Das Schokoladengeschäft

Erzählung

von  Gabyi

Jeden Sommer sonnte sich die Mutter gern und ausgiebig auf dem großen Hof des alten Hauses. Genauer gesagt, auf dem Hinterhof. Doch dieses Wort wurde niemals ausgesprochen. Hof hieß es. Kleiner Hof und großer Hof. Als gehörten die Höfe zu einem Schloss. Der kleine Hof des Hauses verband die Waschküche mit einer Werkstatt.
Die Mutter sonnte sich, um schön knusprig braun auszusehen und räkelte sich dann wie eine Diva in ihrem verblichenen, blassrot-weiß gestreiften Liegestuhl, der auf einem Holzpodest hinter dem Haus stand. Irgendjemand hatte ihn ihr einmal gezimmert und in die Ecke des Hofes gebaut. Da lag sie nun wie eine Königin im Windschatten der mit wildem Wein berankten Hauswände und thronte über den von schmutzig weißem Taubendreck übersäten Kopfsteinpflastersteinen. Ab und zu flatterte eine Taube träge und plump ganz nah an ihrem Kopf vorbei auf dem Weg vom Taubenschlag zum gegenüberliegenden Dach.
Den Torso der Mutter bedeckte ein dezent blumengemusterter Badeanzug mit sogenanntem "Schößchen" über dem Venushügel, das allein die Funktion besaß, züchtig ihre Scham zu überspielen. An einen Bikini war trotz schlanker Figur nicht zu denken, denn ein Kaiserschnitt hatte ihren Bauch schmachvoll entstellt. Ein langer Schnitt vom Bauchnabel abwärts bis zum Schamhügel verlieh ihm jetzt das merkwürdige Aussehen eines spiegelverkehrt angeordneten Hinterteils. Über diesen Tatbestand war die Mutter mehr als unglücklich und sie machte auch kein Hehl daraus.
An besonders schönen, sonnigen Tagen mit strahlend blauem Himmel saß ihre kleine Tochter oft neben ihr auf einem kleinen Schemel und blätterte in einem ihrer Mädchenbücher. Ihre goldblonden Locken waren zur Bändigung zu zwei langen Zöpfen geflochten, denn der Wind zerzauste andernfalls das Haar ungebärdig und wild und kein Kamm der Welt konnte dann mehr Ordnung schaffen. Manchmal sagte die Mutter an so einem Tag zu ihr:
"Lauf' doch mal flink zum Schokoladengeschäft und kauf' mir eine Tüte Kekse."
Auch heute war ihr wieder einmal danach zumute und, wie immer, fügte sie in einem eindringlichen Tonfall hinzu:
"Aber du weißt, nur die Knusprigen! 100 Gramm."
Ihre kleinen Augen flackerten erwartungsvoll, fast gierig. Schnell öffnete sie ihre Geldbörse, zählte passendes Geld ab und drückte es dem Mädchen in die Hand.
Der Laden lag nicht weiter als vier Fußminuten von ihrem Hof entfernt in der Hauptstraße der kleinen Hafenstadt. Eilig verließ die Kleine das Grundstück durch die Hoftür und warf noch einen kurzen Blick auf den alten Backsteinspeicher direkt gegenüber dem Ausgang, der einem Eisenwarenhändler gehörte. Schnell ging es weiter, vorbei an der Schmiede an der Ecke zum Pastorengang, wo auch die Pferde beschlagen wurden. Hier war immer ohrenbetäubender Lärm zu hören, der Amboss dröhnte laut und man durfte auf keinen Fall in die Flammen des Schneidbrenners sehen. Weiter ging es an dem Haus vorbei, in dem drei Kinder einer Arbeiterfamilie wohnten. Mit dem jüngsten Sohn hatte sich ihr kleiner Bruder angefreundet. Eigentlich hatten die Eltern dem Bruder die Freundschaft nicht erlaubt, aber er kümmerte sich nicht im Geringsten darum. Sie sah im Vorübergehen, wie die Mutter ihrer Tochter ein paar Geldstücke aus dem Fenster des ersten Stockes hinunter warf und hörte sie rufen:
"Hier, kauf' dir ein paar Bonsches davon!"
Sie arbeitete als Leichenwäscherin in der Leichenhalle und wurde auch von ihrem kleinen Bruder Totenfrau genannt. Später ängstigte ihn dieser Tatbestand dermaßen, dass er den Kontakt abbrach.
Bezüglich des heruntergeworfenen Bonbons hatte das Mädchen bestimmt ihre Mutter vorher angebettelt. So etwas würde sie sich nie im Leben wagen. Betteln war absolut verpönt in ihrer Familie. Leichtfüßig, aber dennoch konzentriert tänzelte sie auf der Bordsteinkante neben dem Rinnstein entlang und versuchte dabei, bei jedem Schritt nur jeden zweiten Bordstein zu berühren. Sonst müsste sie sterben, aber so weit würde es nicht kommen. Dazu war sie viel zu aufmerksam. Zügig ließ sie ein Möbelgeschäft und eine Buchhandlung hinter sich und erreichte den kleinen Laden, der gleich an der Ecke zur Hauptstraße lag.
