Der Segen des Elefanten

Kurzgeschichte zum Thema Christliche Themen

von  chSchlesinger

Als ich zehn war, starb Onkel Erhard. Onkel Erhard konnte mich mit einer Hand hochheben, aber er rannte vor meinen Schneebällen davon, als wäre ich der Stärkere von uns beiden. Die Autos, die Onkel Erhard gebaut hatte, fuhren durch die ganze Welt. Er schraubte seinen Autos immer einen Stern auf die Motorhaube - so erzählte er es mir. Die Erwachsenen sagten mir, Onkel Erhard werde nun vom Himmel auf uns herabschauen. Das war mir unangenehm. Bis in meine Träume spürte ich die Augen von Onkel Erhard. Den Erwachsenen erzählte ich davon nichts. Ihnen schien es wenig auszumachen, von Onkel Erhard beobachtet zu werden. Ich hingegen hatte Angst, dass Onkel Erhard es den Erwachsenen petzte, wenn ich mich wieder verhalten hatte wie eine Maus, obwohl ich doch schon viel größer war. Und manchmal wollte ich auch eine Maus in einer Höhle sein, ohne dass mich jemand dabei beobachtete. Da die Erwachsenen mir aber keine Hilfe boten, musste ich schon selbst mit Onkel Erhard sprechen: Ich wurde Pfarrer.
Seither habe ich viele Predigten gehalten. Von Onkel Erhard. Wie er in den Himmel gekommen ist, als ich zehn war. Damit ich immer neu von Onkel Erhard predigen konnte, ließ ich Onkel Erhard mal als einen alten Mann sterben, der seine Kinder und Kindeskinder um sich versammelt hatte, mal als einen jungen König auf dem Schlachtfeld. Aber wie ich es auch anfing, stets schien die Gemeinde befriedigt, sobald Onkel Erhard vom Himmel auf uns herabschaute.
Wenn die Gemeinde schlief, floh ich hinaus in eine Nacht ohne Träume. Stundenlang lief ich durch die leeren Straßen, vorbei an dunklen Fenstern und heruntergelassenen Rollläden. Einmal lief ich bis in den frühen Morgen hinein: Am anderen Ende der Stadt stieg ich auf den Berg, auf dem ich als Kind zum ersten Male gefühlt hatte, dass wir nicht unbedingt die Flügel eines Engels brauchen, um Gott nahe zu sein. Aber selbst dort oben in der aufgehenden Sonne ließ Onkel Erhard nicht ab von meinen Sünden. Bald fühlte ich mich unter seinen Augen, als wäre ich ein Leben lang unartig gewesen. So sehr ich auch betete, wie man es mich gelehrt hatte, mir schien, als gäbe es im gesamten Himmelsrund nicht ein Wort des Trostes für mich.
„Bist du der Pfarrer?“, klang es hinter mir. Es war der Vorabend des Weihnachtsfestes, und ich sperrte gerade das Tor zur Kirche ab. Ich drehte mich um. Für einen Augenblick war ich geblendet von all dem Schnee, der im Mondlicht leuchtete. Dann sah ich das Mädchen: acht, vielleicht neun Jahre jung.
„Will ich vor den Kühen retten!“ Das Mädchen hielt mir einen Umschlag hin. „Kannst du es segnen?“
Wortlos nahm ich den Umschlag.
„Nicht öffnen! Ist nicht für dich!“
„Wie kann ich segnen, was ich nicht kenne?“
„Du segnest nur, was du nicht kennst. Du bist doch auch eine Kuh!“
„Dir muss kalt sein …“ Ich erkannte das Nachthemd unter der Jacke des Mädchens. Ein Nachthemd, wie ich es in Krankenhäusern sah, wenn man mich ans Bett rief.
„Nun segne endlich!“
Ich erinnerte mich, wie ich als Kind eine Mütze, die man mir zu tragen befohlen hatte, in den Fluss geworfen hatte. Meine Ohren waren taub vor Kälte, als ich die Mütze warf, so weit ich konnte.
„Gehen wir in die Kirche“, sagte ich.
„Kein Licht!“, forderte das Mädchen
„Aber dann sehen wir nichts.“
„Was Kühe sehen, wollen sie fressen!“ Flink pustete das Mädchen alle Kerzen aus, die um den Altar brannten.
