Kunst

Gedankengedicht

von  juttavon

das Fremde sind wir
staunen an unseren Rändern

unsere Nacht hat ihr Recht
tastet nach Tod und Schönheit

weckt den Traum
den wir in die Wüste schickten

lichte Momente erklingen
durch die Nacht des Anderen

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Kommentare zu diesem Text


 Habakuk (12.07.19)
Gefällt mir, liebe Jutta. Ich werde mich aber noch eingehender mit dem Gedicht beschäftigen.

HG
H.

 Artname (12.07.19)
das Fremde sind wir
staunen an unseren Rändern... *
* wir entdecken uns (z.B. infolge der anspruchsvollen Hürden der Kunst!?) kreierend oder nur wahrnehmend staunend als Fremde?!

unsere Nacht hat ihr Recht
tastet nach Tod und Schönheit

weckt den Traum
den wir in die Wüste schickten

lichte Momente erklingen
durch die Nacht des Anderen **

** sehr schöner Gedanke, egal ob ich Ratlosigkeit oder etwa Liebe für "Nacht" einsetze.

lg

 juttavon meinte dazu am 14.07.19:
Vielen Dank für Deinen treffenden Kommentar.
HG Jutta

 Habakuk (13.07.19)
Liebe Jutta, ich reiche noch einige Gedanken zu deinem schönen Gedicht nach. Sprachliche Besonderheiten spare ich mal aus, da sie sich eh wiederholen. Aber sehr melodisch, dein Gedicht.

„das Fremde sind wir / staunen an unseren Rändern“

„Tat twam Asi – das bist du!“ stammt aus dem vedantischen Hinduismus.
„Du bist das“- was durch dich wahrgenommen wird. Du bist all das. Das alles ist deine wahre Natur. Du bist die Gesamtheit deiner Erfahrungen. Du bist nichts anderes als das, was gerade ist. Das Absolute ist identisch mit Dir und dem was durch Dich erfahren und erkannt wird. Das bist Du. Tat twam Asi.
“Wenn die eine innere Substanz aller Dinge im eigenen Innern erkannt ist, dann werden die verschiedenen Masken, die sie annimmt, transparent. Jedes Verstehen, jede Sympathie und jede Liebe beruht auf der wesenhaften Identität des Erkenners und des Erkannten. Hass entsteht nur aus der Illusion der Verschiedenheit.“

„unsere Nacht hat ihr Recht / tastet nach Tod und Schönheit / weckt den Traum / den wir in die Wüste schickten / lichte Momente erklingen / durch die Nacht des Anderen“

Ohne jetzt an dieser Stelle jedes einzelne Bild deines Gedichts zu interpretieren, einige Anmerkungen, die den Zusammenhang mit deinen Versen deutlich machen sollen und hoffentlich erkennbar sind.

Um mit Oscar Wilde zu sprechen: „Ein wirklicher Künstler glaubt an sich, weil er ganz und gar er selbst ist. Die Musik schafft uns eine Vergangenheit, von der wir nichts wussten und erfüllt uns mit dem Gefühl von Leiden, die unseren Tränen verborgen geblieben waren. Wir erkranken an den gleichen Leiden wie die Dichter, und der Sänger leiht uns seinen Schmerz“.

Ein Maler, den Namen habe ich nicht sicher parat, ich glaube Ismet Polatli, sagte einmal: „Aus der Dunkelheit entsteht das Licht. Ich kann schreien und diese Schreie mit Farbe bedecken! Ein Gedanke, der m. E. auf jegliche Kunst, die diesen Namen verdient, zutrifft.

Und zum Schluss noch ein kurzer Auszug aus Borcherts großartigem Text „Das ist unser Manifest“, welches er 26-jährig schrieb, im gleichen Jahr, in dem er viel zu jung verstarb. Für mich immer noch maßgebend, was Kunst im Allgemeinen und Literatur/Lyrik im Besonderen anbelangt.

