Die Götter bleiben aus (Teil 1).
Lyrischer Prosatext zum Thema Selbstbestimmung
von chSchlesinger
1.
Ich gehöre in den Abfall.
Mit Schlachtrufen das Spielfeld betreten, zu Null meines Platzes verwiesen.
Klumpenweise Erde gefressen bei jenem Eindreschen von Füßen, das sich 'Leben' nennt. Blutgrätsche ist es und Schlamm, ein Geschrei nach dem Ball, endlich angespielt zu werden, endlich vorgelegt zu bekommen!
Alle stürmen sie für ihren Kick ins Glück, niemand will zurück bleiben, keiner einen reinbekommen.
'Zeig Dich!' riefen die meinen nach mir. Wenigstens Szenenapplaus sollte dem Sohn, dem Enkel, dem Neffen gelingen.
'Der hätte mal sehen sollen, wie ich abends vom Spielen heim bin!'
Das große Latinum ward mir eingeworfen, die richtige Haltung zugepasst, der korrekten Vollzug des Kreuzzeichens freigestoßen. Aber all die Bälle kamen mir zu steil, zu schräg, hatten derart viel Schmiss, dass ich nicht einen davon köpfen konnte.
Und als es ans Aufstellen ging, mochte keiner von den schönäugigen Schützenkönigen mich in seine Mannschaft wählen.
Also blieb ich zurück inmitten von verwitterten Torwänden und Kellern voller alter Fahnen. Der Sohn, der Enkel, der Neffe, über dessen Wiege man sich einst beugte.
Alles verstolpert, nichts geköpft bekommen, fortwährend den Weg zum Tor vergessen: so ist es mir zerronnen, mein Dasein. Und derart leichthin schreibt sich dieses Nichts von einem halben Jahrhundert, dass man glauben könnte, mein Weg in den Abfall nun wäre wie das Auspusten eines Geburtstagskuchens.
Tatsächlich aber weiß ich nicht, wo anfangen mit dem Tod.
Von der staatlichen Verköstigungsanstalt ausgewildert, finde ich mich ab mit dem 'Platzverweis', einer als Kneipe getarnten Kippe, die manch Verfristeten abzuschließen scheint. Unter den Hufen der Morgenröte, wo Kuckucksuhren durch Urnenlöcher marschieren und Trunkene die Mühlsteine der Finsternis mit Plüsch beziehen.
Trinkbrüder, die sich mal in den Wind werfen, mal wühlen, mal schaben, mal einander im Paarungsakt zu leeren suchen, die Augen dabei wie Widerstandsnester, ledern der Schlund, alldieweil Joppen und Leibchen sich über ihnen drehen, als seien es göttliche Brummkreisel. Wie der Kanonendonner eines Sturmes auf sämtliche Grenzbefestigungen, so ward er mir stets verheißen, der Suff. Dasein, dem, Prosit für Prosit, jeglicher Ruf zum Torschuss aus den Gurgeln weicht. Schnapsgedrosselte, hinausgetreten in rauschende Steppen. Wolfsfrei zum Sterben.
Aber nun, im Kaiserpanorama ihrer Wirtschaft, schauen Unterhemden nach mir, als sei es mit dem Rand der Welt nicht getan, als sei der Tod keine Boxbude, die es zu bestehen gilt, und ich nur ein Heuler, der aus der Schachtel gefallen ist und sein Feuerwerk versäumt hat.
Wen Spiegel, Stein und Licht nicht in Brand setzen, dem hilft auch kein Feuerwasser. Der bleibt das Stroh einer Krippe, deren Hirten längst fortgezogen sind. Gefangen im Strampler, während alle als Rauchzeichen am Himmel wabern.
Kein Glas im Raum, das nicht gegen mich steht. Dass da einer den Rahmen nicht findet, dass da einer nicht mitbaumeln mag. Und dem hilft auch ein Griff in meine Kindertage nicht ab, als ich schwerlich zu scheiden war von den Umherhängenden: stets verblieb eine ungerade Haltung, die selbst zur Fütterungszeit sich nicht verlor.
Meine Erinnerungen sind mir ein nasses Laub! Ferne Kindereien und falsches Gesinge. Götter zum Preis einer Tüte Eis.
Später dann vergriff ich mich am lärmenden Gebein, fragte diplomierte Knechte nach, wühlte mich in die Jahre, bis das Erdenreich mich erbrach.
Aber so wollte ich den Schlusssatz ja serviert bekommen, mit eingerammten Hufen und verhornten Mäulern!
"Präsentiert Euer Glück!" lade ich zwei Stubenfliegen vor. Gesellschaft genug für mich Restposten Fleisch: kleines Gemüt, kleiner Tod. Besiegelt von flinken Klatschen. Sterben in 0,2 Sekunden. Ich lerne gerne.
Dem Ablebenden gegenüber tut das 'Glück' sich keinen Zwang an: kühl setzt es ihn in Kenntnis, dass es längst fortgewischt ist von jenen Schultafeln, auf denen der Ablebende es einst mit Schönschrift für sich vormerkte.
"War Euch jemals nach Glück?" raune ich den Fliegen zu. Der Ordnung halber. Für Antworten, mit denen sich die entlegenen Ecken meines Gemüts ausverkaufen lassen. Ecken, in denen ich weiterhin als Pilz gehe, mich im Kindergarten aufzuführen. Bedeckt von rotem Filz und grünem Vorhang. Eine Zwecklosigkeit, mit der ich niemals abrechnete. Ich misstraute grünen Vorhängen, nieder riss ich sie nie.
Zugedeckt verblieb ich in den Bühnenbildern.
"Besonders vielleicht nach meinem Glück?" setze ich nach. Ja mal wissenswert, inwieweit es die Welt schert, was einer sich schafft zu seiner Lust. Ob unsere Herzen der Welt Blüte sind, oder ob die Welt sie fürchtet als nimmersatte Öfen, deren Qualm sämtliche Horizonte schwärzt.
Ich stiere den Stubenfliegen in die Facettenaugen, mit welch Mengen Bildern pro Sekunde sie mich für wahr nehmen mögen? Als etwas verwischtes und zuckendes vielleicht, dem es an Licht mangelt wie an Tiefe.
Ein enttäuschter Gott muss es gewesen sein, der uns das Volk der Fliegen entgegenwarf: wie satte Raben flattern die Tage an den Fliegen vorbei, ohne dass auch nur eine Fliege sich entpflichtet fühlt vom Tisch ihres Schöpfers, ihm das Gekrümel und Geklecker des Erdenreichs aus den Augen zu schaffen.
Die Logik einer Abrissbirne im kleinsten Format. Langmütig wie schaukelnde Puppen all unsere Gemäuer zu verhören, bis darin die Menschensöhne reif sind, Pest in ihre Kelche geträufelt zu bekommen.
Ich streiche über den kehligen Schänkentisch, der sich anfühlt wie die Rotbuche, aus der die Werkbänke meiner Schulzeit gezimmert waren. Schraubstöcke mit eisernen Backen, die einem zweiten Gebiss gleichen, mit dem man Seite an Seite auf die Welt los kann.
Der Stacheldraht, der gespannt ist um den Bau in meinem Schädel, zittert. Die Totenmasken vergangener Werkstunden zappeln dort. Zwischen Sägeabfällen ein Stab, so liebevoll in meiner Faust, dass ich mit ihm Stämme fällen wollte. Ein Werk tun, und sei es das des Todes.
Raus aus dem glitschigen Knochenbau! Breittrampeln will ich den Pfad hinaus, der bewacht wird von allem, was Tier ist in meinem Bau. Krallen, die niemals nachlassen werden. So wenig, wie das Erdenreich müde wird, sie zu nähren.
Aber was ist ein 'freier' Wille, der im Ausguck hockt, mehr als ein Nest auf einem Baum in einem Wald?
"Wer trampeln will, muss Boden haben!" fallen meine Hände auf den Tisch. Die Fliegen wirbeln davon. Trotzig wiederzukehren, sobald ich bis ins letzte Glied abgelebt und verdorben bin.
Meine Schultern zucken, als wären es zwei Panzer einer Kröte. Mich zu schützen vor dem Hieb, dass selbst die schwächsten Glieder der Nahrungskette stärker bei Dasein sind, als ich.
Den Frühling hat das Jenseits mir gelassen. Dann gewährte es nur noch stundenweise Ausgang. Der angebrochene Sommer verdarb mir so im Schatten herandrängender Winternächte. Wie auch alles weitere, was 'da' war. Kam dann etwas fort vom gammeligen Tagewerk, entsetzten mich die Gestrigen, die das Fortgekommene im Himmel vermuteten, und sich aus ebenso fauligen Paradiesen freudig einschenkten.
Ausgebrannt und fortgekommen ist so vieles in meinem Schädel. Abgefallen in einen Himmel, hinter dem das dunkle Weltenall sein Maul aufsperrt. Welche Marschrichtung nun gewinnt dem Erdenreich Boden genug ab, dort den Rest dessen zu verscharren, der mir noch anhängt vom Dasein? Jenes blutdurchtriebene Häuflein, das kleben bleiben will auf dem Trottoire der Gegenwärtigen, vollgestopft mit Totems, wund von Erinnerungen: wie soll das schwinden unter Stubenfliegen und auf dem kleckrigen Boden einer Schänke?
In eine Grube wuchten will ich die zwitschernden Kindergeburtstage, die mir weismachten, dass ich kein Grab sei, sondern ein großer Bahnhof. Mir abgestorbene Gehörgänge mögen noch wissen vom Klang der Geburtstagskerzen, wie sie bei jedem Luftzug fauchten, als würden Fohlen sich aufbäumen.
Beinahe ist es mir, als vernähme ich vor den Luken der Schänke ein letztes Mal den Rausch dieser kuchenrunden Welt. Wie wenn Äste schwelgen in Luftschlangen, Schaukeln klirren an alten Stämmen - und Eltern Aposteln gleichen, die ebenbürtig dem Meer begegnen.
Kein Pfad, der uns schrecken konnte mit seinen Pfützen: wir ließen den Schlamm unsere Stiefel schmatzen, bis alle Pfade sich ergeben hatten und Wege wurden. Wege, deren Schilder wir nicht lesen konnten, und so führte jeder von ihnen in den Himmel.
Und wie in des Vaters Stube die Tenöre sich von den Schallplatten erhoben, ihren Weg durch Wände zu finden, lärmten wir in den weißgestrichenen Abteilen des Nachtzuges, der 'Bildung' genannt wurde.
Statt zu lernen, wie Erwachsene um ihr täglich Brot beteten, folgten wir dem Duft der Schokoladenfabrik an der Chaussee und liebten den Waldmeister auf unserer Zunge. Wir lebten wie die Vögel, die weder Keller noch Scheune hatten, und die doch von Gott ernährt wurden.
Offenstehend wie Truhen voller Gold, suchten wir nach unserer Schatzinsel. Die Mutigsten ohne Taschenlampe.
Ein Paradies voll mit frischem Baggersand und einem Meer aus grünen Blättern.
Dazu als Ausguck einen Rodelberg, 'Monte Klamotte' genannt, der uns mitsamt der Welt in ein anderes Licht stellte. Unter Wolken, die sich zu Riesen formierten und uns den Himmel aufrissen.
Wo lauerte mir in all den Neubauten mein Baum der Erkenntnis auf? Früchte so garstig wie die Gewächse, die Matronen, deren Männer im Krieg geblieben waren, aus den Taschen ihrer Kittelschürze zogen: missgebildet und voll dunkler Sporen. Als seien sie entwertet worden von der Kontrollzange eines schwarzen Mannes.
Der Tag, von dem an meine Augen nicht länger mir gehörten, sondern ich meinen Augen. Die Stunde, von der an ich niemals mehr auf der Welt lebte, sondern in sie gesetzt war wie in einen Kartoffelacker.
War es, als Vater zur Seite fortsprang wie die Nadel eines Plattenspielers? Wohl drehten sich seine Hohelieder noch eine Weile stumm auf unseren Tellern, bald aber war sein geliebter Onkel Ehrhard nicht mehr Richtung Himmel verzogen, sondern als ein Stein in der Erde verblieben.