Etwas erhitzt und außer Atem, aber freudig und erwartungsvoll öffnete sie die Glastür des Schokoladengeschäftes, als auch sogleich an der Innenseite der Tür eine dreiklängige Glocke anschlug. Ein köstlicher Duft von dunkler Schokolade und echter Bourbonvanille in Verbindung mit allerlei anderen Wohlgerüchen erfüllte, wie immer, den kleinen Laden. Gierig sog sie ihn tief in ihre kleinen Lungen ein. Er übertraf alle olfaktorischen Sensationen, die sie in ihre eigene, selbstermittelte Skala der Düfte einreihen konnte. Sogar der Geruch des Schusterladens wurde übertroffen, dessen Briefkastenklappe an der Tür sie immer öffnen musste, wenn ihr Weg sie daran vorbeiführte. Mit dem alleinigen Ziel, die ersehnten köstlichen Klebstoffdämpfe zu inhallieren. (Der Schuster und sein Sohn verstarben später an Kehlkopfkrebs).
Wie gewöhnlich stellte sie sich im Schokoladengeschäft direkt vor der Theke auf. In den Regalen des kleinen Ladens stapelten sich verheißungsvoll die Delikatessschokoladentafeln und Pralinenschachteln, Keksdosen aus Blech mit verlockenden Namen wie XOX oder Leibnitz. Pappschachteln voller Katzenzungen und Schokoladentafeln gab es, die Stockmann hießen und auf dessen Goldpapier ein Mann mit Stock zu sehen war. Genau so stellte sie sich auch immer den lieben Gott vor. Grüne Bonbontüten, gefüllt mit köstlichen Salmiakstangen, die sich Chilestangen nannten, konnte man hier erstehen. Der geheimnisvolle Name erinnerte sie später, als sie älter war, an den Chilesalpeter aus der Kolonialzeit. Die Tüten lagen unter der Theke, verborgen in einer braunen Holzschublade mit Metallgriff, das wusste sie schon damals genau.
Oben auf der gläsernen Ladentheke reihte sich ein Glaskasten mit Deckel an den anderen, einer verlockender als der andere, jeder angefüllt mit den leckersten Keksen. Die nette Verkäuferin kannte sie schon und fragte mit dem gewohnten
"Was darf´s denn sein?"
nach ihrem Wunsch. Das Mädchen blickte auf die verschiedensten Kekssorten in den Kästen, helle, dunkle, mit Schokolade überzogene, runde, viereckige, gezackte, lange und kurze und - natürlich - die obligatorischen Waffeln. Sie selber kannte diese Art von Keksen nur aus den Wundertüten mit Waffelbruch für 10 Pfennige. Eilig brachte sie ihren Wunsch hervor und deutete zur Bekräftigung mit dem Zeigefinger auf eine Glaskiste. Die Frau öffnete sogleich behutsam den mit Silbermetall eingefassten Deckel.
"Diese hier?"
fragte sie freundlich und das Mädchen nickte nur, während ihr das Wasser im Munde zusammenlief. Vorsichtig entnahm die Verkäuferin mit einer silbernen Zange die grob geschätzte Anzahl und legte die Kekse sorgsam in die vorbereitete Tüte hinein. Auf der Waage wurde sodann die genaue Menge ermittelt, um notfalls eine Korrektur vorzunehmen.
"Darf es auch ein bisschen mehr sein?".
Sie nickte mit dem Kopf, bezahlte den geforderten Preis und bekam die fachmännisch zusammengefaltete Tüte überreicht. Gern hätte sie noch etwas "auf zu" bekommen, wie man hier sagte, aber das gab es nur im Konsum. Dort bekam man, außer eingewickelten Bonbons, auch Rabattmarken geschenkt. Schnell eilte sie hinaus aus dem Laden und rannte zurück nach Hause. Sie wünschte sich jedes Mal, auch so einen leckeren, runden Biskuit probieren zu dürfen, doch ihre Mutter hatte ihr erklärt, diese Sorte sei zu schade und zu teuer für Kinder. So wagte sie auch nicht, heimlich die Tüte zu öffnen, um zu naschen. Schnell gelangte sie zurück zu ihrem Elternhaus.
Die Mutter hatte sie schon sehnsüchtig auf dem Hof erwartet, bedankte sich kurz und öffnete hastig die Papiertüte. Genussvoll und gierig wollte sie gerade mit der Mahlzeit beginnen, doch stattdessen stieß sie einen gellend schrillen Schrei aus, der zum Glück mit verminderter Schallgeschwindigkeit in ihr kleines Ohr drang, weil sie es schnell zuhielt.
"Es sind ja die Verkehrten, du dummes Ding! Die sind ja gar nicht knusprig".
und sie kniff ihre schmalen Lippen zu einer fahlen Spalt aufeinander. Zwischen den dünnen Augenbrauen bildeten sich tiefe Falten. Ihre Tochter indes blickte verschämt zum Boden, gleichzeitig aber bedeutungsvoll und fein lächelnd, fast schon listig. Vielleicht würde ja jetzt doch noch das ein oder andere Gebäckstück für sie abfallen.
Und beinahe schon energisch warf sie ihre langen blonden Zöpfe nach hinten in den Nacken zurück.


