Wunderlich (32, Biologie und Chemie) keuchte die Treppe zum zweiten Stock hoch.
Die Schüler hatten Wachen aufgestellt. Als der Knabe vor der 9b Wunderlichs markanten Kopf mit der großen Nase die Treppe hochschaukeln sah, lief er in die Klasse zurück, rief: „Er kommt!“ und schloss die Tür.
Wunderlich betrat den Klassenraum und staunte. Dreiunddreißig Schülerinnen und Schüler saßen angestrengt artig auf ihre Plätzen und sahen ihm erwartungsvoll entgegen. Sein Gruß wurde fast einstimmig beantwortet. Doch er gab sich keinen Illusionen hin. Ihm war sofort klar, dass etwas in der Luft lag. Irgendetwas hatte diese Rasselbande ausgeheckt. Zeit genug war ja gewesen: Die Uhr über der Tür zeigte bereits zwölf nach zehn, regulärer Unterrichtsbeginn wäre um fünf vor gewesen.
Schreyvogel hatte wieder einmal kein Ende gefunden.
Wunderlich setzte sich und blickte in die Runde. Er sah in vom Herumtollen erhitzte Gesichter, die ihn zum Teil lüstern grinsend oder auch verhalten mitleidig anstarrten. Die Atmosphäre war aufgeladen; für einen kurzen Moment vermeinte er Stallgeruch zu verspüren. Durch die Wand hörte er das Gepolter der Nachbarklasse; Frau Hübner ließ sich wieder einmal Zeit.
Der Pädagoge ergriff das Klassenbuch, um den verspäteten Unterrichtsbeginn zu notieren. Von einer der hinteren Bankreihen erklang unterdrücktes Glucksen. Sofort begriff er: Die Gefahr lauerte diesmal im Klassenbuch. Er schlug das Buch auf und erblickte ein lappiges, ausgeleiertes Präservativ.
Man hörte deutlich das Ticken der Uhr über der Tür, so mucksmäuschenstill war es (auch nebenan war mittlerweile Ruhe eingekehrt). Die Klasse war aufs Höchste gespannt.
Wunderlich dachte: Es kommt jetzt alles darauf an, die richtigen Worte zu finden. Ein kleiner Mann will Schlachten gewinnen, ein großer den Krieg, also gewinnen wir den Krieg!
Natürlich wusste er sofort, woher der Wind wehte.
Er blickte die beiden Schülerinnen in der Bank vor ihm an, die ihn anstarrten als wollten sie ihn auffressen. Was er sah, erfüllte ihn nicht mit Zuversicht. Über Carmens rundem Gesicht erglänzte der Haarschopf teils in Schwarz, teils in blau-violett-grünen Farbtönen. Die Wimpern waren dunkel übertuscht, in den Ohrläppchen und in der Unterlippe klemmten Piercings. Ihre pralle Bluse schillerte schwarz-seiden, unter der Bank schauten blanke schwarze Stiefeletten hervor. Am Ringfinger ihrer rechten Hand, die gerade ihr Maskottchen tätschelte, steckte ein dicker Siegelring mit Totenkopffratze. Das andere Mädchen mit dem Gesicht eines Trompetenengels und mit violetten Lidschatten hatte sich etwas weniger auffällig herausstaffiert, aber für Wunderlichs Geschmack immer noch auffällig genug.
Es war nicht ihr erster Versuch, diesen Lehrer in eine peinliche Situation zu bringen. Sie hielten diesen Neuling, der keinen Ring trug, für einen verklemmten Junggesellen, dessen Widerstandsfähigkeit geprüft werden sollte.
Wunderlich überlegte blitzschnell. Es gab für ihn jetzt mehrere Möglichkeiten: Er konnte eine ärgerliche, eine belehrende, eine schlagfertige oder gar keine Bemerkung machen. Er entschied sich für die schlagfertige Variante.
„Das nächste Mal erbitte ich mir unbenutzte Ware! Und jetzt ist Schluss mit lustig! Aus und over!“
Es erklang heiteres, unbeschwertes Gelächter. Einige Schülerinnen klatschten sogar. Wunderlich nahm es nicht ohne innere Genugtuung zur Kenntnis. Diese Schüler konnten alles Mögliche sein: Faul, unhöflich, durchtrieben, unpünktlich, manchmal sogar bösartig. Nur eines waren sie nicht: Dämlich. Jeder wusste eine gute geistreiche Antwort zu schätzen.