War es, als ich mit dem Joystick den neunundneunzigtausendneunhundertneunundneunzigsten Pixelhaufen zerschoss und am Rande des Bildschirms alle neunundneunzigtausendneunhundertneunundneunzig Punkte verschwanden hinter einer Null? Einer Null so weiß wie eine Wand, die sich aus der Dunkelheit erhebt. Gleichzeitig das Gefühl, dass in mir ein Rollgitter zu Boden gerattert war. Als sei ich fortan ausgeschlossen von einem Raum, der zwar klein erscheinen mochte, aber insgesamt schmerzen würde wie ein großer Betrug.
Dazu ein Erdenreich aus vergangenen Tagen, jeder mit einem Rollgitter davor.
Tagesräume voll grauer Kisten, in denen Kalkulatoren ihre Sprossenräder kreisen lassen. Und ich mit meiner Wand von einer Null auf den Rechenwegen dieser Gitterwelt. Gesetzt in knöcherne Klammern, zwischen denen ich mich winde und ducke, als hätte ich das Vermögen eines Herrn vertan.
Klammern, die auch einen Hohlraum bedeuten und eine Taucherglocke.
Das Bewusstsein des Homo sapiens ist in Jahrzehntausenden gebaut worden, da geht es tief hinunter.
Ich lasse mich also sinken. Vom Ufer des vierundzwanzigbändigen Lexikons, das mit seinem Goldrand Vaters Stube krönte, bis zum Rand des Schänkentisches. Von dort auf ein Erdenmittelalter der Landwirbeltiere und des Feuerzaubers zu blicken.
Drei Speisekarten fächern sich in ihrem Ständer. Sie fächern sich wie die welken Flügel einer Mühle. Am Boden belagert mit Tütchen voll Erdnüssen zu fünfundachtzig Cent.
"Speisemühle!" puste ich, wohl wissend, dass das Erdenmittelalter den Speisemühlen seinen Willen anvertraut, bis davon ein Häuflein Gaumenfreude bleibt. Grüsse aus der Küche, die wie Schatzinseln inspiziert werden.
Als würde ich mit einem Stoß Luft das Erdenmittelalter um seine Schatzkarten bringen wollen!
Ich lege Hand an, so wie ich damals Hand anlegte, als Küchenmeister mich einmal zu oft mit Schnee einseifen wollte. Warum soll ich den Vorstehern des Erdenmittelalters verbleiben als ein Hintergrund, der Fressparolen vor Augen hatte?
Von Tintentrommeln in Marsch gesetzte Pappen, mit Anlaufstellen wie 'Rosis Texaspfanne' drauf, ich schiebe sie zur Seite wie einen Vorhang im Krankenhaus. An den Rand des Tisches, an den Rand der Greiffreude, wo alles nur noch aus Pappe ist und Angst hat vor der Tiefe.
Freigestellt von den Speisemühlen, will ich mich dem Erdenmittelalter ersichtlich machen als sein Grab. Die Null am Ende der neunundneunzigtausendneunhundertneunundneunzig Texaspfannen.
Eine Null, in deren Angesicht das Erdenmittelalter sich Marienbilder vors Gerippe hält und mädchenhaft tut mit seinen Fettaugen, sich gar als ein Ohr gibt, das beschenkt sich fühlt von den bigotten Reden seines Grabes.
Dabei ist jede seiner bleichen Lüste bloß dem Zerren Sterbender nachempfunden. Null und nichtiger Dampf, der die Kolben der Krematorien gen Morgen hämmert.
Das Fass Erde, das ich geworden bin, ich will es im Fluss ersäufen, bis der Krumen Gold, als der ich erschaffen wurde, wieder frei unter den Sternen liegt. Bereit für eine Ewigkeit im Gewand der Schöpfung. So will ich mich ausnehmen vom Wüten der Faustkeiler und Schwanzträger: durch ihre Hasenbauten für zählbar gehalten, wattieren sie sich mit Wolken die Dachgeschosse, füllen mit Meerschaum ihre Hintern aus und gefallen einander so als die Neunundneunzigtausendneunhundertneunundneunzig des Erdenmittelalters!
Pfännchen mit dampfenden Thüringern werden an meinem Tisch vorbeigeschafft, Herzen füllen. Damit es für ein Weilchen wieder klappt mit dem sich lieb haben. Vielleicht braucht unser Haus bloß den Keller voll mit Thüringern, so dass wir bestenfalls speien müssen, dafür aber niemand irre wird vor Luft.
Meinen Innereien sind die dampfenden Pfännchen ein Fanfarenstoß. Als würde, unter wütendem Hunger, ein Unhold mich entzwei reißen für gutbürgerlicher Küche.
Ich dagegen bin ganz Kralle und drücke mich wie ein Korken in die jaulende Kreatur: nüchtern will ich mich halten, frei vom Fett des falschen Friedens. Mein Hunger bedeutet mir ein erfrischendes Nagelbett jenseits von all den in den Wind gedrehten Fleischpflanzen unbekannter Herkunft, an deren Rändern ich auf meinem Knochengerüst zittere.
Ein Knochengerüst, von dem ich mich fasten will, falls ich nicht nüchtern genug werde, mir an die Innereien zu gehen und dort die Rädelsführer auszustöpseln.
Die Kralle fest auf dem Korken meines mir verbliebenen Piccolos voll Tiergift, ist mein Gebiss wie ein Zahnrad, das mich mit jedem zu Tisch gebrachten Wort fortzieht über die Zinnen meiner Zeit. Bis ich den Stubenfliegen Meldung machen kann, dass ich nie, niemals gänzlich für die Tonne bin: "Tastet mich ab mit Euren Beinchen, zerkleinert mich mit Eurem Brei: über Eure Rüssel werde ich zu den Sternen reisen!"
Halblaut dem Hintergrund vermacht. Und dann, noch halblauter, doch als ein Rufzeichen der Schankwirtschaft zugeneigt: "Jedes Pantoffeltier auf Eurem Gewäsch heiligt das Dasein mehr, als Ihr Hand in Hand mit Eurem Spiritus!" Ein kursives Rufzeichen, beinahe wie ein Stück aus einer Puppenkiste auf Halbmast. Keine Einladung, sich daran aufzuhängen.
Einer am Tresen aber, die Augen dreist über einem ausladenden Schnauzer, lässt nicht locker: seine Fäuste scheinen tüchtig etwas übrig zu haben für mich Fliegenprediger.
Wer wie ich auf Höhe der Tischkanten fahndet, findet rasch seinen Prügel.
Tischkanten, die wie ein Sendeschluss sind: was an Geräuschen aus den Mündern fällt, ballt sich zu einem Gurgeln tief im Holz und geht ab wie ein schmutziges Schiffchen über den Rand der Welt. "Kehr heim!" Zwei Worte, auf die ich mein Gerüst binde, ohne dabei die Stimme mitzunehmen.
Der am Tresen grabbelt sich eine Hand voll Flips. Er wägt wohl ab, Flip für Flip, wie er mich zerdeppern kann.
"Endlich mal jemand, der die Welt volley nimmt!" suche ich Freund Flip Treter zu machen.
Jedes Zerschmatzen eines Flips im Mundwerk des stolzen Fäusteinhabers gewinnt mich mehr für die Möglichkeit, sich herzhaft an mir zu vergreifen. An meinem Nullsein, das nun der Kreis einer Zielscheibe ist.
Und gewiss schadet es nicht, für meinen Marsch durchs Urnenloch tüchtig weichgeprügelt zu sein.
"Magic!" Ich tue wie ein Clown, der zwischen dem Löwenbräuzelt und dem Bräurösl sein Revier pflegt, und weise auf mein annahmebereites Kinn: "Magic!"
Gerade will Flip vom Tresen weg auf mich los, als in meinen Augen die Linsen ins Weite gedrückt werden, wie wenn sich etwas an ihnen aus einem Berg Asche hochziehen würde. Etwas Garstiges, das Flips Fäuste zögern lässt. Ich spüre nur, was sich in Flips Antlitz spiegelt, spüre murmelnde Leiber, die aus der Asche über brennende Scheite ans Licht drängen, spüre das Aneinanderschlagen ihrer Schädel, spüre den Saum ihres Meeres, und möchte diesen Leichenkeller mitsamt seinem Thron hinter meine Lider zurückwerfen, bin aber hingerissen vom Fortgang der Ereignisse: Flip streicht über seinen Schnauzer, als könne er weder den Schnauzer noch sich selbst länger begründen. Und die Fäuste? Sind bloß noch bleiche Fahnen, die kaum mehr abwinken können, am Tresen gar Joppe und Prügelstock preisgeben. Im schlotternden Hemd macht Flip sich davon, völlig ohne Umstände. Schon klappt die Biedermeiertür hinaus. Als wäre eben eine Kuckucksuhr gegangen, und der Kuckuck aus.
Wann immer ich den Morgenstern schwang in der zeichenlosen Tiefe der Menschen, die ihre Fäuste bewohnen, wann immer ich dem Erdenmittelalter Blut vors Tanzbein speien wollte, herrschte das Erdenmittelalter mich an mit seiner Absichtslosigkeit: nichts zu brechen, der Herr! Sehen Sie, alles Luft, Heißluft bestenfalls! Alles reingewaschen vom Feindesblut, noch ehe es schmutzen konnte. Chillen Sie mal, nun chillen Sie endlich! Niemand stirbt in Reih und Glied anders als ein Affe.
Verzeihung, wollten Sie überhaupt etwas?
So rammt sich Schild um Schild vor mir in die Erde. Und nirgends ein Morgen, der mir zur Hilfe eilt.
Vielleicht sollte ich mir lieber einschenken lassen von Heiligen Königen, die ihr Christkind suchen. Die Schenke wahrnehmen als eine Krippe, in die man hinabsteigen kann von seinem Streitross. Meine Pappärmchen ausschütteln, die Quadratlatschen mitgehen lassen, wann immer Musik geboten wird, auch mal was beten, ja, bete doch mal richtig!
Beten tut hier jeder, mindestens zur Muschi.
Ob alle damit die zerschmuste Stoffkatze meinen, die mir mein Kinderbett behaglich machte? Am Ende waren zwei Nadeln nötig, Muschis Kopf aufrecht zu halten, so vollständig hatte mein Verlangen sie gebrochen. 'Pussys reißen!' nennt man das hier wohl.
Und so wie die Herrschaften ihre Tage rumkriegen, kriegen sie wohl auch ihre Muschis rum: mit Rosenkränzen, die wie Schlingen sind, würgen sie den Muschis die Widerworte ab. Auf Knien dann drücken sie ihre Muschis so lange an ihre öden Wände, bis die Muschis sich ohne jeden Gedanken an ein eigenes Schicksal hergeben für Dornenkronen, die andere sich verdient haben.
Während aber die Herrschaften ihr Dasein mit Muschis krönten, hielt ich meinen Schoß beisammen. Lieber schabte ich mit dem Kopf an jeder Kirche, die sich mir bot:
'Eckstein, Eckstein, alles muss versteckt sein. 1 - 2 - 3 - ich komme!' spielte ich erst Verstecken mit dem Himmelreich, später dann Räuber und Gendarm, weil man sich an den 'Pforten zum Himmelreich' schon allzuviele meiner Jahre in den Sack gesteckt hatte. Immerhin fühlte ich mich bei jedem Gottesdienst weniger abgebrannt, gar recyclebar, weil so Hohlraum um Hohlraum in meinem Kopf trockengelegt und vorbereitet wurde, Stein für Stein zum Kirchenschiff ausgebaut zu werden. Obendrauf ein Turm, der wie eine Eselskappe in die Höhe ragt.
Wie die Sterne wohl urteilen über einen Kopfreiber und Schoßkneifer wie mich?
'Dein Kopf ist der Stein, Dein Maul die Schleuder!' bin ich mir selbst ein Richter. Einer von weither: durch das Guckloch der Schänke, einen Steg aus Heimwegen entlang, sehe ich mich stehen als mein Richter. Als sei jede Zelle meines Körpers ein Knecht und er der Herr.
Des Nachts spricht er sein Urteil. In dem Park, in dem wir Kinder waren, unter dem Gesetz der Wälder stehend. Wie vergebens eine Pflanze, die das Maß ihrer Blüte überschreiten will, dort draußen im Dickicht lungert. Blind für das Licht der Pfade, taub gegen jeden Flügelschlag, nur ihres Schattens Kamerad.
