Auf der Brücke
Novelle zum Thema Fantasie
von S4SCH4
Anfang
Das stand Min; auf der alten Eisenbahnbrücke. Sie spürte die rostigen Nietenköpfe und wie sie von unten, gegen die Sohlen ihrer Schuhe drückten, etwa je vier bis sieben dieser Dinger zeichneten ihre Schuhgröße aus, je nachdem wie sie geradestand. Unter ihr: Wasser, rauschend, in einem Fluss, nicht besonders tief, vielleicht ein halber Meter, schätze sie. Klar bis auf den Grund floss es dahin. Bunte, dunkle und helle Fische schwammen dort, gegen den Strom und mit dem Strom, manchmal an Steinen saugend, als wären sie ein daran haftendes Blatt. Mins Körper und Gesicht spiegelten sich auf einem Teil der Wasseroberfläche, nichtsdestotrotz ließ sich durch diese Spiegelung, immer noch durch das Nass blicken. Es war ein sowohl als auch. Inmitten der spiegelnden Silhouette verweilte ein Fisch, er blieb einmal hier und einmal dort, bewegte sich- aber nicht ohne außerhalb der Umrisse zu geraten und schwamm diese gar sachte ab. Als fließe er mit der gleichen Perspektive ihrer Spiegelung, nur von einem anderen Ort aus. Als hätte der Fisch, trotz seines Aufenthaltes inmitten des Wassers, eben jene Perspektive verinnerlicht, die sich nur ergab, wenn man eben mit dem Körper und dem Gesicht genau dort stehe, wo die junge Frau stand. Sie konzentrierte sich auf den Fisch, auf seine Bewegungen, auf die Strömung, die durch die Flossen glitt und auf das umhin schwimmende Plankton. Bald empfand sie sich als Fisch, inmitten von unzähligen anderen- und innerhalb ihrer körperlichen Umrisse, die sie aus einer anderen Sicht betrachten konnte. Es schien kein Unterschied mehr zu geben, zwischen der Form eines Fisches und der Form eines Menschen, beides war willkürlich gestaltet und gefärbt. Als würde sie durch eine geschäftige Stadt gehen, gleichermaßen war ihr die Verkörperung. Jeder Fisch war nicht mehr als ein Mensch und jeder Mensch nicht mehr als ein Fisch. Die Steine und der Schmutz im Flussbett waren nicht mehr, als die aus Stein und Mörtel gebauten Gebäude der Städte. Das Wasser war nicht mehr als die Luft und es spielte keine Rolle, in welchem Kosmos man sich aufhielt, dachte sie. Dort unten am Grund des Flusses gab es keinerlei Gründe etwas zu tun oder nicht zu tun. Für ihren Fisch gab es vielleicht nicht einmal den Grund.
Am Grund
Min änderte den Kosmos und betrachtete den Fisch bewusst als Beobachterin, sie zoomte hin und ließ ihr Bewusstsein mit ihren Vorstellungen erkennen, doch ließ sie einen Teil von sich, in dem zuvor geschaffenen Kosmos; dort wachte er sowohl über die Betrachterin, als auch über das Betrachtete und konnte ohne Worte berichten, was geschehe.
Es gab sie und es gab das Tier. Doch der Fisch hatte ein Teil von ihrem Bewusstsein erhalten, er war ein Teil von ihr, ein Teil ihrer Vorstellung und Teil ihrer Welt. Alles, was das Geschöpf tun würde, wäre ihren Gedanken und Vorstellungen entsprungen, alles wäre ihre geistige Interpretation und ihr Verstehen, wobei der Fisch weder dieses noch jenes wirklich, für oder aus sich, tue. Der Fisch, der sie dem Empfinden gemäß, ja selbst war, oder den sie mit ihren Gedanken dazu machte, war abhängig von ihrem Interpretationsvermögen. Das Tier war abhängig von dem Nicht-Fisch, der mit anderer Gestalt, von oben eine Silhouette, in den Fluss warf. Etwas in ihr dachte, sie hätte den Fisch erschaffen, dass er abhängig von ihr wäre und gleichzeitig doch auch nichts anderes als sie selbst, weil er eben nur aufgrund ihrer Vorstellungen überhaupt Fisch genannt wurde und aufgrund ihrer Vorstellungen sich in Richtungen bewege, der Zeit unterworfen und den Gesetzten der Natur unterliegend, die sie mit ihrer Welt ihm definiere. Und so wie er abhängig von ihr war, war sie wohl gleichsam abhängig von ihm, denn ohne ihn, gäbe es nichts Lebendes innerhalb ihrer Silhouette, auf das sie sich hätte projizieren können, mit ihren Vorstellungen. Nichts, das sie hätte selbst leben können. Sie wäre ohne ihn nur ein stiller Betrachter eines Geschehens, leblos und teilnahmslos.