Diese Runde war also an ihn gegangen. Aber er wusste auch: So schnell würden die beiden Mädels vor ihm nicht aufgeben! An ihren Blicken sah er: Sie sannen auf Rache. Schon steckten sie die Köpfe zusammen und tuschelten.
In der Klasse nebenan ging es wieder hoch her. Lautes Stimmengewirr durchdröhnte die verschwitzte Luft. Anscheinend sausten Federtaschen durch die Luft. Etwas krachte mit dumpfen Knall gegen die dünne Wand und brachte sie zum Erzittern.
Wunderlich ging durch die Bankreihen und überprüfte die Hausaufgaben. Ein Arbeitsblatt mit Lage und Funktion der innersekretorischen Drüsen sollte angemalt und beschriftet werden.
Eine Schülerin stöhnte: „Herr Wunderlich, mir ist so warm!“, eine andere fragte: „Herr Wunderlich, darf ich etwas trinken?“ Ein Schüler wollte wissen, ob er etwas essen dürfe.
Auf solche und ähnliche Störmanöver hatte Wunderlich verschiedene Standartantworten parat. Der einen Schülerin empfahl er: „Dann sitz gefälligst still, denn jede Bewegung erzeugt Reibungswärme“, der anderen donnerte er ein klares „Nein!“ entgegen. Den Schüler beschied er folgendermaßen: „Der Apostel Paulus sagt: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Außerdem ist dazu die Pause da.“
Jetzt beugte er sich über Carmens Platz, um ihr Blatt abzuzeichnen. Auch Carmen beugte sich vor und betrachtete scheinbar interessiert des Lehrers Schreibhand. Dabei bot sie ihm großzügig den Ausschnitt ihrer knapp bemessenen Bluse dar. Ihre Nachbarin, ebenfalls körperlich schon erstaunlich gut dabei, assistierte mit betörenden Blicken und ebenfalls tiefen Einsichten. Sie kniete auf dem Stuhl, ihre knappen Jeans gaben den halben Hintern frei.
Nachdem Wunderlich alle Bankreihen passiert hatte, setzte er sich und nahm sein kleines rotes Notizbuch zur Hand, das die Kreis & Volksbank alljährlich der Lehrerschaft spendierte (die Schüler nannte es abfällig 'Genickschussbuch'). Dort hinein notierte er die Namen derer, die das Blatt nicht oder nur unvollständig ausgefüllt hatten. Dies geschah nicht nur, weil es zu seinen Dienstpflichten gehörte, sondern auch als Demonstration seines blendenden Gedächtnisses. Als er alle Namen der sechzehn Sünder genannt und eingetragen hatte, herrschte für eine Weile bewunderndes Schweigen.
Der Lehrer trat zur Tafel und schrieb das Thema der folgenden Gruppenarbeit an. Es lautete: Dein Bruder gesteht dir, dass er homosexuell ist. Wie würdest du dich verhalten? Zeit: Zwanzig Minuten. Er sagte: „Die interessantesten Arbeiten wollen wir anschließend diskutieren. Die Auswahl nehmt ihr vor.“
Zunächst entbrannte eine Diskussion darüber, wer am Tisch den Thinktank bilden und wer schreiben sollte. Wunderlich, der die Meinung vertrat, der beste Unterricht sei der, wenn der Lehrer Zeitung lese und die Klasse trotzdem arbeite, las zwar nicht Zeitung, aber er nahm eine Klausurenmappe hervor und versuchte zu korrigieren. Er war noch nicht weit gekommen, da sagte Carmen: „Herr Wunderlich, darf ich Sie etwas fragen?“
„Ja natürlich.“
„Ist Samenschlucken eigentlich schädlich?“
Irgendwo wurde gekichert, jemand sagte: „Genau das wollte ich auch schon die ganze Zeit wissen!“ und wurde mit der Bemerkung zurechtgewiesen: „Und warum haste denn nich jefragt, du Eimer?“
Wunderlich klappte die Mappe wieder zu und beschloss, durch Sachlichkeit zu verblüffen. „Im Prinzip nicht, aber wie so häufig liegt der Teufel im Detail. Wenn der Samenspender körperlich gesund ist, hätte ich grundsätzlich keine Bedenken. Nehmen wir aber mal an, er ist mit HIV infiziert, und du hast Zahnfleischbluten. Was kann dann passieren?“
Schon während er die Frage stellte, wusste er, dass sie idiotisch war.
„Dann spuck ich´s eben wieder aus!“
Allgemeines Gelächter.
„Unsinn“, sagte Wunderlich, und belehrte: „Du kannst dich infizieren und an AIDS erkranken. Und das ist alles andere als lustig.“
Zunächst herrschte so etwas wie Arbeitsruhe, doch das nächste Überraschungsei war schon gelegt.