Wir standen nun mitten im Kirchenschiff. Auf einer Insel Mondlicht. Meine Hände hielten sich an dem Umschlag fest, den das Mädchen mir anvertraut hatte. Nur schwer gewöhnte ich mich an die Dunkelheit.
„Merkste! Nun hockt dein Onkel da oben auch im Dunkeln.“
Tatsächlich, wo waren die Augen von Onkel Erhard? Stand ich im Dunkeln, wusste auch Onkel Erhard keinen Schritt weiter. Als schaue er nicht vom Himmel auf mich herab, sondern als sitze er irgendwo hinter meinen Augen. In diesem Moment ging mir auf: Selbst wenn wir nicht mehr an den Nikolaus glauben oder an die Rute von Knecht Ruprecht, so sind wir doch nie alleine in unserem Kopf. Es geht in unserem Kopf zu wie in einem Hochhaus, das bis in die Sterne reicht und dessen Keller tief unter die Erde führt. Im Erdgeschoss wohnt das, was wir gerade erleben. War es ein schöner Augenblick, dann zieht dieser Augenblick eine Etage höher, wenn der nächste Augenblick das Erdgeschoss bezieht. Es gibt auch schlimme Augenblicke, die tief in uns wohnen bleiben. Ein Stimmengemurmel aus Augenblicken, das uns für immer begleitet.
Wir können uns nicht an alle Augenblicke erinnern. Manche Augenblicke aber sind wie die starken Jungen und Mädchen auf dem Schulhof, die uns verhauen oder beschützen können. Sie bleiben dort wohnen, wo in unserem Kopf das Licht ist. Wenn jemand uns etwas verbietet, dann verkleidet dieses Verbot sich oft als ein starker Junge oder als ein starkes Mädchen. Und in meinem Kopf hatten die Verbote sich wohl als jemand verkleidet, der es immer gut mit mir meinte. Fast wollte ich den Verboten, die sich als Onkel Erhard verkleidet hatten, meine Zunge rausstrecken.
Das Mädchen zupfte an meinem Ärmel: „Kannst du dir einen Elefanten vorstellen?“
Ich dachte an Afrika, an Savannen, die älter waren als die Menschheit: eine Welt aus Tag und Nacht, die nach keinem Pfarrer je verlangt hatte. „Ja“, sagte ich, „einen Elefanten kann ich mir vorstellen.“
„Du hältst ihn in der Hand. Er ist in dem Umschlag. Es ist spät. Er will schlafen.“
Ich dachte zurück an all die Erwachsenen, die sich mir verschlossen, wenn ich während meiner Kindheit von den Figuren aus den Abenteuerbüchern sprach, als seien es Spielkameraden aus der Nachbarschaft.
Irgendwann aber freute ich mich morgens nicht mehr auf Abenteuerbücher, sondern nur noch auf ein Fläschchen gezuckerte Kuhmilch. Das nennt man wohl Erwachsenwerden.
„Dann müssen wir einen Ort finden, wo er schlafen kann.“
„Endlich begreifst du.“
Das Mädchen nahm mich bei der Hand. Wir verließen die Insel des Mondlichts und traten ein in das Dunkel, das um den Beichtstuhl herrschte. 
Das Mädchen besah sich die beiden in den Stein geschlagenen Kammern, die mit Holztüren gegen Einblicke geschützt waren. Eine der Holztüren stand offen: Die Wand zwischen den Kammern konnte man sehen, auch das Gitter, das in die Wand eingelassen worden war.
„Hier geht ihr Erwachsenen eure Sünden abladen, nicht wahr?“
„Wenn Menschen ganz stark an den lieben Gott als ihren Schöpfer glauben, ja.“
„Kinder auch?“
„Es gibt Lehrer, die ganze Schulklassen zur Beichte führen, ja.“
„Beichten Kinder viele Sünden? Ich meine, ist euch das nicht peinlich, Kinder mit dem Teufel und der Hölle zu bedrohen?“
Ich schwieg.
„Bei uns durchleuchten sie die Kinder sogar. Um zu sehen, ob Böses in ihnen ist. Das finde ich frech!“
Ich schwieg. Vielleicht, weil es für einen Erwachsenen sehr ungewohnt ist, im Dunkeln zu sein.