Und er? Was wäre er? Hatte er eine wahre, eigene Existenz, oder war er nur durch die Betrachtung eines Betrachters, existent? Lebte der Fisch nur fort durch die betrachtende Anteilnahme? Wäre die Nicht-weiter-Betrachtung, womöglich nur ein vegetieren in den Erinnerungen der- oder desjenigen, die, oder der ihn einmal betrachtet hatte? Wäre er ohne die stete Betrachtung, nicht mehr als ein verflossenes Relikt, abgelegt und schlummernd in Erinnerungen irgendwelcher Gedanken, vielleicht ringend um sein Fortbestehen und ringend gegen das Vergessen? Wären all die Träume, Wünsche, Hoffnungen, Vorstellungen und Wahrheiten des Fisches, etwa nur etwas was sie als Zuschauerin glauben und sich vorstellen müsse, damit es zu ihm wird? Was wäre, wenn sie dort oben auf der Eisenbahnbrücke noch mehr Dinge betrachten würde und nur ihn zwischenzeitlich aus dem Blick verlieren würde, sei es entweder, weil sich etwas an ihrer Silhouette oder Perspektive ändere, oder sei es, weil er sonst wie außerhalb der Perspektive gerate? Würde er in einem separierten Zeitstrom ihrer Vorstellung, ohne direkte Verknüpfung zu den anderen Dingen, in einem Paralleluniversum existieren? Würde die Frau all das fassen, fühlen, wiederfinden und zusammenknüpfen können? Wäre das Tier derweil nur existent, in den Betrachtungen fremder, willkürlicher Beobachter, die sich den Rest beschauten, oder hätte er diesen Fremden, trotz der Eigenheit jener Beschau, gar sein Leben zu <verdanken>, auch wenn er es mit dem, was er zwangsläufig tue, bezahlen müsse? Gäbe es für ihn die Möglichkeit, sich fern seiner Vorstellung etwas zu erhalten, etwas zu kultivieren, das dafür sorgen könne, nicht in einem Befremdlichen betrachten, zur Fremde zu werden? Wäre es ihm möglich, im Geheimen einen Keim zu behalten, mit dem er zum Weiterleben hintreibt? Eine innere Urkraft, ohne Grund, die zur Fähigkeit einer <Urexistenz> tendiere? War es der Betrachterin möglich, diese Urkraft über die Zeit zu wahren, um den Fisch wiederzufinden, beziehungsweise, ihn als separates Etwas, das er im Augenblick der Betrachtung ja war, wieder einzufangen und mit allen anderen Dingen zu umfassen?
Abstieg ohne Grund
Falls es, für den Fisch keinen Grund geben könne, dann war er, was er war, oder was man sich über ihn einbildete. Er war geboren mit dem ersten Gedanken an ihm und er würde sterben mit dem letzten Gedanken an ihm. Das, was dazwischen lag, war die Spanne seines Lebens. Alles, was er sich vorstellte, war nichts anderes als eine Reflexion, die Reflexion eines an anderer Stelle bereits vorgestellten und Geglaubten. So wäre ihm doch selbst der Gedanke eines Abhängigseins, oder eines freien Lebens nicht einmal wirklich zu eigen. Kein Lebenswille, kein Leben können und kein Sterben war je sein eigener Gedanke. Nichts davon wäre so vielleicht je sein eigener Impuls gewesen, es war stets nur die Interpretation eines Betrachters. Eine Interpretation, die auf den erfahrenen Betrachtungen basierte und die man gemäß Verhalten, welches man ja betrachtete, zu deuten verstand. Vielleicht kann der Fisch neue Handlungen und ein neues Verhalten erkennen lassen, doch es wird für ihn letztlich immer nur wahrhaft neu, wenn die Betrachterin es, vorher als neu erkennt und deutet, sich vorstellt und umsetzt.