Holger, ein riesiger Klops, der normalerweise unbeweglich wie eine alt-ägyptische Kolossalfigur auf seinem Stuhl hockte, krähte: „Herr Wunderlich, meine Oma sagt, vom Wichsen wird man schwachsinnig.“
„Hahaha, was verstehst du denn davon, du Kloß!“, rief jemand.
„Arschloch!“, kam es zurück.
„Ruhe!“, brüllte Wunderlich, „bin ich hier in einer terroristischen Vereinigung oder in einer neunten Klasse eines deutschen Gymnasiums?“ Erste Schweißperlen standen auf seiner Stirn.
„Mann“, kam es von ganz hinten, „wo nehmen Sie diese Vergleiche her?“
„Wird man nun, oder wird man nicht?“, rief Holger.
Wunderlich überlegte. Sollte er darauf antworten oder auf der Gruppenarbeit bestehen? Er entschloss sich, zu antworten, denn schließlich war Sexualkunde.
„Bestell deiner Oma einen schönen Gruß von mir“, sagte er, „aber von diesen Dingen scheint sie keine Ahnung zu haben!“
Heiteres Händeklatschen. Der Punkt ging an den Lehrer. Aber der Rotz war noch nicht vom Ärmel.
„Mein Vater behauptet das auch!“, insistierte Kai. Seine verpickelte Stirn blühte. „Hat der auch keine Ahnung?“
Vorsicht an der Bahnsteigkante, dachte Wunderlich, jetzt wird´s brenzlich. Ein falsches Wort, und ich stehe im Dienstzimmer des Schulleiters und hole mir einen Einlauf ab.
Aber gibt es ein höheres pädagogisches Gut als die Wahrheit?
„Nun ja“, begann er spitzmündig, „früher dachte man so, ja. Aber mittlerweile ist man anderer Ansicht. Es gibt keinen medizinischen Befund, dass Selbstbefriedigung das Nervensystem angreift. Die organischen Vorgänge sind die gleichen wie beim Niesen. Differenzierte Bereiche des Ur-Magen-Darmtrakts kontrahieren und werfen Sekret aus.“
Atemlose Stille. Wunderlich wusste nicht recht, war´s sein Vortrag, der sie verblüffte, oder war´s die Ruhe vor neuem Sturm.
Da knallte eine Stimme in den Raum: „Mann, das isn Ding! Ich werd nich mehr! Meine Oma niest manchmal siebzehnmal hintereinander!“
Das Gelächter war nicht enden wollend.
„So“, sagte Wunderlich, als sich die Klasse halbwegs beruhigt hatte, „jetzt ist Schluss mit Lustig! Jetzt wird gearbeitet, und zwar ohne wenn und aber!“
„Machen wir, machen wir!“, tönte es von mehreren Seiten.
Eine Weile herrschte tatsächlich Ruhe, dann fragte Carmen: „Herr Wunderlich, sind sie verheiratet?“
„Ich sagte Ruhe.“
„Ach, nun seien Sie doch nicht so. Sagen Sie es, und dann sind wir auch ganz brav.“
Wunderlich harkte sich das dichte Kraushaar. Was kam denn nun schon wieder?
„Warum willst du das wissen?“
„Erst Sie, dann ich!“
„Na schön. Nein, ich bin noch nicht verheiratet, aber bald.“
„Darf ich Ihnen einen Kuss auf Ihre hohe Denkerstirn drücken?“
„Da muss ich erst meine Verlobte fragen.“
„Aber mir kannste eenen uffdrücken!“, rief jemand mit sich überschlagender Stimme.
„Dir, du Schisser? Wo hast du denn ne Denkerstirn?“
Wunderlich wusste: Er hatte bestanden.
Im Lautsprecher neben der Uhr knackte es, die rauchige Stimme der stellvertretenden Schulleiterin schepperte durch den Raum. Sie teilte mit, die Schulleitung gebe den Klassen fünf bis zehn nach der vierten Stunde hitzefrei. Der Oberstufenunterricht finde nach Plan statt. Knacks, aus.
Wildes Indianergeheul. Die Klasse schien geradezu in Ekstase zu verfallen. Wunderlich gelang es gerade noch, die Hausaufgabe für die nächste Stunde zu verkünden, dann stand er allein im Raum.
Es war jetzt das erste Mal an diesen Vormittag, dass sich Wunderlich wirklich ärgerte. Immer wieder diese verdammten Durchsagen kurz vor Stundenschluss!