Nein, das Haus, um dessentwillen man mich aus dem Schlamm der Schöpfung zog, hat sich mir nie offenbart. Wohl war ich einen Tag, vielleicht eine Stunde auf der Höhe meiner Hausnummer, hatte sie aber sicher niemals ernsthaft auf dem Zettel. Und selbst wenn, wäre ich weiter, hin zu den Hausnummern der gelobten Leute.
Schmal sind die Wege mir geworden, gleichgültig, beleuchtet wie ein Herbstabend in einem Vorort. In den Taschen nur ein Schlüssel, der nichts mehr öffnet. Soll ich so nun weitertaumeln, immer weiter, bis die Nacht über mir ausgekippt wird? Und in dem Keller, den das Dasein mir aus den Knochen vergangener Tage notdürftig zusammengebunden hat, blickt die Graberde mit jedem Meter dreister durch die Ritzen.
Sollte ich mich absondern von der Tränke und von all der Zivilisation, die um sie herum erschaffen worden ist, fände nicht nur mein Schatten sich bereit zur Reise. Viele Leichtgewichte unter meinen Tagen, hätten sie denn Flügel, würden sich sofort
heimwärts wenden, würden mit wehenden Wimpeln und mit am Hosenbund verhakten Haustürschlüssel die Luftlinie nehmen zur Stätte ihrer Geburt. Hinein in die Spätvorstellung eines Trickfilms, den jeder im Erdenreich zu seinem 'Nest' erklärt: falsche Bärte gibt es da zu sehen und Gemächte, die unterhalb des Bildausschnitts zucken. Unterhalb des kleinen, grauen Monitors, den die Hirnforscher 'Hippocampus' nennen. Von grünen Nachtlämpchen beleuchtete Schneideräume, in denen Männer keusche Kreuze tragen und dabei ausschauen, als hätten sie sich gerne etwas wegnehmen lassen. Der Hippocampus montiert unsere Tage zusammen und legt sie in den Erinnerungen ab. Er tut das wohlwollend und er versteht es, unser Tagewerk mit ehrbaren Gründen zu schmücken. Im Hippocampus fällt kein Hossa auf blinde Erde. Kann einer an gegen solch ein lichtbespieltes Leichenhemd?
Versuche, sein Leichenhemd abzustreifen, beantwortet das Erdenreich mit zusätzlichen Lasten. Für jeden fragenden Blick, den wir in den Himmel werfen, eine Schippe mehr. Diesen Markt lässt das Erdenreich sich nicht streitig machen: entweder man heftet seinen Blick auf die Erde oder man geht vor der Zeit zu Boden.
Für das Erdenreich sind wir Blutflecken auf einem grünen Tischtuch. Zwischen Blumenleichen, die, mit Wachs überzogen und an Drähte gehängt, einem grausam blühen.
"Eher proste ich dem Tod zu, als mich von Euch Säcken voll Erde bedrücken zu lassen!" rufe ich Freund Flip hinterher.
Erneut bei Tisch, mobilisiere ich Finger für Finger. Bis alle Fünfe meiner Linken sich anfühlen, als seien sie mal aus Papier, mal aus Stein, jedenfalls die eines Jungen, der dem Stein das Papier überziehen will. Und ehe ich es mich versehe, ist auch meine Rechte mit von der Partie: Karateschläge, die aus Bilderbüchern stammen, gegen eine Auslese an Steinen. Endlich beide Hände erschöpft ineinander zu falten, zart wie das Kinderwort zur Fürbitte.
"Vater?" probiere ich.
Zwei, vielleicht drei Väter in Sichtweite. Der erste nimmt jauchzend einen Zug vom kühlen Blonden. Der nächste befingert ein Handy. Dick sind seine Daumen von all den vielen Redensarten. Dem dritten unter Vaterverdacht wachsen bei der Bardame Ohren, wie sie kein Kind jemals zu Gesicht bekommt.
"Grabbelt Ihr nach dem Himmelreich, ja?" Diesen Vaterwesen gegenüber sind meine Zeigefinger wie zwei Nadeln, die sich bereit machen, herzhaft in drei Luftballons gestossen zu werden: Der Mundvoll. Der Daumendruck. Das Ohrsein. Dreieinigkeit Daddy!
Meine Kinderstube empfand ich als Telefonzentrale des Himmelreichs. An den Wänden drei überlebensgroße Geschöpfe eines göttlich bestimmten Weltenalls: der Unverwundbare, der Blitzeschlagende, der Donnernde! Und über meinem Bett, kleiner, der karatekämpfende Mensch. Wie er sich vor verschlossenen Toren herausfordern lässt von einem verwitterten Schild, welches bekannt gibt, dass der Garten Eden wegen Geschäftsaufgabe niemals mehr geöffnet sein wird.
Als das Erdenreich mich dann anderenorts mit einem Jugendzimmer neu bezogen hatte, verblieb mir von der Telefonzentrale nur ein Handapparat, dessen Anleitungen umso mehr Raum beanspruchten. Anleitungen, aus denen ich lernte, dass der, der seine Quelle sucht, sie längst verloren hat.
Der Heiland, den Kinderhände mit der Laubsäge vom Holz getrennt haben, führt keine Aufsicht mehr über meinen Kopfknast. Vor Jahrzehnten machte er sich davon. Vielleicht Hand in Hand mit dem verwunschenen Vater? Dann wären die vielen Katechismen ein Schlafwandeln durch verlassene Räume gewesen. All die Lokalrunden in meinem Kopf, all das Hosianna und all das herzhafte Gelümmel von einem, der sich begnadigt fühlt.
Vor der Kreatur, in die ich gesperrt bin, wird sich kein Meer teilen. Kein neuer Himmel wird ihr aufgehen und keine neue Erde. Und während die Lämmer flüchten auf den Schoß ihres Vaters, verbleibt ihr die Kammer, die sich 'Tod' nennt.
"Nun tüte Dich mal ein!" klopft eine Kraft mir aufs Holz, den anderen Arm beladen mit Pfännchen, welche akkurat entleert worden sind. In Münder, die, derart befüllt, erneut der Liebe gedenken können.
"Für eure Tüten bin ich zu groß!"
Die Pappen aus den Micky Mäusen kommen mir in den Sinn, wie ich als Kind daraus Schachteln mit aufgedruckten Mauern bastelte, und kaum eine Spielfigur klein genug war, dort hineinzupassen. In so einer Schachtel trampelt natürlich keiner oder ist irgendwie laut. Dann ist schnell der Boden weg oder das Dach.
Hätte ich mich in diesen Schachteln wenigstens hinlegen können!
Ich werfe meine Arme in den Luftraum der Schänke, als gäbe es dort etwas zu greifen. Etwas, das mich zurückzieht in das Gespinst, das meine Kinderstube war: mir den Vorhang herunterlassen können, und niemals bang zu sein um ein Erwachen.
Kein Kind ahnt, dass vor seiner Kinderstube, im Land des Todschicken, die diensthabenden Erwachsenen nicht bloß so tun, als wäre ihnen nach einem tüchtigen Rausch. Stets gewetzt von der Frage, ob sie es sich mit ihren Verbindlichkeiten gut besorgt haben?
Später dann kam mit dem heruntergelassenen Vorhang der Onkel Doktor. Hans-Werner hieß meiner. Sein Schwert stach mir fast das Auge aus!
Was meine Kinderstube mitschnitt an Blöße, verblich keineswegs zur Guten Nacht, es ätzte sich in meine Träume und wucherte bald aus jedem Vaterunser.
'Probier mal, noch ist es kostenlos!' säuselten die Mitschnitte menschlicher Blöße. Dann schlängelten sie sich auf die Rücksitze meiner Kinderstube. Um kein Versprechen bang, und greiffreudig! Getrost bis tief in die Einöde. Für ein paar Hände voll vom Filet aus fremden Hosenställen. Hauptsache man saftete sich dabei genügend Gegenwart aus dem Leib. Als könne jemand das Erdenreich untenrum zur Ader lassen, bis die Schlote rosa Watte speien.
"Liebemacher sind die Egel an den weiß verputzten Wänden der Eigenheime!"
lächle ich dem Blaustrumpf zu, der seinen Busen in einem Einkaufsnetz in den Handelsverkehr der Schänke gehängt hat.
Bald patrouillierten vor meiner Scham keine Posten mehr. Niemand hielt mich länger frei von den Liebemachern, die mir flink in meine peinlichsten Säfte glitten. Stattdessen tobte eine marodierende Mündigkeit um mich her. 'Glück' die Parole, Brandbeschleuniger das Mittel. Eingezogen von einem Kriechkeller vor den Toren der Stadt, fühlte ich mich berufen, das 'Glück' auszuleuchten als eine Steppe, die das Erdenreich degradiert zu einer Ansammlung von Sandburgen. Ausgerüstet mit einer Leselampe, robbte ich aufgeregt durch meinen Kriechkeller und wähnte mich in einem Gefecht mit den Ausgeburten des 'Glücks': Giftkrebse und Grapschvögel, die es in ihren Sandburgen immer weiter treiben wollten. Ein kleines und schlecht besuchtes Schattentheater inmitten von schamrasierten Rasern, die mit Händen voll Rosen im Weißwein dümpelten.
So ziemlich bittermandel, schiebt mein Gemüt mich wie ein Reptil durch die untoten Wachsblumen, 'Glück' glotzen.
Hinter den Wachsblumen, am Nebentischchen, ersäufen sich zwei Kumpane. Offenbar von der Bauarbeit, führen sie ihre Humpen ins Feld wie ein Marschall seinen Stab. Einträchtig tönen die Kumpane von ihrem Tischchenreich. Und wie sie tönen! Als würden beide einander mit jedem Wort den Schädel aufs Holz schlagen.
Aus der Jackentasche des einen lugt 'die Sonne'. Nicht die freischaffende vom Himmel, sondern die faltbare vom Boulevard. Hing während meines Schulwegs jeden Tag neu im Schaufenster der Drogerie, mit ihren Schlagzeilen für Ordnung zu sorgen in den Köpfen der Leute. Für 'Aufreger', die wie ein Lagerfeuer sind, vor dem sich alles sammeln kann. Aber was verstand ich Kind schon vom Wutbürgertum?
"Psst!" mache ich. "Psst!"
Lange vernehmen beide mich nicht, ehe endlich von den Kumpanen der Herzhafte sich ans Ohr fässt.
"Psst!"
Noch nicht vollends entdeckt bin ich, als ich beginne leise (leise!) ihre 'Sonne' zu rezitieren:
"Oben ohne Möchtegern: neuer Kerl hat mich vor Diebstahl und Banden gerettet. Der mittellose Trucker erhielt freche Sex-Texte, und ein Selbstmordgedicht. Daddy dachte an ein märchenhaftes Ende, als er bestohlen wurde."
Die beiden Kumpane wenden sich mir zu, als sei ihnen unverhofft ein Stück Wild vor die Flinte gelaufen. Der Herzhafte, ein Ledernacken in Arbeitskleidung, wuchtig und voller Drall, macht die Front. In seiner Hinterhand der zweite Kumpan, klotzig vom Wuchs, ein Propfen, wie er in trauten Heimen steckt.
"Wat 'n Gör!" knurrt der Heimelige.
Dat Gör kann man gewähren lassen, dat Gör kann man aber auch verdreschen.
Kurzum, zwischen uns herrscht jener reizvolle Augenblick, der richtet über ein Dasein, und ich hebe ihm zu Ehren keine Silbe weit die Stimme: "Wegen Betrugs verurteilter Boxer saniert sich mit Horoskopen. Designhengst feiert fette Hochzeit auf Schweinefarm. Vom wütenden Stier durch die Luft geschleudert: Mum küsst Weinflasche zum Abschied. Auf Klo: Pastor belästigt, als er in seinem Höschen arbeitete."
"Was bist denn Du für 'ne Schale Kanonenfutter?" der Herzhafte hat sich eine Krone angetrunken. Entsprechend blaublütig gedenkt er meines Wesens, ob ich ihm 'de Aff' machen kann?
"Schande! Gerichtsschnüffler fummelt mit Affäre zwischen Weihnachtsspielzeug. Eifriger Biber bringt Beziehung ins Wanken. Katze verkauft Jungfräulichkeit auf Geburtstagsfeier."
