Glittering
Glittering and digesting
Voicelessness. The snow has no voice.
(Sylvia Plath; The Munich Mannequins)
Es nieselt. Oder schneit. Oder der Himmel zerreißt wie ein Papiertaschentuch und lässt kleine weiße Flitter im Gelb der Straßenlaternen umherschwirren.
Svenja hat ihre Handschuhe zuhause liegen lassen. Wo nur? Ach ja, auf der Heizung. Weil sie dieses Gefühl so liebt. Angewärmte Handschuhe, angewärmte Socken und so gerüstet durch den Schneesturm. Oder den Sturm, der das Leben heißt. Denn ist es das nicht? Ein Sturm - vor dem man sich verstecken sollte, der einen in den Wahnsinn treibt, der Svenja nur nachts auf die Straße gehen und das Spiel der Flocken im Licht, den zerreißenden Himmel betrachten lässt.
Aus den Bars kommen Stimmen, dröhnt Musik und Männer, die kurz zuvor vielleicht noch in ihren Büros saßen, Anzug und Krawatte, bewerfen sich nun gegenseitig mit Schneebällen. Es fahren kaum Autos, hier, zu dieser Zeit und verzaubert von dem, was sie sieht, lässt sie sich auf die Straße treiben, ihre Augen entfernt und doch - ganz hier – ein Leuchten inmitten vom Weiß. Wie sie. Sie leuchtet doch. Glühwürmchen, hat ihre Großmutter gesagt, geh` in den Keller und hol´ Holz für den Ofen. Und in den Keller ist sie gerne gegangen. Da hat es so gut gerochen, nach Kälte und Kartoffeln und einem Holz, wie man es aus dem Wald kennt, kurz nach dem Regen. Wenn man mit Matsch an den Turnschuhen durch die Tannen und Sträucher stapft und Zweige sammelt. Reisig. Und ihn dann trocknen lässt, im Keller der Großmutter.
Heute hat sie sich die Nägel, ein Blickfang im kalten Weiß, rot lackiert. Sie trägt ihren beigen Wollmantel und die hellbraunen Stiefel. Die mit dem kleinen Absatz. Schönheit, Svenja, ist unverkäuflich, auch das hat die Großmutter gesagt, und dabei auf die weiten Weizenfelder gedeutet, mit einer Handbewegung, die über sie hinwegstrich / An sanften Abenden, als sie auf ihrer Bank am Hügel saßen, in ihrem Dorf, das nur noch aus rosafarbenen Rosen bestand, deren Blätter nun durch Wolken und Himmel wirbelten.
Ja. Svenja ist schön mit ihren dunklen Augen, dem schwarzen Haar, das ihr weich über die Schultern fällt. Sie zündet sich eine Zigarette an, auch Rauchen ist schön, besonders bei Frauen, besonders wenn sich die Frostschwaden mit den Rauchschwaden vermengen und es Nacht ist.
Sie denkt an den nahen Frühling. Jeden Tag könnte es soweit sein, könnte er hervorbrechen mit all seiner Kraft. Die Mengen auf die Straßen treiben. Die Vögel wieder singen lassen wie das Lachen, das aus Mündern feiernder, verliebter, glücklicher junger Menschen dringt. Und Svenja wird zerreißen. Wie dieser winterliche Himmel. Zerfallen zu schneeweißen Flocken, die die Sonne nicht liebt.
Einmal hat auch sie ihn gekannt. Das Grün auf den Blättern. Das Bächlein, das sich durchs Gebirge windet. Über dessen Steine sie gehüpft ist, wenn sie von Ufer zu Ufer sprang. Oft lag sie inmitten einsamer Wiesen und lauschte dem Gesang der Vögel, den sie damals noch verstand. Und zart und leicht berührte die Sonne ihre Haut, während sie golden und rund durch die Baumkronen schien.
Aber schon lange ist sie über keinen Bach mehr gesprungen. Ihr Ufer ist die Nacht, ihre kleine Wohnung und der Winter, an den sie sich klammert, als würde sie das Leben verlieren, wenn er geht.
Svenja mag die Kälte. Den Reif, der auf dem Gras lag, das sie auf ihrem Schulweg am frühen Morgen überquert hat. In einer anderen Zeit. Als sie sich noch frühmorgens aus dem Bett quälen musste. Diese frühe Dunkelheit, heute kennt sie nur noch späte Dunkelheiten, bleibt ganze Nächte wach. Bleibt eigentlich jede Nacht wach.
Sie geht weiter die Straße hinauf, überquert die einspurigen Straßen, die sich wie ein enger Gürtel um die Stadt schnüren, wechselt so den Bezirk, geht weiter hinauf und setzt sich in irgendein McDonalds. Sie hat Hunger, hat heute noch nichts gegessen.