„Wer schreibt für uns eine neue Harmonielehre? Wir brauchen keine wohltemperierten Klaviere mehr. Wir selbst sind zu viel Dissonanz. Wer macht für uns ein lilanes Geschrei? Eine lilane Erlösung? Wir brauchen keine Stilleben mehr. Unser Leben ist laut.
Wir brauchen keine Dichter mit guter Grammatik. Zu guter Grammatik fehlt uns Geduld. Wir brauchen die mit dem heißen heiser geschluchzten Gefühl. Die zu Baum Baum und zu Weib Weib sagen und ja sagen und nein sagen: laut und deutlich und dreifach und ohne Konjunktiv.
Für Semikolons haben wir keine Zeit und Harmonien machen uns weich und die Stilleben überwältigen uns: Denn lila sind nachts unsere Himmel. Und das Lila gibt keine Zeit für Grammatik, das Lila ist schrill und ununterbrochen und toll. Über den Schornsteinen, über den Dächern: die Welt: lila. Über unseren hingeworfenen Leibern die schattigen Mulden: die blaubeschneiten Augenhöhlen der Toten im Eissturm, die violettwütigen Schlünde der kalten Kanonen - und die lilane Haut unserer Mädchen am Hals und etwas unter der Brust. Lila ist nachts das Gestöhn der Verhungernden und das Gestammel der Küssenden. Und die Stadt steht so lila am nächtlich lilanen Strom.
Und die Nacht ist voll Tod: Unsere Nacht. Denn unser Schlaf ist voll Schlacht. Unsere Nacht ist im Traumtod voller Gefechtslärm. Und die nachts bei uns bleiben, die lilanen Mädchen, die wissen das und morgens sind sie noch blass von der Not unserer Nacht. Und unser Morgen ist voller Alleinsein. Und unser Alleinsein ist dann morgens wie Glas. Zerbrechlich und kühl. Und ganz klar. Es ist das Alleinsein des Mannes. Denn wir haben unsere Mütter bei den wütenden Kanonen verloren. Nur unsere Katzen und Kühe und die Läuse und die Regenwürmer, die ertragen das große eisige Alleinsein. Vielleicht sind sie nicht so nebeneinander wie wir. Vielleicht sind sie mehr mit der Welt. Mit dieser maßlosen Welt. In der unser Herz fast erfriert.

Dann versuche zu sein über deinen lilanen Abgründen. Denn der Morgen, der hinter den Grasdeichen und Teerdächern aufsteht, kommt nur aus dir selbst. Und hinter allem? Hinter allem, was du Gott, Strom und Stern, Nacht, Spiegel oder Kosmos und Hilde oder Evelyn nennst - hinter allem stehst immer du selbst. Eisig einsam. Erbärmlich. Groß. Dein Gelächter. Deine Not. Deine Frage. Deine Antwort. Hinter allem, uniformiert, nackt oder sonst wie kostümiert, schattenhaft verschwankt, in fremder fast scheuer ungeahnt grandioser Dimension: Du selbst. Deine Liebe. Deine Angst. Deine Hoffnung“.

Ein wenig lang geworden, aber Du kennst das ja. Meine ausufernden Interpretations-Fantasien.

HG
H.

 juttavon antwortete darauf am 14.07.19:
Danke, lieber H., für Deine über die Ufer schweifenden Gedanken - so kann ein Text fruchtbar werden, wie das überschwemmte Land...

Sehr schön und tief menschlich das Bild von Wilde:
"der Sänger leiht uns seinen Schmerz“!

Der Text von Borchert ist mir aus meinen Studienjahren noch bekannt, - wie gut, ihn wieder zu lesen!
"Hinter allem, uniformiert, nackt oder sonst wie kostümiert, schattenhaft verschwankt, in fremder fast scheuer ungeahnt grandioser Dimension: Du selbst." - das führt in der Gedankenspirale zu den Upanishaden: „Tat twam Asi – das bist du.“
(Schopenhauer hat sich übrigens geistig auch aus diesen Schriften genährt.)

In diesem weiten Horizont ist mein Gedicht gut aufgehoben.
HG Jutta
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