„Erklär mir, wie der Elefant hier in den Umschlag gekommen ist!“, forderte das Mädchen.
„Jäger werden ihn eingefangen haben. Für den Zoo.“ Ich spürte, wie mein Gesicht rot anlief. Vielleicht war ich wirklich eine Kuh, die gleichmütig eingefangene Elefanten begaffte.
Das Lachen des Mädchens hallte bis hinauf zum Kirchengebälk. Ein helles Kinderlachen, das für Augenblicke die ganze Welt erleuchtete.
„Kühe glauben, dass sie es wären, die später in einen Umschlag getan und an den Himmel adressiert werden.“
Ich tastete nach einer Kirchenbank, auf die ich mich stützen konnte. Viele Jahre hatte ich das Leben der Erwachsenen eingeübt. Erwachsene reden nicht so miteinander wie Kinder. Erwachsene haben für jeden Begriff, den sie hören, eine Karteikarte im Kopf. Sprechen Erwachsene miteinander, dann wirkt es oft so, als würden die Erwachsenen einander ihre Karteikarten aufsagen. Es ist schwer für ein Kind, einen Erwachsenen dazu zu bringen, dass er einmal nicht aus seinen Karteikarten etwas aufsagt. Vielleicht gelingt das nur in einer dunklen Kirche. Die Bibel spricht von einem Mann, der blind zur Erde fiel und neu geboren wurde. All die Karteikarten in seinem Kopf wegzuwerfen fühlt sich vielleicht so an, als würde man fortan mit einem Elefanten in einem Umschlag reisen, von Kinderhänden durch die Welt getragen.
Plötzlich kamen mir all die Tage verloren vor, an denen ich es für unwahrscheinlich gehalten hatte, dass ein Elefant in einen Briefumschlag passt. Würde ich diese Tage mit einem schwarzen Stift aus dem Kalender streichen, es blieben von meinem Leben wohl nur wenige weiße Flecken.
Das Mädchen stampfte mit dem Fuß auf: „Nun mach schon, sing dem Elefanten ein Schlaflied!“
„Aber Elefanten sind das nicht gewohnt.“
„Tote etwa? Selbst auf einem Gottesacker seid ihr noch am Lärmen. Also los!“
Ich legte den Briefumschlag neben mich. Für Minuten war allein Dunkelheit zwischen dem Mädchen und mir.
„Es ist schwer, eine Kuh von ihrer Weide wegzubewegen, nicht wahr?“
„Wir haben bei uns so viele Zimmer …“ Das Mädchen schien zu träumen. „Wenn alles in dem Umschlag für dich wäre, wüsstest du, wie schwer es ist. Wer von uns schon schreiben konnte, hat etwas hineingeschrieben. Und von denen, die nicht schreiben konnten, haben wir uns erzählen lassen, was wir für sie hineinschreiben sollen.“
Leise begann ich ein Schlaflied zu singen: „Oh liebe Nacht, oh weiser Wind, in eurer Hand zu sein ganz tief, ist wie die Macht, ist wie das Licht, das mich ins Leben rief.“
Einen Augenblick war Stille. Dann flüsterte das Mädchen: „Er schläft.“
„Und du bist kein bisschen müde?“
„Doch, sehr.“
„Vielleicht sollte ich dich heimbringen.“
„Heimbringen! Tu nicht so, als wenn du zum Schlafen etwas anderes hättest als deinen Kuhstall.“
Obwohl das Pfarrhaus einen Kamin besaß, war mir nie in den Sinn gekommen, dort Feuer zu entfachen. Ich achtete darauf, dass kein Staub lag und dass die Uhren aufgezogen waren. Mehr nicht. Nun tat es mir leid, Onkel Erhard beinahe die Zunge rausgestreckt zu haben, selbst wenn der Onkel Erhard in meinem Kopf vielleicht nur aus verkleideten Verboten bestand. Wo sollte ich hin, wenn nicht zurück in einen Stall, den man Pfarrhaus nannte? Der Gemeinde Segen spenden, wie Kühe ihr Milch gaben. Die Sterne waren für alle. Und im Augenblick kamen sie mir auch recht gleichgültig vor. Onkel Erhard aber war die ganze Zeit nur für mich gewesen.
„Verstehst du nun, was uns Kindern die Elefanten sind, die Indianer, die Piraten? Versuch nie wieder, ein Kind heimzubringen in einen Kuhstall.“
