Geschichte der Tarib

Beschreibung zum Thema Andere Kulturen

von  Elisabeth

Dieser Text ist Teil der Serie  Die Tarib

Wo beginnt die Geschichte eines Volkes, das selbst nur Geschichten von Individuen erzählt?

Der Ursprung der taribischen 'Schriften' verliert sich zum großen Teil in weiter, vorschriftlicher Ferne. Woher also kamen die Tarib, die Reiter, wie sie sich selbst nennen, die alle die gleichen oder doch ähnliche Geschichten von Weisen und Heiligen auf dem Weg durch die Steppe und im Kampf gegen Dämonen erzählen - oder beim mehr oder weniger erfolgreichen Versuch, die Gunst der Götter zu erlangen. Unter den namentlich genannten Göttern sind viele stammesspezifische Gottheiten, die zum Teil eher als Naturgeister oder Totemtiere anzusehen sind, aber auch die drei von allen Tarib verehrten Götter Orem, Tyrima und Ama.

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Harna - der Bund mit Orem

Angesichts der in den ältesten Geschichten durchscheinenden Sehnsucht nach Reichtümern in Form von Wasser und saftigem Gras für die Herden war die ursprüngliche Heimat der Tarib wohl nicht sehr reich damit gesegnet. Und das Heiligtum Harna, der Ort des Bundes, taucht ebenfalls in einigen Geschichten als wohlbekannt und am nördlichen Rande des Gebietes der Tarib gelegen auf.

Harna liegt in einer kargen Steppe, weit südlich der fruchtbaren Ebenen um Amaar und Sheyshen, schon fast in der Wüste, der 'Verschlingerin der Knochen', die sich seit historischer Zeit nachweislich fortschreitend nach Norden und Westen ausbreitet. Das Ursprungsgebiet der alten Tarib muß also die ausgedehnte Ebene westlich des Drachenrückens gewesen sein. Der Umschlag des Klimas in diesem Gebiet hat mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits vor dem Bund begonnen und dazu geführt, daß die nomadisch lebenden Hirten in fruchtbarere Gebiete, vor allem im Norden und Westen auswichen, um ihre Herden versorgen zu können. Bauten und Städte, die in der Gegenwart als verlassene Ruinen entlang der Karawanenstraßen durch die Wüste zu finden sind, stammen allerdings aus späteren Jahrhunderten.

Und noch ein Punkt spricht für die westlich des Schlangenrückens gelegene Ebene als Herkunftsgebiet der frühen Tarib: 'asé' - 'schreiben' - ist ein Lehnwort aus dem Ne'ti'km. Im Austausch mit den Sa'atik, wahrscheinlich über Ma'ouwat, die große Handelsstadt des südlichen Königreiches, gelegen am südlichen Ende des Drachenrückens, lernten die Tarib erstmals Schriftzeichen und ihren Zweck kennen. Der Bund und die erste tatsächlich schriftliche Niederlegung der 'Schriften', die bis dahin folglich nur 'das Erzählte' oder 'das Überlieferte' waren, kann nur durch den Kontakt der vorschriftlichen Tarib mit den Sa'atik erfolgt sein, der zu diesem Zeitpunkt einzigen Hochkultur der hier betrachteten Oikumene.

Aber auch der Zeitpunkt dieses für die Tarib sehr wichtigen Kultursprunges liegt in der Gegenwart bereits mehr als 3.000 Jahre zurück. Der älteste überlieferte Text der Tarib, gewissermaßen die 'erste Schrift' der Tarib, wird im Heiligtum Harna als Stein des Bundes verwahrt. Doch nicht nur die Schrift von damals unterschied sich von den nachfolgenden zwei Schriftsystemen der Tarib, es wurde zumindest in Harna damals auch eine andere Sprache gesprochen, die die Priester dort bis in die Gegenwart lernen, um den Bundestext lesen zu können - soweit er auf dem verwitterten Stein noch zu erkennen ist.

