sein Gegner kam nur auf die Bühne, um aufzugeben. Auch Schneiders Gegner, Leutnant Storch, gab auf. Er sagte nur, er habe einfach keine Chance gegen den Publikumsliebling.
Nun konnte man die Spannung im Saal spüren. Jedes Wort hätte unerwartete Folgen haben können, die Stühle waren zu Pulverfässern geworden.
Schneider und Möller betraten die Bühne. Ich überhörte das „Oh bitte... gib dein Bestes!“ zu meiner Rechten und wartete gebannt darauf, zu erfahren, was Möller so selbstgefällig grinsen ließ.
Die Reihenfolge der Finalisten sollte per Münzwurf entschieden werden. Da weder der Koch, noch einer der Finalisten eine solche dabei hatte, wurde die entsprechende Frage ans Publikum gerichtet.
Mein Freund Werner erhob sich und hielt eine goldene Münze mir unbekannter Herkunft in die Höhe. Er wurde vom Koch auf die Bühne gerufen und hielt, während er nach vorne ging, die Münze weiter in der linken Hand. Die Rechte war nach wie vor in seiner rechten Manteltasche verborgen. Erst jetzt fiel mir auf, dass er seinen Mantel, trotz der hitzigen Atmosphäre, während der ganzen Zeit anbehalten hatte.
Auf der Bühne angekommen, trat er genau vor Heinrich Schneider und blickte ihm direkt ins Auge. Schneiders Blick war gefasst, fast heiter. Werner hingegen schaute sein Gegenüber mit einem Blick an, der Abscheu, beinahe Hass ausdrückte. Dieser Blick veränderte sich auch nicht, als er eine kurzläufige Pistole aus seiner Manteltasche zog, sie Schneider in den Bauch presste und abdrückte. „Dämliche Schwuchtel!“ tönte es aus den Bühnenlautsprechern.
All dies geschah in Bruchteilen einer Sekunde. Dennoch konnte ich jedes Detail deutlich erkennen. Alle schienen wie erstarrt zu sein. Nur Feldwebel Stein erfasste die Situation blitzartig und wollte aufspringen, wurde aber von einer Hand, die in einem schwarzen Lederhandschuh steckte, davon abgehalten.
Ungläubig folgte sein Blick dem Arm, der von dem Handschuh ausging, bis er mir direkt in die Augen sah. „Befehl ist Befehl.“ waren die letzten Worte, die Feldwebel Hans “Schleif“ Stein hören sollte.