„Ist es denn so schlimm, wenn wir es gut miteinander meinen?“
„Du meinst nichts, du glaubst nichts. Du kannst doch nur bestimmen!“ Beinahe spürte ich, mit was für einer Empörung das Mädchen hinauf zur Kanzel blickte. „Ihr Erwachsenen tut von oben herab immer so, als müsstet ihr nie weinen und niemals schreien. Dabei müsst ihr es doch. Ihr habt bloß Angst, dass euch dann keiner mehr lieb hat.“
„Wenn Menschen ganz fest an den lieben Gott glauben, tut ihnen jeder Mensch weh, der zweifelt. Einige Gläubige werden dann sehr böse. Wieder andere versuchen, den Zweifler mit Liebe zu umschlingen. Und manche sind fest entschlossen sich in den Tod zu stürzen, gäbe es keinen Gottvater. So sinnlos erscheint ihnen das Leben und das, was sie als Unrecht empfinden.“
Wort für Wort stieg Kälte in mir empor. Mir war, als drängten aus jedem Winkel des Kirchenschiffes Schatten an mein Herz. Geister all jener, die ihr Seelenheil meinem Glauben anvertraut hatten. All die Menschen, die auf dem Sterbebett nach meiner Hand gegriffen hatten, während ich bloß die Lippen bewegte.
„Predigt für Predigt habe ich etwas von der Verzweiflung meiner Gemeinde auf mich genommen. Ihnen allen versprach ich ein Reich, von dem ich mir selbst immer weniger versprach.“
„Pah, zu uns kommt auch immer so ein Typ, der sich als Weihnachtsmann verkleidet hat. Was die Kinder draußen nicht mehr haben mögen, das schenkt er uns. Fühlt sich ganz großartig dabei, der Typ. Und die ganze Zeit tut er so, als würde er den Weihnachtsmann auch spielen, wenn er dafür kein Geld bekäme. Ihr Erwachsenen spannt doch selbst vor der Kirche Schirme auf! Euer König wird ans Kreuz geschlagen, während euch jede Pfütze wichtig ist.“
Der Bruder von Onkel Erhard war damals mit dem Taxi gekommen. Die ganze Beerdigung über schien er sich zu sorgen, dass er vom Regen nicht nass werde.
„Stell dir vor, dein Briefumschlag läge draußen im Schnee. Zermatscht und mit einer Eisschicht überzogen. Es täte dem Elefanten, der ja in dem Briefumschlag lebt, kaum gut. Glaubst du nicht auch, dass wir die Aufgabe haben, für das Leben zu sorgen, das in uns ist, für die Indianerreservate und für die Schatzinseln?“ 
Das Mädchen aber blieb unerbittlich: „Elefanten sind im Leben wie im Tod. Was euch Kühe vor Angst plemplem macht, ist für Elefanten, als würde ein Kind eine Nacht mal nicht träumen. Über die Zäune eurer Weiden steigen Elefanten weg. Jäger, die ihnen Böses wollen, werden nur leere Briefumschläge finden. Zermatscht und mit einer Eisschicht überzogen.“
Mondlicht fächerte sich über dem Altar bis hinein in die ersten Bänke. Mir war, als sähe ich diese Kirche zum ersten Male. Ein Boden, so steinig, dass er mich zerschmettern würde. Blutrote Fenster, welche wie mit hundert schneidenden Schnäbeln auf mich lauerten. Vor allem aber fühlte ich mich frei! So frei, als wären Eisenschellen in mir gelöst worden. Ich hätte das Wort Gottes beiseitelegen und nie mehr anschauen mögen. In jenem Augenblick fand ich etwas, das sich wahrhaftiger anfühlte als all das, was mir die Erwachsenen je zu studieren aufgegeben hatten. Ich nahm den Briefumschlag des Mädchens in beide Hände und hielt ihn gegen das Mondlicht. Mir war, als wenn Trommeln mich riefen und die Tiere eines Urwaldes nach mir schrien.
„Kein großes Zimmer hier.“ Das Mädchen hüpfte den Mittelgang entlang in Richtung des Altars. „Warum habt ihr es so groß gebaut?“