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Jahr 1213 des Bundes

Die Schriftlichkeit verbreitete sich über alle Stämme, die ihre jeweiligen mündlichen Überlieferungen schriftlich niederlegten, doch diese 'Schriften' unterschieden sich durch sehr individuelle Schriftzeichen, Sprachen bzw. Dialekte und auch Inhalte, trotz ebenso erkennbarer Gemeinsamkeiten.

Die erste Fassung der Schriften, wie sie in der Gegenwart bekannt sind, in einheitlicher Schrift und Sprache und mit identischem Text, stammt aus der Zeit nach dem Bund. Tatsächlich kann man die Geburt der 'Schriften' in der zeitgenössischen Form sogar genau datieren: 1213 Jahre nach dem Bundesschluß einigten sich Vertreter aller dreißig Stämme und des Heiligtums Harna in Hannai darauf, welche der überlieferten Geschichten über die Weisen und Heiligen, die zu den traditionellen Erzählungen der Stämme gehörten, als 'die Wahren' anzusehen seien und in der kanonisierten Niederschrift zusammengeführt werden sollten. Die Priester von Harna dokumentierten die Vereinbarung über die Kanonisierung der 'Schriften', und wahrscheinlich haben sie auch die ersten Niederschriften verfaßt.

In der Gegenwart liegt dieses Ereignis etwa zweitausend Jahre zurück. Die Schrift, die verwendet wurde, war die damals in Harna übliche, später so genannte 'alte' Schrift der Tarib, die selbe, mit der wenig später auch die Stämme erstmals schriftlich bezeichnet wurden.

So sorgte letztlich das zentrale Orem-Heiligtum dafür, daß die zuvor eher allein als miteinander agierenden Stämme durch die schnelle Verbreitung der vereinheitlichten Schriften und der Schrift zumindest auf intellektuell-religiöser Ebene zusammenfanden, denn es verdeutlichte allen Mitgliedern der Stämme die kulturellen Gemeinsamheiten der Tarib. Aber es vergingen noch einige Jahrhunderte, bis die Stämme tatsächlich begannen, politisch und militärisch miteinander zu kooperieren.

In diesen Jahrhunderten wurden die Versammlungsorte zu Kult- und Handelsplätzen, zunehmend gaben Mitglieder aller Stämme ihr nomadisches Leben auf und besiedelten die Ebenen entlang der großen Flüsse des Westens.

Einige Siedlungen fühlten sich weiterhin dem einen oder anderen Stamm verbunden, dem ihre Bewohner entstammten, aber andere sahen sich im Konflikt mit den Stämmen, deren Herden ihre Felder vor der Ernte abgrasten und bekämpften sie als Banditen. Zudem führten sowohl Stämme als auch Städte untereinander eine alles andere als friedliche Koexistenz.

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Jahr 2098 des Bundes

Fast tausend Jahre nach der Kanonisierung der Schriften, aller Wahrscheinlichkeit nach im Jahre 2098 nach dem Bundesschluß, wurde mit dem Werk 'Der Weg des Kampfes' ('Washey') von Enwar Iosinim, einem Adligen aus Taribai, die Grundlage der großen, religionsunabhängigen Literaturgattung geschaffen, für die die Tarib bis in die Gegenwart in der ganzen Oikumene berühmt sind. Der Autor hatte für sein Werk sowohl die Erziehung der Stammesprinzen als auch die Kleinkriege von Stämmen und Städten der Tarib analysiert und auf dieser Grundlage das Konzept einer allgemeingültigen Ausbildung für die Führungselite entwickelt, die nicht auf mehr oder weniger gut gepflegten Traditionen sondern auf einem systematischen Regelwerk und der Empfehlung gezielten Trainings gründete.