Mir geht der Mund, als wolle er fort vom sinkenden Schiff, künftig dem Herzhaften zu dienen, oder wenigstens der Heimeligkeit.
"TV-Idol greift Payday Pigs von Traumfabrikant an! Klatschproduzent enthüllt Samenraub. Auf rotem Teppich: Oma organisiert Flashmob, mit den Säcken der Stars für Prostatakrebs zu werben."
"Payday Pig!" bläht der Heimelige die Wangen. Derweil seine Fäuste ausschauen, als würde er Wissenschaft mit ihnen treiben.
"Mach mal Männchen!" gewinnt auch der Herzhafte an Entdeckerlaune, welch Sonderling sich da neben ihnen aufgetan hat!
Ich präsentiere meinen Kehlkopf und ich tippe mir mehrere Male aufs Unterkinn, ob das heute noch was wird mit den beiden Brocken von der Wildbahn am Nebentischchen?
Wie aus einem hohlen Baumstamm rezitiere ich nun. Nicht mehr zurechnungsfähig, geschaffen für den Gnadenstoss einer gesunden Geisteshaltung. Gerempelt in die Mitte des Schankraumes, wo langezogene Fratzen mich in mundfeine Happen reißen. Für ihren Meister, den großen Müllschlucker hinter sämtlichen Müllschluckern.
"Einsam auf den Gipfeln von Morgen: unterstützen Sie den Appell für die Ausgestoßenen der Schönheits- und Fitnesswelt! Amt lädt böse Mutter zum Bummeln ein. Grünäugige Nutte, zu unhöflich zum Drucken."
Der Herzhafte grölt Lokalrunde. "Aufs Pöttchen mit Dir Blumenbuben!" drückt er mich zurück wie eine herausgesprungene Sicherung. "Steck' Deine Saftpresse in das Sparschwein da unten. Damit Du Platz behältst und nicht runterfällst von Deinem Erdbällchen.”
Auf der linken Brustseite meines Schattens öffne ich eine Tür, die, von der das Kreuz abgerissen worden ist: durch ein Treppenhaus aus Erinnerungen, grob wie haufenweise Pflastersteine, poltere ich Stufe für Stufe heimwärts, bis mir nur ein Zimmer bleibt mit einem Puppenhaus, darin den Puppen die Köpfe hängen, verdreht, völlig von der Leine, als wäre im Puppenhaus die Freiheit eingeschlagen. Keine Freiheit, die etwas zu schaffen hat mit 'nem Singvogel oder mit einem Wurf Katzenbabys, sondern die Freiheit der aufwirbelnden Asche! Von brennenden Dornenbüschen in den Wind geschlagen, die Steppe zu nähren.
Durch solch Weiten aus sich umtuender Asche irrte ich bereits, als meinem Gewese ein Kindskopf vorstand: Wache schob ich, damit mir mein Anteil Fleisch nicht eines Nachts verloren ging im Klee der Tränken. Tränken, die sich inmitten der Aschefelder hielten, als seien es deren Mäuler. Von grünen Büscheln bewachsene Löcher, vollgestopft mit Glücksgefühlen, welche einem den Schoß hinauf an die Luft wollten. Fahnen der Fruchtbarkeit, wie sie meinen Kindskopf im Schlaf leicht übermannten. Und niemand Erwachsenes stand dagegen im Ausguck, sein Joch zu werfen nach der kleeenden Bande, niemand, dem ich meinen vom 'Glück' angekokelten Kram anvertrauen konnte.
Futur eins und Futur zwei taten keinen Dienst im grünen Klee. Der Klee der Tränken besaß bloß jenen Trieb ins Präteritum, den jedes Unkraut ehrt: Gier als eine Sänfte, Wolllust an jedem Ende.
Eine Welt, wie wenn ich damals im Keller meiner Modelleisenbahn das Licht gelöscht hätte: rumpelnde Triebwagen auf den schmalen Spuren eines hölzernen Bodens. Dazu das Summen von Trafos, die zu Herzen man ernannt hatte.
Eine Welt, die uns wie Zecken aus ihrer Erde drehte, bis wir uns blutleer verkrümelten.
Und trotzdem maß ich mir eben diese Welt an, kaum dass ich meine Hände zu Fäusten ballen konnte.
Niemals aber ging mir auf, wie tiefgehend der Klee des Präteritums die Bürgersteige zersetzt hatte, welch eine Gewalt an Gärstoffen selbst die Denkmäler durchzog. Was ich als Fackel ansah, war zu keinem Zeitpunkt mehr als eine Kerze, die so traurig in der Asche stand, dass ich noch in der Erinnerung ihr mit bloßer Hand in das Flämmchen fahren möchte, sie mit meinem Schmerz zu erlösen.
Nimmermehr will ich meinen Kopf recken nach dem trunkenen Geschäft der Bürgersteige, nach den Possenrissen des menschlichen Verkehrs, denen alles Durchreise ist und traurige Pflicht. Ein schußbereites Aneinanderklumpen, alles Erschlagene aufzulecken, damit von unserer Schöpfung nur Knochen bleiben.
Wohin also mit meinem bleiernen Tagewerk, das handelt mit Früchten, die in ihrer Verderblichkeit keinen Handschlag wert sind, wie bekomme ich solch faule Saat unter die Füße?
Kräuterkundige Krokodile und schmusende Schlangen: ich will meine Lebtage nicht mehr verkleidet sehen mit ihnen. Für Schatten möchte ich sorgen, wann immer Wunderkerzen sich aus der Asche schieben, mir mit aufgeblasenen Kunstgriffen meine Natur auszublenden.
Ich inspiziere die als Himmel verkleidete Decke der Schänke. Hellblau gestrichen und mit mehreren hundert Watt belichtet, als ließe sich dort die Welt von Morgen bestaunen. Daran gehängt der Tand des Kolonialwarenhandels. Ich befühle Seemannslaternen (wem sie wohl leuchteten?), niste in zerrissene Fischernetzen (wer ging darin zugrunde?) und lausche verblichenen Schiffsminiaturen (wie geschäftsmäßig sie tun!). Schollen in einer Kuppel voller Lügen.
Selbst der Himmel der Schänke ist ein Absturz! Ein wohltemperierter Absturz. Barhocker mit Plüsch auf den Lehnen. Umsorgt von gemieteten Mädchen, deren weiße Dirndl erinnern an frisch bezogene Stationsbetten. Batterien von Humpen hängen über dem Tresen, als zählten sie zu den Totschlägern einer finsteren Fischerei, die manchem Kopf gerne nachhalf. Allem aber steht die Sonne von einem Zapfhahn vor: erhaben wie jener Tabernakel, dem ich mich während meiner Kindertage verbunden fühlte. Als Ministrant im liebevoll aufgebügelten Leibchen, kauernd mit anderen liebevoll aufgebügelten Leibchen hinter dem Altar.
Und beinahe hat der Wirt etwas von einem Pastor. Diese Bedächtigkeit, mit der er zapft. Als wolle auch er keinen Tropfen verschwenden vom Blut eines Heilands.
Vom Empfang der Sterbesakramente ist hier also nirgends die Rede, vielmehr von Hymnen, die es zu singen gilt: 'Heiliger Wirt, befreie mich von meiner Alten!'
Ich suche nach Spuren, nach irgendeiner Achtlosigkeit gegenüber den Segnungen des Zapfhahns. Vergebens. Nichts trübt das Grün der Tischdecken. Selbst die Bodenbretter, die tun, als wären sie aus einem Boxstall herausgerissen worden, scheinen sich keiner Schuld bewusst zu sein. Nirgends offenbart sich mir ein Augenblick des verzweifelten, brutalen, erschöpften Zechens. Wären nicht die beiden ausgesessenen Ledersofas, mit denen der Wirt eine Ecke eingerichtet hat für junge Trinker, die Schänke würde alles Dasein grußlos schlucken: 'Siechet hin in Frieden!'
Eines der gemieteten Mädchen ist abgestellt für das Grammophon. Chansons legt es auf. 'La vie en rose.' Mal schaut es dabei nach seinem Handy, mal nach den feschen Cognacurnen über dem Altar. Stahlblauen Mädchenaugen, wie sie vorbeiwischen an den Daguerreotypien verblichener Stammtische, an wappengeschmückten Westen, an Ballsportliebhabern allgemein. Und stets macht das Mädchen dabei ein Gesicht, als läge entschieden zu viel Unrat auf unseren Bürgersteigen.
Aber wem ist abgeholfen mit Blicken und Gesten, wem mit Kehrwochen? Nirgends ein Mädchenjahr, das vom Unrat nicht zu Tode gehetzt wird. Weil Unrat IST. Weder verdirbt Unrat an einem Herzen, noch krankt Unrat an einem Gemüt. Hingegen jedes Mädchen von Erde erstickt, vom Wasser ersäuft, vom Feuer verbrannt und vom Wind in Fetzen gerissen wird.
Und wer lehrt uns einen solchen Tod? Der Primat!
Und siehe, aus Erde und Feuer, Wasser und Wind wendet sich ein Primat dem gemieteten Mädchen zu. Greis der Primat und fahl, massig sein Nacken. Vieler quälender Minuten bedurfte es, bis ihm auf den Barhocker geholfen ward. Nun aber sitzt der Primat im Sattel. Nun ist er Primat genug, ein Mädchen zu fordern.
Er betastet seinen Bierseidel. Er versichert sich des Arbeiterordens, der ihm an die Brust geheftet ist. Heiser, wie aus Flammen, krächzt er in Richtung des Grammophons: “Champs-Élysées!”
Das Mädchen setzt das Lächeln auf, zu dem es als 'Reklamehuhn' vertraglich verpflichtet ist. "Der Herr wünschen?"
Es wird still um den Primaten und das Mädchen. Man lauert auf einen garstigen Paarungsakt. Einen Paarungsakt, wie er sich ansonsten zutragen mag im Programm spezieller Varietés.
Tatsächlich, während der Primat Front macht in Richtung des Mädchens, rutschen ihm seine Beinchen auseinander. Das Mädchen holt die Schneidezähne vor beim Anblick der kleinen Trüffeltagliatelle, die im Schoß Druck ausübt auf den ganzen Primaten. Es taxiert den Primaten mit der beschissenen Laune eines Mädchens, das vor der Zeit in den Unrat gezwungen wird.
"Fremdling!" sagt es. Schlachtruf offenbar für die körpereigene Abwehr des Mädchens.
"Bleiben die Frauen aus, fällt alles Fremde!" krächzt der Primat. Er sei im Primatenchor einst der Bass gewesen, und: "Nenn' mich Monsieur!"
Der Primat will durch Szeneabsteigen und Stübl in die ewigen Jagdgründe tänzeln.
"Alkoholfreies kannst Du dem Wasserhahn entnehmen!" sorgt das gemietete Mädchen für Umsatz. Einen Fünfziger Verzehr, dann will es gerne schwätzen und Monsieurs Kumpel sein, Knüffe inklusive.
Der Primat, er ist nun ganz Monsieur. "Branntwein!" ordert er. Man solle die Schänken nicht aussterben lassen!
"Auf Monsieur!" sächselt das gemietete Mädchen, ehe es Platz nimmt neben Monsieur Primat. Erkennbar launisch nun, ein mit Rouge überzogener Dämon gar. Es wird jeden Schluck, den Monsieur ihm gönnt, mit den Fäusten nehmen. So dass der zum Monsieur ernannte Primat am Ende beschmutzt ist wie eine Kirchenruine, die abgerieben ward mit der Asche eines Baaltempels.
Hoch lebe der sechste Tag der Schöpfung!
Im Abseits meines Herrengedecks proste ich dem sechsten Tag der Schöpfung zu. Besonders jener vorgerückten Stunde, in der die Jubelgreise schlüpften. Auf solch dreiste Weise hungrig, als sei allzeit Halbzeit, und als hätte der Sommer niemals aufgehört, nach ihnen zu fragen. Trommelnd ziehen die Jubelgreise in sämtliche Glotzen ein. Ob knallig beklebte Banden, überlebensgroße Reklamen oder gemietete Mädchen: die Jubelgreise fühlen sich umworben! Braun vor Sommerfrische, mal am Knochen hängend, mal im Fett stehend, geben sie ihre Bestellungen auf bei Mütterchen Erde.