„Weil wir uns umso weniger klein fühlen, je größer wir bauen.“
„Das kenn ich, das kenn ich!“
Oft hatte ich erleben müssen, zu was für Wahrheiten Kinder fähig sind. Für Kinder scheint unser Leben wie eines ihrer Spielzeuge: geht es kaputt, ja, dann geht es eben kaputt. Dann muss man das auch so sagen.
„Was kennst du denn, das groß gebaut ist wie eine Kirche?“
„Das Zimmer vom Zottel!“
„Auch eine Kuh?“
„Ja. Aber das Zottel hat sich einen Zopf wachsen lassen und einen Bart. Damit niemand merkt, dass es eine Kuh ist. Sogar eine, die zum Kuhsein hohe Absätze braucht und Diplome an der Wand.“
„Und was macht das Zottel?“
„Es spricht mit uns Kindern über den Tod.“
Kein Kind hatte in der Stunde seines Todes je nach meinem Trost verlangt. Die Erwachsenen ringsum mussten gestützt werden. Während das Kind in ihrer Mitte weder klagte noch bettelte.
„Dabei macht das Zottel immer ein Maul, als würde es uns etwas anbieten, was schlecht ist für die Zähne.“
„Es gibt nicht viele Erwachsene, die über den Tod sprechen mögen.“
Tatsächlich hörte mich meine Gemeinde immer bloß wegen des Himmelreiches an. Als würde der Herr Pfarrer oben bei den Kirchenglocken einen Goldschatz hüten. Niemand aus der Gemeinde wollte etwas von den Käfern wissen. Käfer, die sich unter Laub und Schnee in den Kreislauf des Lebens fügen, ohne eine große Sache daraus zu machen.
„Das Zottel hat Angst vor dem Tod! Darum fragt es immer nach Kindern wie mir. Um ganz sicher zu sein, dass noch jemand vor ihm an der Reihe ist.“
„Aber du bist doch eben erst geboren!“
Alles stand still in mir. Meine Worte sanken wie Asche auf mich hinab. War ich all die Jahre Pfarrer gewesen mit dem Ideal einer mittelalterlichen Waage, die nur bei Erwachsenen schwere Gewichte in der Waagschale hatte? Ich spürte keinen Boden mehr. Gleich einem Pendel schwankte der Fels unter mir. Seelenruhig trieb das Kirchenschiff hinein ins nächtliche Afrika. Wie viele Sterne es gab! Unter dem Himmelszelt, auf den Wipfeln der Bäume, wiegten sich Vögel. Ihr Gefieder glänzte, als wären sie gerade erst erschaffen worden. Ein Elefant brach durch das Dickicht und sah mir vom Ufer aus nach …
„Oh, haben wir den Elefanten aufgeweckt?“
Das Mädchen schwieg. Im Geiste eines stummen Fährmannes stand es vor dem Altar. Was Kinder schweigen können! Sie gehen mit Totem um wie mit Lebendem: Fingerpuppen, die Kronen tragen und Krokodilszähne zeigen, sind ihnen Antwort genug.
Wir trieben einen Strom entlang, der bis in alle Ewigkeiten zu fließen schien. Auf beiden Seiten des Ufers zeigten sich mir Menschen. Menschen, die wirkten, als würden sie mich kennen. Als wüssten sie um jedes Gebet, zu dem ich bloß die Lippen bewegt hatte.
„Herr Pfarrer, es ist Zeit für den Segen“, sagte das Mädchen.
Ich folgte der Stimme des Mädchens bis vor den Altar. Beinahe hätte ich meine Augen geschlossen. Ich verspürte keine Lust mehr, mit ihnen zu sehen. Das Mädchen wich beiseite. Es ließ mich die Kerzen fühlen, die erloschen auf dem Altar standen. Ich tastete nach dem Kruzifix. Als ich den fein geschnitzten Leib Christi spürte, schien das Kirchenschiff seinen Hafen gefunden zu haben.
„Komm, es ist nicht mehr weit!“ Zum letzten Male nahm das Mädchen mich bei der Hand.