Diese nicht sehr umfangreiche Schrift verbreitete sich schnell unter den Stämmen und in den Städten des Westens und wurde zur Pflichtlektüre ganzer Generationen junger, aufstrebender Tarib. Dies war, neben einer damit einhergehenden weiteren Schriftreform zu dem, was wir als die zeitgenössischen taribischen Schriftzeichen kennen, der Beginn der philosophischen Literatur der Tarib, die seit dem als Kriegsphilosophie bekannt ist. Und sie wandelte auch die Kultur der Tarib grundlegend. Hatte der Kampf bei den Tarib bis dahin zwar ständig aber nur zweckgebunden stattgefunden, sei es zum Vertreiben eines Gegners oder zum Erlangen von lebensnotwendigen Ressourcen, wurde er nun ein Wert an sich. Innerhalb weniger Jahrzehnte boten in allen Städten Philosophen und Schwertmeister ihre Dienste als Lehrer an, um ihren Schülern zur passenden geistigen und körperlichen Verfassung für den Kampf um den Sieg zu verhelfen, durch die Ausbildung zum Meister der Waffenkunst und zum Meister der Taktik, der die Kämpfer einer Stadt oder eines Stammes wie ein weiteres Schwert führen konnte. Erfolgreiche Schüler begründeten den Ruhm ihrer Meister und so wurden die Kriegsherren, nach den Weisen und Heiligen, die dritte Personengruppe, deren Lebensgeschichte den Tarib die Niederschrift wert war.

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Jahr 2501 des Bundes

Etwa vierhundert Jahre später, 2501 nach dem Bundesschluß, mündete diese Bildungsreform in die Machtübernahme der Stadt Hannai durch Hermil Tashrany, einen umfassend gebildeten Stammesfürsten, der damit - innerhalb von drei Tagen - den ersten Schritt machte, sich zum DEM legendären Kriegsherrn der Tarib aufzuschwingen. Durchdachtes politisches Vorgehen und ein langes Leben, das die Autoren seiner Lebensgeschichte seinem Erbteil unirdischer Ahnen zuschrieben, ermöglichten ihm, nicht nur die Loyalität aller Stämme zu gewinnen, sondern auch die meisten der bis dahin selbständigen Städte durch diplomatisches Geschick und klug ausgehandelte Verträge - die anderen durch seine schwer bewaffnete Reiterei - unter seine Herrschaft zu bringen. Keinen Kampf, den er wagte, verlor er, wie es heißt und die Ergebnisse sprechen für ihn.

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Jahr 2554 des Bundes

Innerhalb weniger Jahre hatte Hermil Tashrany die Städte des Westens unter seiner Führung vereinigt und führte 2554 nach dem Bundesschluß ein riesiges Reiterheer über den Barbesh in das Gebiet der Awrani, um die dortigen Stadtstaaten zu unterwerfen. Die Awrani waren weniger leicht zu überreden, sich seiner Herrschaft zu beugen, so daß er letztlich viele Schlachten gegen die Krieger der awranischen Städte führen mußte. Doch da die Stadtstaaten einander feindlich gegenüber standen, anstatt sich gegen Hermil Tashrany zu verbünden, eroberte er das awranische Hochland bis zu den nordöstlichen Ausläufern der Wolkenberge Stück für Stück innerhalb eines halben Jahres. Er begründete damit die Ehrfurcht der Awrani gegenüber der taribischen Kriegskunst, die diese Überlegenheit ihres Gegners schließlich anerkannten und ihre Niederlage akzeptierten.

Einige seiner Biographen behaupten, daß Hermil Tashrany, nachdem er alle Städte nördlich Ma'ouwats erobert hatte, plante, auch das Königreich der Sa'atik anzugreifen, aber zunächst sorgte er dafür, daß der Handel mit dem Süden und überall innerhalb seines Reiches florierte: zum einen führte er das einheitliche Gewichts- und damit Währungssystem auf Grundlage des Gewichts eines typischen Pferdesattels der Tarib ein ('Tar'), zum anderen plante er, alle Städte des Reiches durch eine gut ausgebaute und bewachte Straße miteinander zu verbinden, die später im Westen und Osten sogenannte 'Taribische Straße' ('Taribishey').