Träte ich nun finster an den Tisch, den die Jubelgreise sich gedeckt haben, man würde mir an den Hawaiihemden die Christenkreuze vorhalten, wie Ehrennadeln würde man sie mir vorhalten, ganz und gar Champs-Élysées. Entgegenschmettern würde man mir Hohelieder, gemäß denen das Dreschen von Grands zum ordnungsgemäßen Gebrauch des Daseins zählt. Und Weißwein böte man mir an, direkt aus dem Tabernakel. Als ein Attest, sich in das Herz der Schöpfung getrunken zu haben. Für ein paar süffige Schlücke mehr aus grünen Friedhofskannen.
Ich nippe am Bier meines Herrengedecks, bin niemals mehr gewesen, als ein Nippen. Nirgends ein Augenblick, den ich leerte bis auf den Grund. Was nützt mir ein Grund, auf dem niemand bauen will? Es tut nichts zur Sache, warum ein Bier hier steht und ich davor hocke. So oder so versickert am Ende der Schankwirtschaft alles Gebräu in einer Tiefe, von welcher niemand weiß, wer darüber herrscht.
Und trotzdem: mit schäumenden Lippen sehne ich jene Wüstheit herbei, mein Bier in einem Zug leeren zu können. Kehlkopf sein unter Kehlköpfen. Kehlköpfe, die mir während meiner Kindertage das Maß allen Durstes waren. Wie Ochsen pflügten sie durch das Fleisch, derweil ich in mir niemals mehr wahrnahm, als den Schnabel eines Spatzen: kaum schmeckte ich einen Tropfen Ochsenstärkung, spie ich aus. 'Limonade, bitte!'
Als mein Jahrgang geschlechtsreif genug war, nach Ochsenstärkung und Schöpferblut zu verlangen, blieb ich genussfrei. Ich kam nicht auf den Geschmack. Während alles Stimmbruch war und Bart und Kehlkopf, stand ich verkleidet in meiner Manneskraft. Bloßgestellt von der Art, mit der ich mir von den Kartoffeln nahm: völlig ohne Stolz! Ab ging mir jene Selbstverständlichkeit des Zulangens, die künftige Familienvorstände krönt. Auf welche Weise sollte ich so je mein Herrengedeck finden? Seither halte ich mich an Limonaden fest, als feiere ich immer noch Kindergeburtstag.
Beinahe zwei Meter in die Höhe wuchs mir der Kopf. Mein Herz aber blieb zurück. Obwohl auch der Brustkorb sich entfaltete wie die Krone einer deutschen Eiche, in deren Geäst die Innereien wie Krähen hockten. Welch Kräfte mit einem Male im Fleisch lauerten! Kein Auge wollte mir mehr zufallen, so sprungbereit waren Arm und Bein.
Das Spielzeug, das mich einst getrost sein ließ, es stierte auf meinen Knochenwald, als fürchte es, von ihm erschlagen zu werden.
Während ich noch schwankte wie verwunschen, griff auf dem Schulhof alles um sich. Das waren keine Hörspiele mehr. Niemand mehr, der mit angewinkelten Knien lauschte und lauschte. Man begehrte, man suchte zu nehmen. Was dort reifte in den Raucherecken, ließ mich reifen für meine Lehre in der fleischverarbeitenden Industrie: ein Schlachter mit Spatzenschnabel!
Deutet Monsieur Primat da etwa auf mich? Das Blut will er dem gemieteten Mädchen zeigen! All das Blut, in das ich getaucht bin! Dagegen hilft keine Verkleidung aus Massenware, Größe XXL. Dagegen helfen weder Herrengedecke noch Limonaden. Schuldig musste ich werden auf Erden. Wenn nicht an gemieteten Mädchen, so wenigstens am Vieh. Und aufs Vieh warf ich mich denn auch, zappelnd vor Lust und vor Abscheu.
Der stiere Blick des geschlachteten Viehs ist mein seltsamstes Geschäft gewesen: die toten Augen spiegelten eine Welt, die getaucht war in das schwarze Blut des Leibhaftigen. Höhnische, zu Stahl gefrorene Kugeln, die unserer Fleischeslust das Angesicht zermalmten.
Dagegen blieben mir die Blicke der Frauen eine stumpfe Angelegenheit. Belebt allein von Tränendrüsen. Salzige Süppchen, die kein Maul jemals stopfen würden. Was es im Schlachthaus nicht gab, konnte Wahrheit nicht sein. Und flennende Schweine hat die Welt noch nicht gesehen.
Das Schlachthaus also. In Cordhose und aufgetragenem Hemd. Der Fleischboss selbst empfing mich. Blaumann trug der Fleischboss, mit Botten aus Blei. Entschlossener wirkte er als jeder Heilsbringer des Wilden Westens. Auf gepflasterten Wegen trug der Fleischboss die Tradition seines Schlachthauses vor uns her: 'Denke daran!'
Das machte die Erwachsenen für mich aus, dass sie mit krachledernen Stimmen ihre Nichtigkeit vertraten. Als wären sie gesuchte Ratgeber von Erzengeln und Prälaten. An allen Ecken und Enden bildeten die Erwachsenen sich Meinungen, welche weder die Ecken noch die Enden betrafen. Zwar rief der Fleischboss, während er eine gutbürgerliche Portion Größenwahn genoss, weder Kaiser noch Kanzler zur Ordnung (und mit Engeln hatte man es in der Fleischerei schonmal gar nicht), aber die Schlachtsitten aus mehreren Jahrhunderten zog er sich rein wie seine Selbstgedrehten.
Der Schlachthöfe Pflasterstrand! Seit Jahrzehnten spüre ich ihn unter den Füßen, als stünde ich noch in meinem sechzehnten Lebensjahr, als faule das Fleisch des Fleischbosses nicht längst in magerer Muttererde.
Jene weiten Flächen aus groben Steinen, auf die der Regen niederging. Graue, nasse Klippen, an deren Ende der Tod sein Maul aufsperrte, das waren die Morgenstunden meines Daseins. Was baumelten da für Ketten überall auf den Höfen, was für Schellen! Welten hätte man daran hängen können. Fuhr dann der Wind in die Ketten und in die Schellen, musste einem alle Welt absurd klingen. Und die Fleischerhaken! Mit meinen sechzehn Jahren ahnte ich nichts von den Fleischerhaken. Weder wusste ich, dass man beizeiten Menschen daran befestigte, noch spürte ich das sanftmütige Wesen der Fleischerhaken: wie Schlangen im Gras schwangen sie sich auf zu Zähnen, die in ihrem Werk den eisernen Dornen an den Schlachtlinien glichen, aber doch vielmehr eine Blüte unserer Lust am Fleisch waren.
Vom Fleischboss wurde ich unter die venenblauen Arkaden zitiert: es sei gerade eine ausgestallte Ladung Rindviecher auf gutem Wege.
Ich fragte nach dem Plätschern hinter uns. 'Wasser, elektrisch geladen!' dröhnte der Fleischboss. 'Die Stromschläge sorgen dafür, dass auch das Federvieh seinen gottverdammten Sinn erfüllt!'
Aus den Ruheräumen in ein tödliches Taufbecken und mit baumelnden Köpfen weiter die Schlachtlinie entlang.
Ruheräume?
'Warm wie der Bauch einer guten Mutter!', der Fleischboss schaute in den dunklen Himmel. 'Ohne Licht, ohne alles! Beruhigen kann das Vieh sich dort nach seiner nächtlichen Ausstallung, und vorbereiten für den Übertritt in eine neue Welt.'
Ein Lastkraftwagen polterte auf den Schlachthof. Rampen öffneten sich. Münder öffneten sich. Münder, aus denen die Herren vieler Länder tönten. Menschen erschienen mir. Menschen, die schwarz trugen unter weißen Kitteln. Menschen mit Hauben und Helmen. Einem von ihnen waren seine Augen ausgekippt, ein anderer schaute unter dunklen Brauen fröhlich drein, und blieb doch ein Strich von einem Mund. Schweiß glänzte im Licht der Scheinwerfer, Adern pochten unter wulstigen Drüsen. Aus dem Lastkraftwagen drängte eine Masse Pendler, denen offenbar ihr Frühzug entgleist war. Alle im Stress, teils empört, teils voll Unbehagen. Sprechblasen gingen mir auf über deren Häuptern: 'Grrr! Schluck! Umpfl!'
Der Fleischboss spürte, dass in meinem Kopf langsam die Hauptvorstellung begann: 'Sehen kaum anders aus, als die in den Trickfilmen!' zwinkerte er.
'Im Kino können sie sprechen!'
'Warte mal, bis denen ihre Häupter abgeschlagen sind! Blicken dann nicht weniger weise drein, als unsere Altvorderen.' Er überlegte kurz. 'Bloß die Mäuler, die sind hier blutiger. Für Servietten mangelt es uns an Zeit.'
Das Haupt eines Rindviechs, das aussah wie das Haupt eines großen Alten! Beide Hörner verkohlt vom elektrischen Punch ins Jenseits. Das Maul blutig über und über. Getauft allein durch eine Ohrmarke!
Beinahe sank ich Knirps gen Morgen, wie in Schutz genommen ich ward durch meinen Namen! Was Namen hatte und Bande, ließ den Prügel allzu oft zögern. Während Vogelfreies tot beinahe mehr Sinn ergab.
Und so ergoß es sich denn aus dem Lastkraftwagen in den Leib seiner neuen Mutter.
Derweil aber in dunklen Schlunden die Gebärvorgänge ('in eine neue Welt') einsetzten, führte der Fleischboss mich ab durch das Grün und das Blau seiner Bolzenschießerei.
'Schaut aus wie die Elektronik von Baukästen, was?' spähte er hinter sich. Als einen Kindskopf visierte er mich an, als zu zerwirkendes Wild. Ich schaute garstig drein. Abbalgen würde man mich Wohlstandsgör! Bis nichts an mir mehr angewärmt war von der Zivilisation, sondern alles roh und 'bloody' in Richtung der Schlachtlinie zeigte. Und das, das ließ mich frohlocken!
Als wäre er irgendwie 'warm' geworden mit mir, wies der Fleischboss in Richtung eines Schweinshauptes: 'Wenn das kein ausgewachsenes Schlitzohr ist!'
Tatsächlich war ein Charakterkopf übrig geblieben von der Schweinerei: Augen, welche flink ihren Platz gefunden hätten in den Kinderherzen. Ziviles Halbprofil. Nichts, was sich unterschied vom Berufsverkehr unserer Städte. Vor allem aber das Maul wirkte, als wäre es nicht bloß zum Schwein sein gut gewesen. Noch im Tode schien es etwas abzuwägen. Über einer Kehle, die durchtrennt worden war mit dem roten Mund eines Clowns.
'Hol mal Luft!' ward ich aufgefordert. Drei, vier Schritte wölbte ich mich, ehe ich zitternd wie ein Erpel zusammenfiel.
'So duften entleerte Schweinebäuche!'
Der Fleischboss griff nach den Handschuhen. Handschuhe, die massiv waren wie Kettenhemden!
Nach mannsgroßen Beilen langte er. Allesamt zum Spalten verschiedenartigster Viecher.
'Denke daran!'
Der Fleischboss hieb in den Torso eines Schweins. Es klang schmatzend wie der Biss einer Höllenfurie, dann wie der von zweien, ehe die ganze Hölle auf den Beinen zu sein schien, dem Fleischboss mit ihrer Glut das Angesicht zu versengen. Ein letztes Anschlagen der Ketten, welche den Torso hielten, schon baumelten zwei Schweinehälften im Grün und Blau der Bolzenschießerei.
'Denke daran!'
Ein Schlachter mit Spatzenschnabel! Die Gesellen wussten ihre Fäuste kaum zu beruhigen. Wieder und wieder hieben sie auf die Tische des Pausenraumes, obwohl ich die Herren Gesellen überragte um ein, zwei Köpfe. Aber ich musste auf sie gewirkt haben, als wäre ich aus sämtlichen Nestern gefallen. Ein trällerndes Seelchen, welches Heimat darin finden wollte, Schweinehirne zu penetrieren mit Schlachtschussapparaten!
'Die Pneumatik fasziniert mich', stammelte ich. Von meiner Vorstellung völlig aus dem Zusammenhang gerissen, machte ich Handbewegungen, als würde ich einen Schuss aufsetzen: 'Volle Ladung!' Ich errötete, wurde rot, bekam eine Fassbombe von einem Gesicht.