Der Bootssteg führte in ein tiefes Grün, das sich umso weiter entfernte, je näher ich ihm kam. Mein Talar flatterte mir um den Leib, als hinge er nach allen Seiten zerrissen herunter. Mit der schmalen Hand eines Zehnjährigen hielt ich den Briefumschlag des Mädchens. Segnen sollte ich ihn und hatte doch alle Segnungen meines Pfarramtes längst vergessen. Tiere glitten durch das Buschwerk. Sie beäugten uns mit einer Neugier, die unter Menschen bloß im Kindesalter zu finden ist. Ehe eitle Erwartungen nach der Herrschaft über uns verlangen.
„Sieh!“, rief das Mädchen.
Inmitten des Urwaldes waren wir auf eine Lichtung gelangt. Um uns heulten Stürme, die aus Höhlen tief im Erdreich zu strömen schienen. Gebeine erkannte ich, weiß wie Gold. Sterbliche Überreste, die in das Grün Afrikas gelegt waren, als seien sie der Schmuck der Erde.
„Hierher kommen die Elefanten, wenn sie müde sind.“
„Woher kennst du den Ort?“ Ich war überzeugt, dass vor uns kein Mensch je diese Lichtung betreten hatte.
„Du hast mich hergeführt.“
Das Mädchen wirkte enttäuscht, offenbar hatte ich wieder etwas nicht verstanden. Tatsächlich kam die Lichtung mir vertraut vor. Wo in aller Welt hatte ich sie je gesehen?
„Für einen Jungen sollte ich schreiben, dass das Leben durch die Elefanten hindurchscheint. Kurz bevor sie hier Frieden finden. Als wären sie aus Glas. Eigentlich konnte der Junge selber schon schreiben. Aber er getraute sich nicht, sein Bett zu verlassen.“
In der Nacht, als Onkel Erhard starb, hatte ich leise die Tür meines Kinderzimmers geöffnet. Damit ich horchen konnte, was die Erwachsenen am Telefon besprachen. Ein Spalt Licht fiel in das Kinderzimmer. Es spiegelte sich auf den drei gläsernen Elefantenminiaturen, die nahe der Fensterbank standen. Eine Mutter, ein Vater und ein Junges. Alle drei verbunden durch goldfarbene Kettchen.
Weinen hörte ich in jener Nacht niemanden. Stattdessen traf man Reisevorbereitungen. Als wäre es am allerwichtigsten, den Tod von Onkel Erhard zu regeln. Während die Erwachsenen so ihre Koffer packten, fiel ich in einen atemlosen Traum.
Mit einem Male erkannte ich alles wieder! Schilf strich über meinen Schlafanzug. Die Erde war noch warm von der untergegangenen Sonne. Um mich Dutzende Elefantengebeine. Onkel Erhard ruhte unter einem Affenbrotbaum inmitten des Elefantenfriedhofes. Noch nie hatte ich als Kind solch einen Baum gesehen. Tausend Jahre und mehr schien der Affenbrotbaum alt zu sein. Erst wirkte es, als wäre Onkel Erhard mit seiner Pfeife im Mund eingeschlafen. Aber dann tat er die Augen auf und lächelte mir zu: Komm! Ich schüttelte den Kopf, schüttelte ihn immer wieder. So stolperte ich einige Meter fort von Onkel Erhard. Dann wandte ich mich ab und rannte davon, so schnell ich konnte. Durch den Urwald. Zurück in mein Bett …
„Nun geh schon“, sagte das Mädchen, „dein Onkel hat lange auf dich gewartet.“
Der Affenbrotbaum stand noch so da, wie ich ihn in meiner Kindheit zurückgelassen hatte. Als wäre seit jenem Traum kein Tag vergangen. Onkel Erhard breitete die Arme aus. Nie in meinem Leben hatte ich solch eine Güte gespürt.
Neben dem Altar sah ich mich liegen. Die Beine angewinkelt. Als hätte ich noch versucht zu knien, bevor ich rücklings auf den Kirchenboden fiel. Der Mund geöffnet wie zum Gebet. Den Briefumschlag hielt ich in meiner Faust geborgen. Nach der Messe hatte ihn mir die Schwester Oberin eines Kinderkrankenhauses gegeben. Fürbitten sterbenskranker Kinder. Ich war nicht mehr dazu gekommen hineinzuschauen. Das würden nun andere tun müssen.
Meine Flucht, die in jener Nacht begann, als Onkel Erhard starb, hatte nun ihr Ende gefunden. Alle Himmel der Welt taten sich vor mir auf, bevor ich einging in seine Hände.