Min hatte zwischenzeitlich ihre Augen geschlossen. Ihr war ein wenig schwindelig und ihre Beine zitterten ein wenig. Schwäche. Sie holte sich ein Bonbon aus der Tasche, legte es in den Mund und sprang, aus einem Meter Höhe, in das Wasser. Kühl war es. Sie beschloss, ihre Gedanken einzufangen und dorthin zu bringen, wo sie sich selbst trösteten. So dachte sie weiter: Wenn man Fisch und Betrachter niemals wahrhaft trennen könne, sondern es immer eins bliebe, verbunden durch Vorstellungen und Einbildung, so findet beides gleichermaßen statt. Sowohl Fisch, Esel, Pferd oder dergleichen, als auch das zutrauende Zuschauen, sind und bleiben gemeinsame Sache.
An Land
Min stieg aus dem Wasser und sowohl der Teil, der an ihr betrachtet hatte, als auch das, was betrachtet wurde, hatten zusammengefunden. Beides ging an Land. Die erstarkte Aprilsonne trocknete ihre Kleidung und im milden Wind spürte sie keine Kälte. Sie schwang sich auf ihr Fahrrad und fuhr los. Der Rahmen des Rads war rot und weiß, bunte Aufkleber und Bänder waren am Rahmen befestigt. Sie fuhr den Weg am Haus ihrer Mutter entlang und versuchte, sich derweil nicht mit den Gedanken an ihr letztes Zusammentreffen zu befassen. Ihre Mutter hatte Alzheimer und verbrannte zuletzt einen Großteil der in ihrem Elternhaus befindlichen Sachen der Tochter; in der Annahme, Min wäre gestorben. Als Min dann nach Hause kam, war ihre Mutter überzeugt davon, einen Geist zu sehen, und versuchte sie aus dem Haus zu scheuchen, paralysiert rief Min den Rettungswagen und wartete vor dem Haus.
Min wusste nicht, wie ihr geschehe, und sie lebte das Verbrennen der Dinge, sinnbildlich, körperlich nach und wurde im Park ohnmächtig. Ihre Freundin fand sie einige Stunden später und brachte sie zu einem Arzt.
Doch der Vorfall hatte sie verändert. Oft empfand sie sich fortan wie ein gejagtes Wesen, gereizt und ausgebrannt.
Zu allem Überfluss war der Freund ihrer Mutter wieder einmal vor Ort, was erfahrungsgemäß Probleme verursachte. Er hatte eine Art an sich, jegliche Dinge, in ein größtmögliches Schlamassel zu wandeln, als wäre er ein Schweinchen, das sich im Dreck wohlfühlen würde, dachte Min etwas spöttisch. Sie versuchte, ihn nicht weiter an sich heranzulassen, doch in Anbetracht der Krankheit ihrer Mutter, war das nicht so einfach.