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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (02.07.24, 07:00)
Liebe Gabi,
dieser Text ist dir aus meiner Sicht ganz wunderbar gelungen,
Stringent erzählt und super pointiert.
Vor allem fällt mir auf, dass du die Geschichte zu einem (einleuchtenden) Abschluss gebracht hast, was dir in der Vergangenheit nicht immer gelungen ist. Das hörte manchmal mittendrin auf.

Es freut mich stets ungemein, wenn eine Entwicklung der hiesigen Autoren zu bemerken ist; in deinem "Fall" besonders überzeugend.

Hier erfüllt sich für mich der eigentliche Sinn eines Literaturforums: Das Lernen von- und miteinander. <3

 Gabyi meinte dazu am 02.07.24 um 18:52:
Hi 8er, danke dir für das  nette, ausführliche Lob und die Empfehlungen :). Entwicklung, weiß nicht. Der Text ist schon etwas älter (von 2014). Da war ich noch nicht in diesem Forum. Es ist schon richtig, dass der Text ausführlicher ausfällt. Seitdem versuche ich, mich kürzer zu fassen. Kurz und knapp, auf den Punkt gebracht.

LG
Gabyi

 Dieter_Rotmund (02.07.24, 15:00)
Continuity-Fehler?


"Hier, kauf' dir ein paar Bonsches davon!"
(...)
Bezüglich des heruntergeworfenen Bonbons hatte das Mädchen bestimmt ihre Mutter vorher angebettelt.
 

 Gabyi antwortete darauf am 02.07.24 um 18:56:
Du hast recht, ich erkenne den Fauxpas. Heruntergeworfenen Geldes müsste es heißen. Danke  :).

 Gabyi schrieb daraufhin am 02.07.24 um 19:00:
Danke auch an minimum und Mondi für eure Empfehlungen :)  :) 

LG
Gabyi
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