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Kommentare zu diesem Text


 Verlo (07.05.22, 19:27)
Jedes Trauma endet mit dem Tod.

Dafür braucht es kein Mädchen im Nachthemd, das mit einem Pfarrer allein ist. 

Trotzdem freue ich mich, daß ein weiterer Autor Gott lobpreist.

Willkommen bei KeinVerlag!

 Dieter_Rotmund (09.05.22, 12:56)
Etwas arg dialoglastig, da solltest du das Geplapper streichen bzw. eine andere Lösung finden. Sauber runtererzählt die Geschichte, aber inhaltlich furchtbar rührselig.

 Solvy meinte dazu am 12.05.22 um 14:40:
Eine runde und stimmige Geschichte, die mich in der Tiefe anspricht. Manchmal ist es wichtig und wertvoll, das Leben mit Kinderaugen bzw. einem magischen Denken zu betrachten. Sich darauf einzulassen kann dazu führen, dass man das Leben loslassen kann.

Liebe Grüße
Solvy

 Dieter_Rotmund (16.05.22, 13:44)
Pastor Schlesinger, war's das schon?

 Verlo antwortete darauf am 31.05.22 um 17:57:
chSchlesinger, bitte laß dich von Dieters "immer nur netten und konstruktiven" Kommentare nicht irritieren!

Dieter wird gerade im Faden "Welpenschutz" zurechtgestutzt.

 Dieter_Rotmund schrieb daraufhin am 31.05.22 um 18:01:
chSchlesinger redet nicht mit uns....  :wassat:

 chSchlesinger äußerte darauf am 31.07.22 um 10:46:
chSchlesinger befindet sich die meiste Zeit in der Andacht, bei sehr wechselhaftem Befinden, sorry.

 Dieter_Rotmund ergänzte dazu am 01.08.22 um 09:44:
chSchlesinger spricht in der dritten Person von sich selbst.

Gute Besserung!
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