Der Fleischboss zog mich fort. Aufmunternde Rufe geleiteten uns zur Tür. Wahlweise empfahl man mir das Kühlhaus oder einen Platz im Partyservice der Schlachterei. Ich aber war verwandelt: die knielangen Schürzen, das schwere weißgefärbte Gummi der Stiefel - selten beeindruckte mich ein Dasein so in seiner Abwaschbarkeit.
Jämmerlich dagegen das Geckentum auf den Schulhöfen: festgeklebt durch Gele und Cremes, bis zu den Zehen verpuppt im eigenen Moder, würde keiner dieser Gigerl sich lösen können vom Tode.
Im Schlachthaus drohten mir weder Samt noch Seide. Beinahe wollte ich ausspucken oder mit Blut spritzen, so sehr erregte mich das Fehlen aller Sorgen um 'Anschaffungen'.
Natürlich, die Fleischwölfe mussten fein sauber gehalten werden. Aber sie bedeuteten keine Zierde, der ich zu dienen hatte.
Stählerne Getüme, denen ich mit Hingabe behilflich war: ich fütterte sie auf eine Weise, die selbst fürsorglichste Tierinhaber gleichgültig erscheinen lassen musste. Wagenladung um Wagenladung bereitete ich meinen Wölfen mundfein zu. Auslösen und Entschwarten. Ausbeinen mit Messern, welche mir das Fleisch eröffneten, als hätte ich die Krallen eines biblischen Löwen. Bei Bedarf einige Arbeitsschritte mit der Säge.
Besonders das Entbeinen wurde mir zu meiner Herzensangelegenheit. Flink sichelte ich in die Schwarten. Schnitte, die, brächte man sie zu Papier, wirkten wie Zeichen aus einer uns unbekannten Welt. Oft rief der Fleischboss nach den Gesellen, mit welch Leidenschaft da einer sein Messer liebte.
So im Fleische, wer konnte mehr wissen von der Tiefe unseres Daseins, als ich?
Derart ausgezeichnet ward ich in meinem rentenversicherungspflichtigen Tötungshandwerk, dass ich vom Menschenwesen bald keinen Bissen mehr tun mochte.
Ob Klein- oder Großmaul der Liebe, ich fütterte sie alle ab: Candlelight Dinners mit Lammfilet, Gotteshäuser mit Festtagsbraten. Besessen war ich davon, andere speisen zu sehen. Köpfe, welche sich ihren Mündern nachempfanden. Heimlich lichtete ich solche 'Reinbisse' ab, und schnitt davor die Tischreden mit. Hunderte Reinbisse zierten meine Hochhausbutze, die Tischreden zog ich mir über Kopfhörer beim Schlachten rein.
Vor allem aber nährte ich mich vom Sound meines Schlachtmessers. Nie kam mir anderes in den Sinn, als die Wahrhaftigkeit meines Schlachtmessers. Ich Spatzenschnabel konnte so gutmachen, was das Leben mir voraus hatte an Klauen und an Zähnen. Dasein, welches über Jahre in Abzug gebracht ward von meinem Augenlicht, meinem Glauben und meiner Manneskraft, ich nahm es dem Schlachtvieh ganz. Jeder Stoß meines Messers beseelte mich mehr, als das Versprechen eines Muttermundes.
Was sollten mir Lämmer in ihren Pferchen anderes beweisen, als dass bei all den vielen Würfen des Lebens der Tod bloß sein Maul aufsperren musste?
Ich sehe nach Monsieur Primat. Mittlerweile steht eine Barfrau dem Reklamehuhn zur Seite. Gemeinsam erbauen sie den Monsieur, Stein für Stein, mit dem Wort 'Gentleman'. Bei diesem Wort nehmen sie ihn. Besonders das Reklamehuhn führt es wie ich einst mein Schlachtmesser. Bloß dass ich im blutigen Kittel lange nicht so Champagner war wie das Reklamehuhn, das nun einfach mag und mag und mag. Flaschenweise mag es.
"Weil ich mich wohl fühle mit dir!" versichert es dem Monsieur Gentleman.
Auf solche Weise ausgezeichnet, greift der Primat sich an die Brust: jetzt muss da aber das Herz eines Gentlemans schlagen! Was wären Feuer, Wasser, Erde und Luft ohne ein Huhn? Selbst wenn es nur Reklame läuft. Ein Huhn, ein Herz. So ein pralles, wallendes Herz, meine ich, das einem am Knochen gedeiht wie eine verirrte Samenblase.
Ohne ein Huhn, ohne den Hang zur Haltung von Nutzvieh, bin ich dem Tod vorgeworfen seit nun bald fünfzig Jahren. Durch Türen, Gänge und Himmel. Kein Weg, der mich, unter dem Gewicht meines Daseins, nicht dem Tod vor die Füße warf. Je langsamer ich machen wollte, desto weiter der Wurf. Wie ich mich auch zu retten suchte, rasch verwarfen Fliehkräfte mich mit dem Drall dessen, was ich gerettet wissen wollte.
Der Tod hing mir bereits an! Kopfüber, wie der rostige Anker eines leckgeschlagenen Kahns. Der Tod hängt an allem, was die Geldwechsler in den Tempeln uns übersetzen als 'Glück', der Lehrkörper in den Schulen als den 'Garten Eden' und die Casinos in den Kurorten als 'das Leben.'
Wenn der Tod nun aber gekettet ist an jedes 'Paradies', wie schaffe ich mir dann die Früchtchen dieses 'Paradieses' ab?
Eine Lobpreisung des Reklamehuhns kommt mir zu Ohren. Untergehakt hat es seinen Monsieur Gentleman. Man kippt Champagner mit der Hand, die einem am Unterhaken hält, verspricht klingend sich die Brüderschaft. Besser lassen sich unsere Sitten kaum bemühen: wo Dasein bereit steht zur Entfaltung, wird es erdrosselt mit einem Ritual. Glücklich, wer auf solche Weise selbst das Stück vom Dasein fortzitiert, das am schreiendsten im Angebot steht. Der schließt bei der Regelung letzter Angelegenheiten noch Brüderschaft mit seinem Bestatter.
Wie aber nun unser Schlachtvieh? Mag es auch dressiert sein, wirklich tänzeln kann keines auf dem Brett des Todes. Wo Monsieur Gentleman beizeiten nach einem Gotteslob fahndet oder wenigstens nach dem Nirwana, gibt es für kein Schwein etwas zu gewinnen. Es kann dem Schlachtmesser nicht begegnen mit der Vorstellung von einem Himmelswillen, es muss die Finsternis ganz nehmen. Entsprechend rein klangen mir die Laute, mit denen es verendete. Als wären dort Mühlsteine aus Nacht, so schob das Schlachtvieh den Tod beiseite. Damit es schauen konnte. Es wollte doch nur schauen!
Geführt in Ruheräume voll dunkler Ahnungen, an sich wohlauf, blieben dem Schlachtvieh die Geländer des Schmerzes und des Gebrülls verwehrt. Nirgends das grelle Licht eines Körpers, der sich selbst verspeist. Jener Schild aus Bresthaftigkeit, den wir Menschenkinder uns zur Sterbenszeit vorhalten, wenn es dunkel wird und abwärts geht.
Tatsächlich bedurfte ich umso weniger des Haltes, je mehr ich mir selbst die Schneide gab. Mit Gebrüll konnte ich wohl getrost ins Bodenlose stürzen.
Schlachterei aber ist keine Schlacht. Schweinehälften sind so wenig hilfreich wie die Ameisen, die ich als Kind mit dem Daumen ausdrückte. Man muss, zu allem Schneid und Gebrüll, auch sein eigenes Fleisch in Ring werfen. Oder eines der Schweine damit stopfen. Falls es so etwas wie Mitgefühl gibt, wenn beide Seiten hungrig sind.
Wie leicht dem Primaten das Reklamehuhn fällt! Er bezeichnet sich schlicht als Monsieur, lässt sich Gentleman heißen und fährt dahin mit seiner Dreistigkeit von einem Herz. Er vertäut das Reklamehuhn an seiner Primatenbrust. Sein Maul öffnet sich wie eine Naht am Gesäß. Zähne speicheln vor, famose Zähne. Mir bricht der Schweiß aus, Monsieurs Zähne während eines Reinbisses ablichten zu müssen. Aber nein, heute lassen wir uns den Gentleman gefallen! Des Gentlemans Unterkiefer wird also herab gelassen, dass man beinahe Ketten rasseln hört. Blindlings stürzt eine Rotte von Tuwörtern dem Reklamehuhn entgegen. Sie scheinen es auf dessen Hühnerherz abgesehen zu haben und knarzen allesamt wie ein altes Heimatmuseum.
Tuwörter, die hervorgekrochen sind aus den Eingriffen im Reich der Herrenunterwäsche, sie schlagen ein in den Kammern des Hühnerherzens. Und dem Reklamehuhn bleibt nur das entschlossene Ablöschen mit Champagner.
Monsieur Gentleman scheinen ein zum Marodeur erwachsener Primat! Ich fühle ihn zu den Waffen eilen, wie zum Weibe. Wohl weiß er längst um das Panzerschlachten, das meinem Dasein stets abging. Stahl, der sich mir niemals offenbarte. Vergebens suchte ich zwischen den Schweinehälften diesen Kern modernsten Miteinanders: ob mein Schlachtmesser mehr Sinn ergab, wenn es das Bajonett war auf dem Lauf eines Sturmgewehres.
Als Krieger geschmückt sein von den Maiden meines Stammes! Uniformiert, statt arbeitsbekleidet. Aber auf welche Weise sollte ich Spatzenschnabel jemals zur Klinge bei einem Hahnenkampf werden? Zwar mochte ich mich während der Trommelfeuer so gut anstellen wie bei der Fütterung meiner Fleischwölfe, doch stehend im Felde, eine Klinge an jeder Kralle, und mit dem Schlachtmesser voran, konnte ich unmöglich auf Beute aus sein. Bestenfalls Aasfresser, wäre ich nur einer von vielen laufenden Metern Schießbude.
All das Riskierte, all das, was wir dem Tod vors Maul geschoben haben, wird es nicht an Ort und Stelle eingezogen, so kommt es uns mit der Zeit abhanden. Verloren der, der eine Runde mit dem Tod übersteht. Kein Nagel im Fleisch nötigt uns so, wie das Überstandene!
Monsieur Gentleman lässt seine Hand auf den Tresen fallen: "Nicht wahr?"
Ein marodierender Primat, der Besitz genommen hat von der Vorstellung, ein Gentleman zu sein. Er ist sich handelseinig geworden mit dem Reklamehuhn. Sowas von handelseinig, dass die Barfrau ihren Segen spendet mit Likör aus einem gläsernen Totenkopf. Um Monsieurs Fortbewegungsmittel handelt es sich! Nach dem Schlüssel schnappt das Reklamehuhn, als wolle es Morgen bereits am anderen Ende der Welt Reklamehuhn sein. Während Monsieur im Gegenzug den Rest vom Reklamehuhn einfordert. Laute entweichen Monsieur, die gemahnen an das Aufbrausen eines Ochsen. Wem es peinlich ist? Dem Reklamehuhn nicht. Die Krallen fest um den Schlüssel zu Monsieurs Fortbewegungsmittel, mag es sich wegen ein paar Resten nicht mehr zieren. Freie Hand gewährt es auf eine Weise, dass den Jubelgreisen ringsum nach einer Revolution von unten ist: wie Rapper fahren sie sich in die Schritte, um dann staunend aufzuschauen, als hätten sie Gold gefunden.
Ich grabe meinen Spatzenschnabel in beide Hände. In Hände, die niemals aufgehört haben, sich zu pellen und zu schälen. Als wollten beide zur Hintertür hinaus. Fort von einem Dasein, das weder zum Schritt noch zum Gleichschritt einberufen ward. Nirgends eine Mannes- oder gar eine Wehrpflicht.
Mein Dasein, es ist ein Schlachtmesser gewesen. Gepresst in einen Haufen Graberde aus dem Baumarkt. Ein Schlachtmesser, das gestoßen ward in all jenes, was den Gemeinen als Aas durchging: feuchte Felle, blutschwangere Federn, Fett und Innereien. Und Knochen, Knochen, Knochen!