Min dachte rigoros, fast schon übertrieben blasphemisch, darüber nach, inwiefern sie denn noch ihre Mutter war. Denn einerseits verband sie all ihre Vorstellungen ihrer Kindheit und Vergangenheit mit dieser Person, doch anderseits war diese Person gar nicht mehr existent. Es hatte ab und an Phasen gegeben, da kamen die Dinge zu ihrer Mutter zurück, es waren anstrengende Phasen, in denen Min sich aufopferte und alles gab, doch dann, mit einem Mal war alles wieder dahin. Für Min blieb erneut die Erinnerung, eine weitere aufgebaute und wieder einmal niedergebrannte Brücke, die Enttäuschung nach Hoffnung. Für Ihre Mutter war einfach alles vergessen, verschwunden. Ihr Freund tauchte wieder einmal als Vormund auf und machte alles umso schlimmer. Und die Krankheit der Mutter, war vielmehr dabei, eine Krankheit für Min zu werden. Jenes Gebrechen, zu dem sich, zu allem Überfluss, ferner noch ein solches Mitleid mengte, dass daran glaubte, ihre Mutter könne nichts dafür krank zu sein. Dieses Gemenge aus einem berstenden und einem nie endenden Umwälzen, dass die junge Frau auf sich nahm, auch weil es sich durch Mitleid gedrungen empfand, war das ausbreitende, das unsichtbare Übel, das sich um die attestierte Krankheit ihrer Mutter ausbreitete. Eine unsichtbare Lache, die Fürsorgliches abhängig machte und Mitleidiges dazu anhielt, sich immer wieder auf ein Neues, in einen vorgegebenen Kreislauf aus Leben und Sterben, Hoffen und Aussichtslosigkeit zu begeben, bis sie alles gegeben hatten und wieder mit leeren Händen dastanden. Min hatte es niemals anders gelernt und trug Mitgefühl, Fürsorge und Hingabe in sich. Keine eigene Krankheit könne schlimmer sein, dachte sie bisweilen, wenn sie mit ihrem Leben haderte. Wenn man krank wäre, so hätte man etwas, dem man sich stellen konnte, etwas, das behandelbar wäre; Mittel und Wege wären zu finden. Doch ein unsichtbares Übel, von niemanden erkannt und von niemand behandelt, war ihr kaum handhabbar, kaum fassbar. In Mins Familie gab es sonst nur ihre Tante, die ihrer Mutter noch ab und zu helfen konnte, sie sorgte für sie, erzählte ihr viel von früher und fuhr mit ihr in den Urlaub; genaugenommen in die Türkei. Min merkte danach, dass es ihrer Mutter besser ging, doch war es vorübergehend.
Ihr Vater war irgendwann einfach verschwunden; er hatte noch ein paar Sachen im Haus zurückgelassen, alte Fotos, abgetragene Kleider und so weiter und war einfach fort. Min war keine sieben Jahre alt. Ihr Onkel war ein Zwillingsbruder ihres Vaters. Eineiig. Er erzählte einmal, dass ihr Vater über den Großen Teich übergesetzt hatte, um dort neu anzufangen, über die Gründe schwieg er sich aus. Vielleicht hatten sie etwas mit dem- sich damals schon andeutenden Gesundheitsverfall ihrer Mutter zu tun. Keiner wusste Genaues, zumindest erfuhr Min es nicht. Sie erinnerte sich an die verwirrenden Zeiten seines Fortgehens, in denen ihr Onkel sehr häufig zu Besuch war. Vieles war zu verarbeiten, die Lücke, die ihr Vater hinterlassen hatte, war irgendwie zu schließen. Mit Gesprächen und geschäftigen Versuchen war man im Begriff, die Normalität zurückzuerhalten. Ihr Vater war einfach so, von einem Tag auf den anderen weg und doch war regelmäßig jemand im Haus, der nahezu das gleiche Gesicht hatte, den gleichen Körperbau aufwies und der sich in den gleichen familiären Hintergrund teilte. Irgendwie ein befremdliches Gefühl für Min, noch heute.
Ich
Als die junge Frau so darüber nachdachte, empfand sie es mehr und mehr so, als ob sie sich, beziehungsweise ihr gewünschtes und mit Vorstellungen umschlungenes Leben, von außen betrachtete. Als hätte sie sich aufgrund des Kummers, den sie wieder und wieder in Bezug auf ihre Mutter empfand, aus ihrem einst unbewusst betrachteten Körper entfernt und wäre außerhalb ihres Lebens stehend. Es gab die Zeit der unmittelbaren Erfahrungen und die Zeit des mittelbaren, bis abebbenden, Kauerns. Doch strebte sie stets wieder zur Vereinigung ihres Selbst und der Betrachtung dazu; stets sprang sie wieder an Land.