Von Berresh aus, Hermil Tashranys Stadtgründung an der Mündung des Barbesh in das Kreismeer, wurde der Straßenbau im ganzen Reich verwaltet und von dort stammten auch die Steuereintreiber, deren Einnahmen dazu dienten, die Bauvorhaben zu finanzieren. Aber die Gelder und Abgaben, die nicht für den Straßenbau gebraucht wurden, flossen nahezu komplett nach Hannai, um diese Stadt, zumindest für die Tarib der Nabel der Welt, zur prächtigsten in Hermil Tashranys Herrschaftsgebiet zu machen.

Chancengleichheit existierte unter Hermil Tashranys Herrschaft übrigens nicht. Die Tarib waren in allen militärischen und zivilen Führungsposten zu finden, die Awrani blieben Untertanen, selbst der Weg in die Verwaltung des Reiches blieb ihnen verschlossen. Aber es wurde ihnen auch nicht die Befolgung der Gebote der 'Schriften' auferlegt. Die einzelnen Städte hatten Religionsfreiheit, durften ihr jeweiliges städtisches Heer weiterhin unterhalten - und ihren jährlichen Tribut an das Reich leisten. Und auch jedem Awrani stand es natürlich frei, bei den Kriegsphilosophen jeder Couleur in die Lehre zu gehen.

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Jahr 2676 des Bundes


Und dann war das erst im Nachhinein so genannten 'Taribische Reich' plötzlich Geschichte.

In den ihm gewidmeten Biographien heißt es, die Götter hätten Hermil Tashrany für seine ruhmreichen Taten vergöttlicht und in die Gärten der Freude geführt, jedenfalls regierte ab 2676 nach dem Bundesschluß sein jüngster Sohn die Stadt Hannai. Doch den Sohn kümmerte weder die Verwaltung des Reiches in Berresh, noch ein Feldzug in den Süden, er genoß den Reichtum, den sein Vater angesammelt hatte. Die ehemals unterworfenen taribischen Städte, die die Truppen bezahlen mußten, die sie besetzten, sahen diese bald als ihre eigene Armee an und somit herrschte im Westen letztlich wieder der Zustand, den Hermil Tashrany vor Beginn seiner Herrschaft vorgefunden hatte - einzelne, sich gelegentlich bekämpfende taribische Stadtstaaten, allerdings nun mit einem gemeinsamen metrischen System und gut ausgebauten Straßen. Auch der Osten war wieder selbständig, doch die so schnelle Unterwerfung der Awrani hatte bei diesen ihre Spuren hinterlassen. Sie würdigten die tarbische Bildung weiterhin als die höhere und versuchten seit dem, dieser nachzustreben, vielleicht um selbst einmal die Tarib zu erobern.

Bei einigen Tarib führte der Untergang des Taribischen Reiches zu einer Rückbesinnung auf ihre traditionelle, nomadische Kultur, gerühmt in den Schriften vieler Philosophen als die Quelle der überlegenen Kriegskunst der Tarib, denn sie verstanden den Zerfall des Taribischen Reiches, dieses politischen Gefüges, das Hermil Tashrany geschaffen hatte und sein Sohn nicht erhalten konnte, als Ergebnis einer falschen, weil vom rechten Weg abgekommenen Lebensweise. Daß das Werk seinen Schöpfer nicht überdauert hatte, zeigte nach Meinung der sich selbst als Oshey - 'Rechtwegler' - bezeichnenden Tarib den Zorn der Götter.

Die Nachkommen Hermil Tashranys herrschten übrigens bis zu einer Palastrevolution im Jahre 3148 nach dem Bundesschluß als Könige über Hannai.

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Anmerkung von Elisabeth:

Diesen Text habe ich 2023 geschrieben.

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