Das Beweisfoto

Kurzgeschichte zum Thema Krisen

von  Epiklord

Das Beweisfoto 

 

Nein, nein, sie würde ihren Mann nicht hergeben. Sybille Schubert nippte an einem Glas Gin. Schon vor zwanzig Jahren hatte sie getrunken. Nur nicht in der Zeit, in der sie schwanger gewesen war. Ihr Mann Jens und sie hatten schon lange aufgehört sich zu lieben. Er stürzte sich in seine Arbeit als Unternehmensberater, Sybille war mit sich selbst beschäftigt, mit ihrer Trunksucht. Das Einzige, was sie zu lieben glaubte, ihr eigen Fleisch und Blut, ihre Tochter, hatte ihr das Jugendamt kurz nach der Geburt weggenommen und schließlich hatte Sybille dem langewährenden Drängen nach einer Adoption zugestimmt.

 

Sybille nahm wieder einen kräftigen Schluck Gin, vergrub ihr Gesicht in den schmalen, zitterigen Händen. Letzten Sommer hatte sie einen Detektiv beauftragt, der ihre nun mittlerweile neunzehnjährige Tochter aufspüren sollte. Tatsächlich konnte er die Adoptiveltern ausfindig machen. Aber ihre Tochter hatte sich eine Woche zuvor heimlich davongemacht. Man munkelte, sie hätte eine Identitätskrise gehabt und wollte unbedingt wissen, wer ihre Mutter sei.

 

Sybille verzehrte sich immer mehr. Ihre Gesundheit schwand dahin. Früher hatte Jens ständig von neuem versucht, sie vom Trinken abzubringen. Vergeblich. Nun kam er morgens regelmäßig zu ihr ins Wohnzimmer mit einer Flasche Gin: „Hier Sybille, ich habe dir etwas mitgebracht. Ich muss jetzt los. Warte nicht auf mich. Es kann spät werden“, sagte er jedes Mal und sie erwiderte dann immer abwesend lächelnd: „Danke Jens, du bist ein Schatz.“ Er war ihr einziger Halt im Leben. Doch schon seit ein paar Tagen hatte sie einen Geruch von Damenparfüm an ihm wahrgenommen und ließ Jens von der Detektei observieren. Und die bestätigte ihr per Telefonat, dass ihr Mann sich mit einer jungen Frau traf. Ihre Sorge war also bestätigt; Tag für Tag zog es ihn zu diesem Luder. Sybille versuchte sich krampfhaft zusammenzureißen. Das Kuvert mit den Beweisfotos, welches man ihr tags darauf zugeschickt hatte, ließ sie verschlossen. Den Anblick wollte sie sich ersparen.

 

Die Furcht vor Einsamkeit und Verlassenheitsgefühle quälten Sybille. Es war unerträglich. Der Alkohol tat das übliche, in Folge brach die Panik über sie. Erst nahm man ihr das einzige Kind und nun auch noch ihren Mann. Nein, das würde sie nicht zulassen. Hektisch kramte sie eine Pistole aus dem Safe im Wohnzimmer hinter dem Picassonachdruck und ließ sich mit einer Taxe zur Wohnungsadresse der Nebenbuhlerin chauffieren. Hinter einer Hausecke versteckt trank sie ihren gefüllten Flachmann mit einem Zug.

 

Nach einer kurzen Zeit des Auflauerns schlenderte Jens mit der blonden Geliebten Arm in Arm durch die Toreinfahrt zu einem der Hinterhöfe. Beide lachten voller Überschwang. Sie sagte:

„Du musst es ihr heute Abend noch sagen.“ Jens lachte:

„Sybille ist krank. Ich werde sie schonend vorbereiten. Sonst bekommt sie mir noch einen Schock.“

 

Sybille Schubert wartete, bis Jens die Wohnung der Blondine verlassen hatte, schlich geschwind durchs Treppenhaus, zückte die Waffe, klingelte kurz, sofort öffnete die Tür sich, zweimal drückte Sybille gezielt ab in Herz- und Bauchbereich der jungen Frau. Sie brach tot zusammen.

 

Sofort eilte Sybille nach Hause, legte den Revolver vorsichtig auf den Couchtisch. Jens machte gerade ein Nickerchen auf seinem Sessel. Sein leichtes Schnarchen hatte sie bereits an der Tür zum Flur wahrgenommen. Es war alles so beruhigend, so vertraut und tat ihr gut wie ein Entspannungsbad.

Sie betrank sich völlig, drehte die Musik aus der Stereoanlage laut bis zum Anschlag. Jens wachte sofort auf, drehte den Ton leise, schaute entrüstet: „Was ist denn mit dir schon wieder los, Sybille?“ Sie zischte ihn lallend an mit einem widerlich höhnischem Grinsen: „Jetzt spürst du auch mal, wie es ist, wenn einem ein geliebtes Wesen genommen wird. Damals hat man mir die Tochter genommen und du hast es zugelassen. Jetzt habe ich dir deine Geliebte genommen, du gemeiner Kerl.“ Sie schluchzte voll Bitternis. Jens Schubert sah sie verwirrt an:

„Was redest du da?“ Du hast ja wieder einmal zu viel getrunken!“

„Hier ist die Pistole. Es fehlen zwei Kugeln.“

Sybille holte den Umschlag von der Detektei, riss ihn auf und das Foto von der Geliebten fiel sofort heraus. „Da“, sagte sie zu Jens, „schau es dir genau an.“ Er hob es auf, sein Gesicht verfärbte sich leichenblass.

„Ja“, schrie er seine Frau an, dann bebte seine Stimme, „weißt du denn, wen du da umgebracht hast, deine eigene Tochter, unser Kind!“

 

Kurz darauf klingelte es an der Wohnungstür. Es war ihre Tochter. Das Foto von ihr hatte mit im Umschlag von der Detektei gesteckt, zusammen mit dem von Jens seiner Geliebten.



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