Einige Therapeuten hatten versucht, sie zu behandeln. <Behandeln>. Es schien genau das richtige Wort zu sein. Stets ging es darum, irgendetwas zu handeln oder zu behandeln. Das Menschliche kennt dieses handeln, als Handlung des Lebens und kann scheinbar gar nicht anders. Alles hat Hände, alles hat einen Griff und alles hat eine Absicht und einen Zweck, alles ordnet sich dem individuellen Sinn eines Lebenskonzeptes unter. Und was nicht passt, wird passend gemacht, mit ein paar neuen Wahrheiten, Glaubenssätzen und Perspektiven. Jeder kann sich programmieren. Paradox, dass man sich vielleicht nur ungern vorstellt, dass künstliche Intelligenz einmal das menschliche Wesen verdrängen könne, gleichzeitig aber dabei zusieht, dass der Mensch alles dafür zu tun scheint, sein menschliches Wesen gegen Künstlichkeit und Unnatürlichkeit einzutauschen. Sich dabei nur mit dem Argument und dem Bestreben dagegen verwahrend, alles sei viel zu komplex, zu vielfältig und zu unberechenbar; obwohl die Dinge klar betrachtet, weder das Eine noch das Andere sind. Es bleiben aus Worten geformte Vorstellungen von wahr und unwahr, ja und nein, Ursache und Konsequenz, standardisiert und katalogisiert, ein riesiger Datenvorrat, Merkmale verknüpft mit Emotionen, Gewohnheiten und berechenbare Wahrscheinlichkeiten. Am Ende wäre alles vielleicht nicht eine Übernahme künstlicher Intelligenz, sondern eher eine Übergabe, eine Aufgabe des <konventionellen> Menschen und das bezeichnete Ende eines ewigen Missverständnisses. Der digitale Mensch ist nicht die nächste Stufe des Menschen, sondern wäre die geistig aufgegebene Entwicklung, kartografiert, ausgewertet unter der gläsernen Gauß-Glocke einer Wahrscheinlichkeitsrechnung.
Wo blieb all das Nichtstrebende, dass aus sich selbst Fühlende und Mitteilende, das, was frei von den festen Mauern war, etwas, das frei von Floskeln und den blendenden Dingen wäre, die man in Werbung oder sonst wo eingefüllt bekommen hätte. Wo war das Leben eines sich frei fühlen und sprechen können, ohne sich ein Raster anzulegen und den Anderen zu prüfen; das Leben, das einfach nur <war> - mehr nicht! Min fragte sich, ob es denn nur ihr so ginge, ob sie richtig läge.
Nichtsdestotrotz entspannten sich die Dinge wieder ein wenig. Auch wenn es widrige Perioden gab, so war doch seit Monaten endlich einmal wieder ein passender Nachmittag gefunden. Diese Zeiten mussten zwar für üblich mit vorherigen Unannehmlichkeiten quittiert werden, aber immerhin gab es den Impuls eines <bergauf> noch; und sei es auch nur im Hamsterrad oder auf den Wellen einer See. Ob das nun einfach nur gut war, oder eher ein Zeichen ihrer fortführenden Abhängigkeit von äußeren Umständen, war ihr momentan auch egal.
Rückenwind
In der warmen Luft fuhr das Rad angenehm, Min empfand eine wohlige Balance zwischen Wärme der Sonne, milden Luftzügen und der verbliebenden Feuchtigkeit ihrer Kleider. Wurde es einmal zu warm, oder aufgrund der körperlichen Aktivitäten schweißtreibend, so fuhr sie einfach im Schatten der Weidenbäume entlang, die um die Straße herumstanden. Sie erinnerte sich, als ihr Bruder, die Bäume damals zusammen mit seiner Pfadfindergruppe gepflanzt hatte, feierlich und stolz trugen die jungen Menschen, die noch jüngeren Bäume durch den Ort, um sie schließlich ein Stück außerhalb, um den Weg zu pflanzen. Niemand fragte damals nach einem Sinn, es waren einfach Menschen, die Bäume trugen und pflanzten; und nun… war sie eine Frau, die unter diesen Bäumen entlangfuhr.
