Endlos Schmach

Innerer Monolog zum Thema Weltgeschehen

von  fritz

Es hat gewittert. Inzwischen ist die Autobahn wieder zu hören. Die Wohnblocks gegenüber sind jetzt, da das erste Laub gefallen ist, immer deutlicher zu sehen. Die Schatten der Bäume kreuzen einander wie Scheinwerferstrahlen. Jetzt denkt man, dass dieser Septemberabend schon zu kalt sein dürfte für die Hasen, die hier sonst auf der Wiese sitzen. Schon sieht man einen ins schwache Laternenlicht hoppeln. Ein Radfahrer biegt ein und der Hase rennt weg. Hier drinnen ist von alldem nichts, nur leise ist die Autobahn durch die angekippte Balkontür zu hören. Das Bildschirmlicht blendet und der Laptop surrt altersschwach.
Auch an diesem Sonntag wird viel geschrieben. Kreuze wurden gemacht und es wird viel diskutiert darüber, warum wer welches Kreuz gemacht hat. Und über die Konsequenzen der Zahlen wird debattiert. Es wird darüber gesprochen, dass es historische Ergebnisse sind und es wird sich gefragt, was als nächstes passiert. Auf der Autobahn passiert immer dasselbe. Manchmal ist das Selbe ganz einfach, geradezu banal. Manchmal ist es schrecklich, von außen sieht man das den Lastwagen nicht an. Es könnte ein Schlepper sein, wie er im Film zu sehen war. Anders als der Film, der ein Ende hat, fährt der Lastwagen auf der Autobahn weiter. Und wenn er entladen hat, wird er umkehren und er wird wiederkommen. Auch ein solcher Film wird wiederkommen, aber er wird wie jeder Film ein Ende haben und vielleicht folgt diesem dann wieder eine Nachrichtensendung, in der über die Konsequenzen von Zahlen gesprochen wird. Weder die Wahlurnen, noch die Fernsehapparate noch das seltsame Gefühl könnten Gegenstand einer Anklage sein. Weder dem Regisseur noch der Autobahn lässt sich etwas anhängen. Nach dem Gewitter hat auch niemand gefragt. Ob der Hase ein zufriedenes Leben führt oder täglich geplagt ist von Überlebensängsten, dafür interessiert sich keiner. Und an den Bushaltestellen sind Vogelaufkleber, damit die Tauben fernbleiben.
Zwischen den Buchrücken zur Rechten schlafen Buchstaben – oder ist es vielleicht so, dass sie gar nicht da sind, sondern immer nur beim Aufschlagen der Bücher erscheinen? Und die Kreuze auf den Wahlzetteln – sind sie nur da, wenn man die Zettel auffaltet und nachsieht? Und die Graphen auf den Börsentafeln?
Von oben sind Schritte zu hören, so wie immer, weil dieses Haus dünne Böden hat. Man hört den Wasserkocher und die Toilettenspülung. Man hört Gespräche, Gelächter, Streit. Vielleicht sehen sie den selben Film, dann würde man es nicht hören. Die Grillen zirpen ihr Konzert, so ganz selbstverständlich und niemand muss Eintritt bezahlen. Der Hase nicht, der Radfahrer nicht. Ich höre sie draußen und auch drinnen, wenn die Balkontür angekippt ist. Das ist sie fast immer, solange es draußen noch warm ist. Wenn Schnee liegt, hört sich alles anders an. Die Autobahn und der Wind. Man hört ihn dann besser, weil die Grillen nicht mehr singen. Wenn man dann die Hasen sieht, so fragt man sich, ob sie nicht frieren. Und wenn man an die Lastwagen denkt, an die, in denen Menschen sind, so fragt man sich, ob sie nicht frieren. Und es ist fast schon ein bisschen albern, dass man sich das fragt, so als hätten sie kein größeres Leid zu beklagen. Aber der Schnee verschwindet nicht, nur weil es solche Lastwagen gibt. Die Schlepper tragen dann vielleicht schwarze Mäntel oder dicke Jacken. Wenn sie rauchen, so sieht das im Winter aus wie im Film. Und wenn es sehr kalt ist, dann müssen sie dafür gar nicht rauchen. Die Schritte von oben klingen im Sommer wie im Winter, nur dass sie dann noch häufiger sind. Man ist öfter drinnen, und sie auch. Es laufen dann vielleicht auch mehr Filme und wenn man durch die Straßen zieht, bleibt man nicht einfach so stehen, um die Wolken zu betrachten oder das Lichtspiel der Sonne im Glas der Eisbecher. Man geht dann eher seines Weges, schnell und zielbewusst. Das Ziel ist dann ganz einfach die Wärme und die ist bekanntlich drinnen. Alles schließt sich mehr ein so wie man seinen Körper in einen langen Mantel hüllt oder in eine dicke Jacke. Es gibt dann Schuhe mit einem weichen und wärmenden Pelzrand, in denen man sich fühlt, als würde man nach einem langen Winterspaziergang eine Teestube betreten. Und wenn man dann drinnen ist, stört einzig die beschlagene Brille. In den Lastwagen ist es viel zu dunkel, um den Beschlag der Brille zu sehen. Und es ist wahrscheinlich auch zu kalt, sodass sie gar nicht beschlägt. Die Griffe der großen Flügeltüren sind eisig und überall riecht es nach Tankstelle. Es wird kurz Rast gemacht und die Menschen, die im Lastwagen sitzen, bekommen in Plastik eingepackte Sandwiches zugeworfen. Ihre Finger zittern und so reißen sie die Verpackungen mit den Zähnen auf. Ihre Münder sind ausgetrocknet vor Kälte und weil sie den ganzen Tag nichts getrunken haben. Während man in der Teestube sitzt und sein Urlaubsgeld ausgibt, weil man im Urlaub nicht aufs Geld guckt, sitzen sie zusammengekauert im Lastwagen. Sie wissen einzig, dass sie sich auf einer großen Straße befinden. Und vielleicht wissen sie, vielleicht ahnen sie, was ihnen bevorsteht. Wenn es in der Teestube einen Fernseher gibt, so imitiert er vielleicht das fehlende Kaminfeuer. Man hat sein Smartphone zu Hause gelassen. Oder man hat es dabei und liest die Kurznachrichten. Ein Satz über Schreckliches in der Teestube ist wie ein Stück Haut am Fingernagel, das man sich langsam abzieht. Die Buchstaben auf dem kleinen Bildschirm bewegen sich wie Autos auf einer großen Straße. Anders als der Film nehmen sie kein Ende. Und doch ist ihre Endlosigkeit eine Schmach. Ihr Mantra ist gut gemeint, aber es tut doch weh wie ein Stück abgezogene Haut am Fingernagel. Die Endlosigkeit der Buchstaben wird zum digitalen Herzschlag, der taktiert, ohne dass man es bemerkt. Das Leben spielt auf den Autobahnen. Dort schreit es, dort schweigt es.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (06.09.16)
Der Duden läßt ja sehr viele alternative Schreibweisen zu, aber "das Selbe" gehört ganz sicher nicht dazu.