Die Wand neben ihr ist aus Glas. Es ist schön, Neuschnee zu betrachten, der weich vor einer Glaswand fällt - besonders wenn es Nacht ist. Sie lächelt.
Die Menschen gehen ein und aus. Manche sind alleine, manche in Grüppchen, manche zu zweit. Die Stimmung ist gut, es ist spät und die Gegend weder allzu belebt, noch leer. Wahrscheinlich freuen sich alle in dieser klaren Winternacht draußen zu sein, und über den Schnee. Der die Erde bedeckt. Die Ängste bedeckt. Den Tag bedeckt und zum Schlafen gebracht hat. Mit einem langen weißen Kuss, der meinte, nun ist es gut. Du hast genug gehetzt. Genug geschienen. Genug gemacht. der ihn küsste.
Aber Svenja hat heute überhaupt nichts gemacht. Sie steht auf und geht durch die Tür hinaus ins Freie. Svenja hat überhaupt schon lange nichts mehr gemacht. Nicht mehr gehetzt. nicht mehr geschienen? Sie leuchtet doch. Svenja, das Glühwürmchen. Das flackernde Glühwürmchen: MASCHINE KAPUTT!
Der Schein einer Straßenlaterne fällt vor ihre Nase, auf den Schnee der stadthellen Winternacht. Und sie geht weiter die Straße hinauf, weiter weg. Immer weiter.
Sie möchte in einem weißen weichen warmen Pullover verschwinden – sofort und für immer – sich unter den Himmel legen und einschneien lassen. Erfrieren. Stillstehen wie der Zeiger einer Uhr, die nicht mehr läuft. Sie möchte nicht mehr sprechen, nicht mehr lügen. Die Menschen machen den Mund auf und schon sind sie da, die Lügen.
Das denkt Svenja, an diesen Frost, der sich bis in ihr Inneres ausbreitet, sie schon erfrieren hat lassen.
Unter ihren Stiefeln knirscht der Schnee. Wenn sie Rauleder trägt und es schneit und sie einen beigen Wollmantel um sich hat, dann ist sie nicht Svenja, die Lüge. Dann ist sie eine Russin und es ist früher und alles ist gut. Rau, ungehobelt und echt. Sie nimmt ein Zündholz aus der Schachtel, raucht noch eine Zigarette an und Svenja, die Russin stapft weiter durch den Schnee von Sibirien, Moskau oder Petersburg. Hinter ihre heulen die Wölfe. Sie schaut sich um und sieht einen Krankenwagen mit Blaulicht, der sich langsam durch das Schneegestöber schiebt.
Die Nachtluft ist klar und gereinigt. Schnee hat keinen Geruch und ist doch nicht geruchlos. Svenja saugt Schneeluft ein.
Heute ist sie Schnee – heute möchte ich Schnee sein, hat sie gedacht, bevor sie sprang, als sie in ihrer warmen Wohnung auf dem Fenstersims stand – in einer Stadt, die sie nicht lieben konnte. Genauso wenig wie die Sonne den Schnee lieben kann.
Bevor sie hierher kam, war sie wahr. Eine wahre Svenja. Ihr Körper war aus Erde: weich, beweglich und fest. Sie atmete Erde und sprach Erde. Sie bewegte sich langsam und gütig. Durch ihre Adern floss der Waldboden und kurz nach dem Regen sammelte sie Reisig, um ihn im Keller der Großmutter trocknen zu lassen.
Sie hält ein brennendes Streichholz, ein Schwefelholz, ein winzig kleines Feuer in der Hand und zündet sich noch eine Zigarette an.
Da sieht sie sie. Ein kleines Mädchen steht unter einem Rundbogen und schaut Svenja mit großen Augen an. Der Schnee hat das Haar, den Mantel und die Wimpern der Kleinen mit schimmernd weißen Flocken behangen. Ihre Wangen sind gerötet – so rosig gesund wie die der Kinder vom Lande und aus dem Märchen. Sie leuchtet. Sie ist ein Glühwürmchen.
Svenja stehen Tränen in den Augen. Die Kälte lässt sie gleich gefrieren, sodass eine dünne Schicht Eis über ihren Pupillen liegt. Traurigkeit
kommt und geht wie ein stilles Tier, das auf samtenen Pfoten seine Spuren auf Schnee setzt. Jeder Schritt drückt und schmerzt, als sei es der erste. Der Schnee schmilzt, Frühling kommt und man glaubt, endlich wäre sie vertrieben. Der Schnee fällt und wieder und wieder und wieder drückt und schmerzt jeder Schritt so als sei er der erste.
Dann folgt sie dem Mädchen.
und plötzlich wird es ganz weit um sie. ausgespannte weiße Weite. vom Himmel hängen farblose Fetzen, der Himmel zerreißt. er häutet sich. Svenja öffnet den Mund - kein Schrei, kein Laut.
Der Schnee ist lautlos.