Ihr älterer Bruder lebte in der nächsten größeren Stadt; in der Hauptstadt. Nachdem der Vater damals gegangen war, übernahm er die Firma und musste den Untergang aushalten. Verschuldet und marode, er war ohne Erfahrung, ohne Eignung. So erntete er Schulden und Schulden aus Zins und Zinseszins. Zudem litt er an einer obskuren Krankheit, die sich immer zeigte, wenn in ihm fröhliche Gedanken hervorkommen wollten. Immer dann, wurde er müde, träge und antriebslos, es war derart, als reagiere sein Körper gegen jene Form der Freude und des Glücks allergisch, als hätte er in einem Körper zu leben, der gezwungen war, entweder im Gegenteil von Freude zu verweilen oder ihrer gleichmütig zu werden. Armer Kerl, sagte man über ihn; doch was sollte man machen? Die Ärzte verschrieben ihn Medikamente, doch konnten ihm diese Medikamente nur abhängig machen, sie waren nichts anderes wie chemische Freudenspender mit Nebenwirkungen, sagte er. Er verstand nicht, warum er sich mit seinem Leben an chemische Substanzen binden sollte, er meinte, dass wenn sein Körper nicht aus sich heraus fähig wäre, in diesen oder jenen Gelegenheiten, Freude und Glück zu empfinden, so war dies eben sein gottgegebenes Leben. Er war der überzeugten Meinung, dass es keinen Anspruch darauf gäbe, sich glücklich zu fühlen oder Freude zu fühlen, wenn solches käme, dann käme es und wenn man es ergreifen wolle, mit Substanzen eben danach verlange, dann verflüchtige es sich und kehre sich ins Gegenteil. Es war nicht so, dass er davon sprach, dass ihm das Leben egal sei, auch wenn ihm manche Leute dies einzureden und anzudichten im Begriff waren; vielmehr war es sein Verständnis, das sein Leben in seinem Körper und sein gesamtes Körperbewusstsein, ein Reisendes sei, etwas das eingehüllt wäre und das es, jenen reisenden Passagier, zu bewahren gälte. Ganz wie ein Floß oder ein Schiff. Er wäre eine in Holz oder Stahl gebrachte Form, die man zum Steuern auferlegt, bekommen hätte. Vielleicht hatten die Jahre, in denen er mit der Verschuldung der Firma konfrontiert war, ihn krank gemacht, oder vielleicht hatten diese Jahre ihm auch erst die Möglichkeit verschafft, mit der Krankheit auf derartige Weise umzugehen. Vielleicht war es ja nicht einmal eine Krankheit selbst, dachte Min.
So tat er, was er tun konnte, musste mit seinen physischen Befindlichkeiten und dem Erbe der Firma leben, fand dabei aber nichtsdestotrotz, einen für sich heimlichen Plan, wie er, Min das letzte Mal, bei einem seiner Besuche andeutete. Doch er wolle ihr dies erst beim nächsten Wiedersehen erzählen. Min blieb gespannt, denn ein nächster Besuch stand unmittelbar bevor.