Ansonsten finde ich "Endlos Schmach" (Titel ist eher naja, oder?) handwerklich okay, aber inhaltlich etwas fahrig. Das mit den Flüchtlingen wirkt irgendwie aufgesetzt. Vielleicht auch zu viele doch sehr bemüht wirkende Metaphern?

 fritz meinte dazu am 06.09.16:
Ich weiß und habe mir trotzdem erlaubt, die Form ’das Selbe’ zu verwenden, um es ein wenig zu personifizieren, was mir in dem Kontext durchaus sinnvoll erscheint.

Zugegeben, mit dem Titel bin ich auch noch nicht zufrieden, vielleicht eher ein Arbeitstitel. Normalerweise habe ich kein Problem damit, Texte unbetitelt zu lassen, aber in dem Fall irgendwie schon.

Der Text war inspiriert von einem Film über Menschenhandel, was ja thematisch nicht ganz bzw. nicht zwinge deckungsgleich mit dem Thema "Flüchtlinge" ist. Eine weitere Inspiration war die bei mir zu Hause tatsächlich hörbare Autobahn; beides hat sich gut verbinden lassen. Umso ärgerlicher natürlich für mich, wenn es aufgesetzt wirkt.
Welche Metaphern wirken auf Dich bemüht?
Overwolf (37) antwortete darauf am 06.09.16:
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 fritz schrieb daraufhin am 06.09.16:
Vielen Dank, Overwolf!
Das häufige ’man’ ist natürlich Absicht (und glaub mir, so zu schreiben ist sicher ähnlich anstrengend wie so etwas zu lesen). Es soll genau die Distanz des prosaischen Ich zum Geschehen, zur Problematik zum Ausdruck bringen, und wenn es befremdet, umso besser! Egal, wie sehr sich das prosaische Ich in die Problematik einzufühlen versucht, sie bleibt ’weit weg’, sie rauscht im bzw. vom fernen Autobahnverkehr durch die angekippte Balkontür herein. Es will sich also nicht distanzieren, sondern es kann die (faktische) Distanziertheit nicht überwinden, faktisch nicht und sprachlich nicht.

In "Spätsommertag" kommt ’man’ zwei Mal vor, das ist in Ordnung, find ich. (-:

Liebe Grüße,
fritz
Overwolf (37) äußerte darauf am 07.09.16:
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 Dieter_Rotmund (07.09.16)
Man merkt, dass Du die Autobahn aus eigenen Erleben kennst, die Flüchtlingsgeschichte aber nur aus zweiter Hand. Das mit der Autobahn wirkt spannend und so gar nicht aufgesetzt. Also irgendwie Flüchtlinge raus und Autobahn drin lassen und vielleicht ein oder zwei Protagonisten? Oder ganz was Neues schreiben?

P.S.: Overwolf hat Recht: zu viele "mans".
heilerfeld (33) ergänzte dazu am 07.09.16:
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