Urlaub vom Schlachthaus habe ich genommen. Resturlaub. Bei dem Nachfahren meines verblichenen Fleischbosses. Ein verzärtelter Pygmäe, aus Grabeslaune gezeugt, und zum Dahinfahren geboren. Er ahnte wohl, dass meine, 'Spind' genannte, Stullendose geräumt bleiben würde und leer. Eine kleine Ewigkeit aus Fachmagazinen für Fleischverarbeiter und weiteren verzweifelten Versuchen, mir die Erde untertan zu machen, sie endete im Abfallcontainer hinter der Schlachterei.
Der Pygmäe signalisierte Anteilnahme.
Mit dem Gesicht von jemanden, der eine Menge Erdenreich schultern konnte, wies er mich hin auf die Betondecke, die unsere Umkleide nach oben hin begrenzte. Sein Köpfchen fiel dabei nach hinten, als leere er einen Umtrunk.
'Freuen Sie sich auf Ihren Durchbruch!' sagte er.
Augenblicke, die uns ungerührt den Rücken zuwendeten. Als hätten wir die Frechheit, nach einem Schicksal zu verlangen.
Schon federte das Pygmäenköpfchen zurück. Wie ein Büschel Gras, über das der Wind hinweggegangen war. Obwohl ebenso niedergebrannt wie ich, ward der Pygmäe in Ordnung gehalten von dem Schlachthaus vor seiner Stirn. Jenem Testament seines Heiligen Vaters, das ihn, selbst mit mir im Türrahmen, weder einen Ausgang erkennen ließ noch einen Eingang. Und so verblieb der Pygmäe in seinem steinernen Familiengrab, mit Fleischwölfen statt Engeln davor.
Gentleman! Gentleman! Umschlungen von den Jubelgreisen, begibt auch Monsieur Primat sich auf seinen Weg. Das Reklamehuhn vorweg. Gackernd über den Preis, den es erzielen konnte. Bald wird Monsieur am anderen Ende der Welt sein. Die Hände voller Federn, den Gentleman weit hinter sich. Kein Affe immerhin. Zumindest so lange Fahrtwind ist, und das Huhn Reklame läuft für Monsieur. Dafür wird er es nicht länger Huhn nennen. Dafür wird er Reklame 'Leben' heißen.
Eine Zeit höre ich die Jubelgreise auf dem Boulevard skandieren. Dem Vernehmen nach, haben sie Monsieur auf ihre Schultern gehoben. Kraft des Huhns, das der Horde vorweg stolziert. Dann ist es, als krähe das Huhn ein letztes Mal Reklame, und alles geht ab zwischen die Steine. Ausgelaufen hat sich jene Welle des Daseins. Bestattet vom Mondlicht, versickert sie in der Erde.
Die Barfrau schraubt den gläsernen Totenkopf zu, als seien ein paar Flaschengeister ausgetrieben und fort. Man gestikuliert in Richtung des unbemannten Grammophons.
Für kurze Zeit herrscht jene Unordnung, die entsteht, wenn ein Stundenglas gedreht wird. Auch muss das Leuchtfeuer neu entzündet werden, alles, was draußen in der Stadt aufblubbert, zwischen die Brandungspfeiler der Schänke zu lenken. Damit das Geblubber dort inmitten von Sand, viel Sand durchs Urnenloch abgehen kann.
Vom Kehraus eingenommen, schaue ich nach der Tischdecke: während meiner Kindertage schrumpfte ich mich derart, dass eine Tischdecke mir zur Welt erwuchs. Reich an Räumen, die sich ausdenken ließen und die mich bergen konnten. Frei von Artgenossen das alles. Sein wollte ich, wo nichts war! Verschwand das Dasein, verschwand auch der Tod. Dann trat einfach der Tag in die Nacht. Allein bleiben mochte ich mit der Vorstellung, mir tief im Stoff meinen Weg zu leuchten: unter Humpen und unter Fäusten. In den textilen Beliebigkeiten eines domestizierten Wachstums auf der Suche nach dem Wesen unserer Schöpfung: vielleicht spähte es nicht schaulustig durch den Sternenvorhang, vielleicht mühte es sich in jedem Zipfel Polyester? Während wir mit unseren Welten nur schwankende Knäuel aus Bindfäden waren.
Von dem, was mir aus fünfzig Jahren Dasein verblieb, halte ich nichts mehr in Händen. Mein Schlachtmesser gab ich einer Armenküche. Meine 'Erlebnisse' gaben sich selber fort. Einen Spargroschen aus Erinnerungen habe ich noch am Mann. Tief in die Tasche gedrückt, als berge der Spargroschen die Schweißtücher fremder Personen.
Bloßgestellt bin ich, frei vom Gepäck der Welt. Ein Wille auf der Suche nach seinem Schlachtblock.
Kein Sterbenslicht im Schankraum flackert, als ich mich derart kundtue. Nirgends blinzeln Augen unter einer Tränenlast, nirgends zittern Lippen vor dem Unsagbaren. Dann will auch ich Ruhe bewahren. Jenes Gehabe mir ersparen, mit dem Literaten gemeinhin Tagebücher schließen. Als wenn das Leben ohne sie nicht weit offen bleiben würde. Genauso könnte ich enden vor Wänden, die tapeziert sind mit mannshohen Daguerreotypien von belebten Schankräumen. Oder ich könnte mir religiöse Bauernmalereien zu Herzen nehmen. Alles bliebe Stein, alles Zähneausschlagen.
Mag die Pforte der Schänke gezogen und gedrückt werden, bis den Gäulen der Apokalypse die Hufe durchgehen, es bleibt Strich und es bleibt Punkt, was sich hier aufs Parkett schert. Ein Streckenstrich und ein Tod, das sind all die Mitesser am Tisch des Lebens. Reingehauen von tausend Wehen. Als herrsche über den tausend Wehen ein vollends Mürrischer, dem das Gelümmel, das er vor Jahrzehntausenden anstellte, längst über ist.
Junger Herr, gepflegte Koteletten. Strich, Strich. Kleine Dame, Piercing im Maul. Strich, Strich. Beide aufgeblasen und mit Stöpseln in den Ohren, damit die Luft nicht entweichen kann. Strich. Sichtlich im Schlussverkauf, wollen beide einander preiswert erwerben. Strich. Der Herr gibt Spendierlaune vor. Strich. Die Dame einen lässigen Schoß. Strich. "Tiroler Berge --" vernehme ich von den beiden.
"-- Fernsehen -- Käseigel -- esse ich doch glatt noch mit -- wenn einem sonst nichts einfällt --" Der Herr zeichnet in die Luft. Die Dame zuckt und stößt Laute aus. "-- ach ja -- da war ich plötzlich zwanzig vor fünf Zuhause -- ich konnte auch gar nicht böse sein -- weil das so witzig war --" Es war stets mehr, als es sein wird. "-- ein echt guter Arzt -- wartest zwei Stunden -- bist aber auch eine Stunde dran -- weil der sich echt Zeit nimmt -- Schnitzel -- Pommes -- und ich so -- mein Glück --" Glück, Strich, Glück, Strich, Strich, Glück, Strich, Punkt.
Guter Hoffnung sind beide, näher aneinander gelangt zu sein.
Mit dem Geschepper zweier Rüstungen stoßen das Alt und der Caipi zusammen. Für den großen Schluck vom Dasein. Punkt.
Schafft einer sich nicht fort, nachdem er dem Erdenreich einmal kreuz und quer durchs Angesicht gelaufen ist, verbleibt ihm nur der Segen, ein Grab zu sein zwischen tausend Gräbern. Ein grauer Pflock in grüner Erde.
Der junge Herr mit den gepflegten Koteletten hebt sein Glas, als wolle er sagen: 'das ist mein Blut, das ist mein Bund mit dem Erdenreich!' Jedenfalls scheinen die Hände des jungen Herrn einigermaßen geübt darin, in der Luft unterwegs zu sein, und sie haben sich dabei gewisse Manieren angeeignet.
"Stößchen!" sagt der junge Herr.
Ob er damit den Caipi meint, der klödernd ein Häuflein Modeschmuck über den Tresen schiebt? Eher gedenkt der junge Herr wohl einer Vorzeit, in der die Brunft noch keine so große Angelegenheit war. Man schrumpft einander nicht zusammen, um groß aufzutischen. Ein Streckenstrich geht von Bahnhof zu Bahnhof. Er führt genauso in einen Vorhof wie auf einen Friedhof.
Während das gepiercte Maul sich an den gepflegten Koteletten orientiert, wollen die Koteletten am liebsten gepflegt in das gepiercte Maul hineinstürzen. So platscht es auf den Pflasterstein, so nässt es in den Ritzen, so spült es jedes Wort über Scham und Damm hinab.
Pflasterstein für Pflasterstein wunder, ist das Ende ein Ausfluss. Gedanken, die wie Eiter sind, dem Dasein übel kommend.
Abgeschürft von der Frage, warum ich mich zur Sperrstunde noch ereifere über Jubelgreise, Messieurs und Reklamehühner, kratze ich mein Dasein in die Tischdecke: längst bin ich mir nicht mehr Welt genug, ohne die Welt zu können. Ohne Jubelgreise, Messieurs und Reklamehühner. All das, was ich mir an den Tischen der Kinder- und Jugendzeit erdachte, all das, was ich mir dort aufblies, es lastet nun auf mir wie eine Kippe voll Müll, der jeder Himmel abhanden gekommen ist.
Einst konnte ich kaum halten, was meine Phantasie über mir ausschüttete! Zur Geschlechtsreife hin, tapezierte ich die Tür meines Zimmers mit den Abbildern von pralleutrigen Weibchen. Obwohl Säugetier geheißen, ward ich kaltblütig genug in dem fortwährenden Versuch, mich jener Tür anzuvertrauen auf eine Weise, dass man an ein fehlgeleitetes Böcklein hätte denken können.
Ein orangenfarbener Projektionsapparat für Kinder tat seinen Dienst in meinem Schädel. Zur Verfügung gestellt von den mit der Erziehung befassten Institutionen im Lande. Mir je nach Alter zweckmäßige Bilder eingeben zu können. Erstmal nur, damit das Kind Lust gewann an der Kaufkraft. Ein Junge im Dschungel, der alles haben wollte, was ihm dort präsentiert wurde: Kuschelbären, Fußbälle...
Delikat wurde es erst, als aus dem Jungen im Dschungel ein Erpel im Balzkleid werden sollte. Der Projektor, der zuvor ein Grün verbreitete, das dem Nachtlämpchen im Flur glich, warf nun das Rot von klaffenden Wunden an die Wand. Ein Stoß Stars und Sternchen ward auf mich abgefeuert, dazu ein pikanter Vorrat an schönen Mädchen von nebenan. So wie Gott sie schuf. Das Handtuch an der Stelle, wo das Himmelreich vermutet werden sollte. Derart mit roten Farbbeuteln beworfen, war auch ich irgendwann bereit, eine mit Halmen ausgepolsterte Mulde zum 'Liebesnest' zu erklären.
Mit meiner neu gewonnenen Verheißung ward ich rasch übergeben an die mit 'Weibsbildern' versehenen Zeitschriften und Magazine, welche mir in ihrem Rotlichtteil die Fleischtöpfe präsentierten, von denen ich mich bald nähren sollte.
Noch ließen nicht alle Fragen sich beantworten mit Weibsbildern. Die als Onkel und Tanten verkleideten Gebetsmühlen, die mir Sonntag für Sonntag das Himmelreich der Eingeborenen auf den Pflasterstein walzten, hatte ich weiterhin nötig. Knieten die Eingeborenen, kniete auch ich.
Auf solch verträgliche Weise mag ich meines Schoßes nicht mehr gedenken.
Diesem Nest, das sich nur mit Glück auf seinem Ast hielt: was der Wind in der Eile übrig ließ von all dem Abfall aus vergangenen Tagen, es ward aufgepickt und solange zurechtgebogen, bis die Jungen etwas hatten, woran sie sich halten konnten während ihres endlosen Geschreis nach Futter.
Die dürre Wiege unserer Lust, die uns wenig mehr lehrte, als mit Steinen nach Feuer zu schlagen, ich will sie dem Tod vorstellen. Rede und Antwort soll sie ihm stehen. Derart beim Wort genommen, wird jeder Schoß fahnenflüchtig, und alles Seufzen aus seiner Mitte beansprucht nur die Besen Unbeteiligter.
Mein auf Weibsbilder eingeschworenes Dasein, es hat nie den Weg gefunden zu den Fleischtöpfen dahinter. Diesen Abtritt in die Großküchen des Erdenreichs. So viele, die nur einen kleinen Teil von sich in die Brühe stecken wollten, dann aber zu einem entschlossenen Köpfer genötigt waren.
Während aber meine Unfähigkeit, dem Ruf des Menschengeschlechts Folge zu leisten, mich weiter vor einem Herrengedeck hocken lässt, muss ich jedem Gegenüber zugestehen, längst und im vollsten Umfange in Fleischtöpfen zu baden. Will man sich also für ein Weilchen aneinander gewöhnen, sollte niemand in mir fahnden nach dem Buhlknaben, der für das Wohlmeinen einer Gulaschkanone sein Lügenmaul in Aussicht stellt.
Wie fing einer an, der niemals anfangen wollte, weil kein Ende ihm einen Anfang wert war?
Ratlos ließ ich mich faszinieren von den Vorhängen, welche die Erwachsenen für mich bereit hielten. Lässt man Kinder nur lange genug auf einen Vorhang schauen, bekommen sie Lust, ihn beiseite zu ziehen.
Der Tag, an dem ich 'volljährig' wurde, beschränkte sich denn auch auf den roten Vorhang, der die Videothek in Unberechtigte und Berechtigte teilte.
Ein Stoff von der Art, wie er vor Fotoautomaten hing. Für etwas Dunkelheit in einer ausgenüchterten Welt. Nur dass die Erwachsenen in der Videothek nicht so aussahen, als wollten sie durch den Vorhang von einem Bahnhofsklo ins nächste. Eher schoben sie den Vorhang beiseite mit der Selbstverständlichkeit derer, die es zu etwas gebracht haben. Das ließ uns Kindern die Möglichkeit, bis zur Volljährigkeit einiges an Phantasie anzusparen: kleine Messdiener, die sich aufmachten, in einer Fleischerei ihren Gottesdienst zu feiern.
Hinter dem Vorhang führte eine mit Teppich bezogene Treppe hinauf. Das Gefühl, unterwegs zu sein ins 'richtige' Leben, ward so nochmals verstärkt.
Die 'Fleischabteilung' döste im Licht des frühen Nachmittags. Ohne weitere Umschweife lüftete sie sämtliche 'Geheimnisse', mit denen man uns beinahe zwei Jahrzehnte hingehalten hatte. Grußlos ward mit einem Schwung all das vor mir ausgeschüttet, was 'nichts für Kinder' war. Keine Minute brauchte die Fleischabteilung, mich so um sämtliche Hohelieder zu bringen. Hätte ich ein Gotteslob mit mir geführt, ich hätte es dem Kassierer über den Tresen geschoben wie einen überfälligen Leihfilm.
Zum roten Vorhang hin, leistete das Marienwesen seinen Wachdienst ab in meinem Kopfknast. Jede mit Lippen versehene Eröffnung des weiblichen Körpers ward vom Marienwesen ausgeschmückt durch das Versprechen einer gebenedeiten Frucht. Einer Frucht, welche in sich die 'Erlösung' barg. Auch wenn wir Kinder noch wenig wussten von den 'Sünden', die es zu überwinden galt, so klang die 'Erlösung' doch nach einem Kinofilm, der sich lohnte.
Hinter dem roten Vorhang aber, räkelte das Marienwesen sich vor mir, als seien dessen Enden an ein Rad gebunden. An ein Rad, das schmatzte vor Urschlamm. Die Lippen des Marienwesens hatten sich verzerrt zu Koboldsfratzen. Fratzen, wie sie mir ins Dasein stachen: ich implodierte eher, als dass ich platzte. Meine Innereien drangen derart ein in den Kopfknast, dass alle menschenmöglichen Ausscheidungen sich über mir ergossen.
Seither übe ich mich in der Kunst des Luftanhaltens. Einer Kunst, die ihr Ende findet in den Wüsten der Philosophie, wo Menschen zu Recheneinheiten werden, zum bunt bemalten Nippes vergangener Epochen. So enthob ich mich jeder Sorge um Messlatten und Eisprünge, während ansonsten alles Mündige sich fortgepflanzt wissen wollte.
Derart heimisch in einem Wüstenreich, das weder verzärtelt war noch bocksbeinig, ließ ich mir weiterhin Matten stehen, als man längst fahndete nach der Föhnfrisur zum Liebesakt.
Gel, Farbe und Creme: ich investierte wenig in den Tod, der Tod also auch wenig in mich.
Dennoch spürte ich den Tod an jedem Bühneneingang. Sei es nun im Dunkel hinter dem blauen Himmel oder unter den grünen Wiesen. Ein geduldiger Schraubstock, der mal Raum gewährte zum Weiterspielen, mal nicht.
Im Dunst der Schänke stiere ich auf die vielen Geschöpfe, die eingespannt sind zwischen Himmeln und Wiesen, wie sie davon grölen, sich ein paar Handvoll Erde zur Brust genommen zu haben. Mit dem Hintern wackelnde Majestäten, die dreinschauen wie die Putten auf dem Friedhof.
Hielt ich mich auch Abseits jener Balz, deren Dasein Hand war und Schoß, so beeindruckte mich doch, wie still man sich am Ende der Balz abführen ließ in eine von den zahllosen Gruben, jede markiert mit einem Stein. Ein Heer von Steinen, das bis weit in die untergehende Sonne reichte.
Es mangelte nicht an Onkeln und Tanten, welche diesen Acker voller Steine bedeckt wissen wollten durch ein Altartuch, in dem es wimmelte von goldenen Fäden. Fäden, mit denen ich gekobert werden sollte für ein Garn vom Glück, das man als das eigene ansah, das aber wohl so alt war wie die namenlose Schlange aus dem Urwald, die von einer verbotenen Frucht zu berichten wusste.
Ein Garn vom Glück, das die Uniformierten und Strammgestellten scharenweise aus ihren Werktagen brach und sie im freien Fall auf eine Schlangengrube voller Früchte hoffen ließ.
Eiferte ich diesem Garn vom Glück nach, bäumte das unter mir reifende Geschlecht sich mit der Gewalt einer Waffe auf zur Schaffensgröße, alles Eingeborene zu grüßen.
Geist, der sich ergötzt an des Glückes Triebwerk, das 'Lust' geheißen wird. Jene Lust, die geschwängerte Mägde mit sich führt und im Bottich ertränkte Neugeburten. Wer möchte im Namen der Lust nicht alles rupfen und zum Munde sich führen? Blüten, die man 'Trixi Hardengruen' nennt oder 'Anett Hülsklöver'. Silbe für Silbe grölte ich die Namen dieser Blüten einst hinauf zu den Sternen.
Befleckt bin ich von der Tatsache, mich in jungen Jahren auf Abwegen präsentiert zu haben. Pfützen, von denen die Gnade des Vergessens mir nicht ein Wort abnimmt. Pfützen, deren Platschen bis in die hintersten Zellen des Kopfknastes dringt. Auf meiner Stirn stets ein Hauch Schlamm vom Grund der Pfützen.
Was die Pfützen nicht ersäuft haben, das drängt sich an den Rändern in Nester voller Disteln.
'Trust in God and man… just shut your mouth… just start the brand-new story.'
All die Versprechen, die ich mir als Kind mitschnitt aus dem Radio, sie sind kaum noch zu erspähen unter den vielen Disteln, die brennen, so lange brennen, bis wir jedes Wort verlieren, und weit darüber hinaus brennen. Und mit jedem Wort, mit jedem verbrannten Wort, prügelt Faust für Faust die Leibesfreude mir ins Angesicht.
'Unsere Erinnerungen', sagen die Leibesfreudigen, 'kann uns keiner nehmen.' Leibesfreudige zerkleinern ihr Dasein in 'Events'. All you can eat. An jeder Ecke lungern Leibesfreudige mit ihrem Fressbesteck auf einen weiteren Schlag Dasein. Unterhalten wollen sie sein, verwöhnt. Leibesfreudige schlecken, Leibesfreudige dippen, glotzen, schmökern, voten, Leibesfreudige erwählen leibesfreudige Götter. Leibesfreudige vertreiben sich das ihnen geschenkte Maß an Zeit. Die Leibesfreudigen sind die Könige des Gewesenen.
Und welch ein Königreich! Wie aus einem der Zombiefilme der 1970er.
Dagegen kauerte ich in den Resten eines elterlichen Schlafzimmers, das zur Geschlechtsreife mir diente. Mit Bleistift und kleinkarierten Heften. Freiheit im Format DIN A4. Freiheit, egal ob vom Gesetz her oder vom Faustrecht, fühlt stets sich beschieden, ihr Meinen kund zu tun. Und bei mir niemals ohne jenen Schlag Irrwitz, der selbst Leibern, welche sich im Geschlechts- oder Fressakt heben und senken, ein offenes Herz unterstellt. Wie sollten meine strotzenden Glieder auch begreifen, dass niemals das Herz sich anzunähern sucht mit einem ekstatischen Klopfen, sondern allein der Tod. Sei er nun aus auf Raub oder auf ein Erlebnis: alles Dasein gewinnt durch kreischende Wunden an 'Buzz'.
Die Prediger auf dem ('Erlebnismeile' genannten) Straßenstrich etwa, wie sie den hunderten Einkaufstüten die Worte eines Heilands entgegenbrüllen. Derart im Abseits, dass man ihnen Wunden wünscht, mit denen sie es ihrem Heiland an Blutzoll gleichtun. Mindestens in Ketten möchte man die Prediger legen, sie peitschen und mit Dornen schmücken. Wenn nicht durch Beifall, sollen sie durch Strafe sich gewürdigt fühlen: nicht für jeden nehmen wir uns die Zeit, ihm den Schädel zu spalten.
Ja, welch eine Ehre wäre das, würde sich hier einer vom Tresen aufmachen, mir den Schädel zu spalten! Gar ein Mob, ein ganzer Mob!
Weichgewirkt durch unsere Speisewirtschaft aber, ist man am Ausschank von Mutter Erde dankbar, seinen Tod nicht selber suchen zu müssen, sondern ihn serviert zu bekommen. Vielleicht als ein Maß bleiches Badewasser oder als ein paar Schippen vom schwarzen Pistenschnee?
Angetan von all denen, die sich mit Vergnügen mästen, spähe ich im Schutze meines Herrengedeckes opferwillig in den Schankraum: das ist kein zu Tisch sein mehr, das ist ein Schlund sein!
Wie kann jemals ein Mensch denen mehr bedeuten, als das Schlachtvieh, das sie täglich erwerben? Jedes Ferkel, das aus dem Transporter taumelt, lärmend vor Missempfinden, ist gefragter als ich, jedes Schwein mehr Genuss!
Zubereitet will ich also sein, statt als Asche verscharrt. Bordeauxrote Lippen sollen knabbern an meinen Überresten, sollen speicheln, sollen wieder und wieder mein Fett tupfen von ihrer Fülle.
Gepfercht zwischen Böcke, Lämmer und Bullen, will ich die Stampede sein im 'Schlaraffenland'.
Mit Selbstverständlichkeit soll man den Gewehrkolben nach mir heben, frei heraus zum Ochsenziemer greifen. Drüse will ich sein, Absonderung und Kloake.
Kein hölzernes Kreuz soll vor mir hergetragen werden, kein flatterndens Stück Papier. Bleiben mag allein das letzte Stroh, das ich zertrat im Dasein. Aus leeren Ladeflächen ins Weite gekehrt vom Wind.
'Meister, was haben wir getan mit all dem Blut unseres Schöpfers!'
Beinahe möchte man zurück gebliebene Ohrmarken verehren, die Nummern darauf sich einprägen. Bloß um nicht in einem fort mit den Schultern zu zucken.
"Bitte zahlen!"
Anmerkung von chSchlesinger:
Eine fünfzigtausend Wörter lange Behauptung, die mit einem einzige Wort widerlegt werden will ("sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund"), aber: die Götter bleiben aus.
Kommentare zu diesem Text
Sorry wegen meine deutlichen Worte, aber so ist es nun mal.