Gruft
Der Abend brach ein und aus Mins positivem Gefühl wurde Gleichmut. Sie hatte die Stadt erreicht und sah eine Gruppe von Menschen, in Schwarz gekleidet, ihr entgegenkommend, finster. Gestalten aus der Gruft, die sich ihre Lebensenergie aus Problemen zuwider des Lebens zogen, sich vom Nicht-Leben, vom Ableben nährten und eben dadurch lebten. Eindringlich war man der Einheit aus Leben und Nicht-Leben hier genau gewahr. Dieses Leben und Ableben waren kein Widerspruch, all dies war im Grunde fundamental miteinander verbunden, man konnte es nicht trennen und wenn man es trennte, so waren dies nur subjektive Eindrücke des Augenblicks, Empfindungen und Vorstellungen. Das Eine nährte das Andere, die Perspektive des Lebens ohne Sorgen und zum Weiteren hin bestrebt, war nicht mehr als eine von vielen Perspektiven, die nur allzu gerne danach trachtet, in einer heilen Welt zu leben, und sich eine Vorstellung von dieser heilen Welt machte. Aber all dies, gäbe es nur in den eigenen Gedanken, eingepflanzt und anerzogen, weitergewachsen, zugeschnitten und neu ausgetrieben. Ihr Bruder hatte einmal gesagt, dass niemand die Schuld hätte, wenn man in seinem Leben einmal scheitere, das Leben ist gebaut vom Wandel und dem, was dabei umkäme. Dieser Wandel, aus dem Anschein willkürlicher Dinge, wäre, das einzig Beständige der Welt und ein jedes wäre dieser Entwicklung unterworfen; den Umgang des Wandels empfände man teils tragisch und leidlich, weil er eine beständige Vorstellung böte und Ansprüche erhebe. Ihr Bruder sagte, er habe im Laufe der Zeit, als die Firma Pleite ging, nicht viel gelernt, sogar viel von dem verlernt, was er meinte, einmal gelernt zu haben, doch hätte er erkannt, was Realismus sein kann.
Zu Besuch
Min fuhr weiter die Straße entlang und vorbei am Hause ihrer Mutter. Vor dem Haus sah sie allerhand Kartons, hüfthoch aufeinandergestapelt und mit gelben Zetteln beklebt, auf denen sie eine Inhaltsangabe vermutete. Ihr Herz klopfte, sie hielt an, ging zur Eingangstür und warf indessen einen Blick auf einen der Kartons und der Beschriftung: <Hobby – Eisenbahn>.
Sie ging zur Haustür und sah, dass die Türklingel abmontiert war, Drähte hingen lose aus der Wand, nach allen Richtungen gebogen, als würden sie das Ziffernblatt einer Uhr anzeigen; doch fehlten die Zeiger. Ihre Haustürschlüssel hatte sie letztens dort gelassen. Sie klopfte und ihre Mutter kam zur Tür.
„Ahh, Hallo“.
„Hallo Mutter“, sagte Min. „Wie geht’s?“
„Ach ja, mal so, mal so; komm rein.“
Drinnen standen ebenfalls eine Menge Kisten herum, umgeben von allerhand Regal-Einzelteilen. Min schwieg noch und setzte sich an den Küchentisch.
„Vreni?“, rief es laut aus der oberen Etage des Hauses. Min wurde unwohl, als sie die Stimme von Ernst, dem Freund ihrer Mutter, hörte.
„Nimm dir einen Kaffee“, sagte ihre Mutter, als sie zur Treppe ging, um auf Ernsts fragenden Ruf zu reagieren. Min hörte, wie die beiden kurz darüber sprachen, wo, was, aufzubauen war, dann kam Vreni zurück. Der Hals von Min war trocken und nach Café war ihr gar nicht. Ernst fing oben an zu hämmern, jeder Hammerschlag drang in Mins Hirn ein; sie versuchte, ruhig zu bleiben, ihre Mutter war aufgedreht, fast euphorisch.
„Was macht ihr hier?“, fragte Min schließlich.
„Ach… dass… Ernst zieht ein. Und wir bauen gleich ein wenig um.“
<poch, poch, poch>… Hammerschläge. Diesmal lauter als vorher. Min blickte seitlich auf den Boden und nickte. Dann fuhr sie fort:
„Quent will nächste Woche kommen, aus der Stadt, er hat gefragt, ob wir zusammen essen.“
Nachdenklich wirkte das eben noch euphorische Gesicht ihrer Mutter. Sie überlegte. Dann hellte es sich wieder auf, als wäre gerade ein schattiges Plätzchen von einem Sonnenstrahl getroffen.
„Ja, natürlich. Der Quent“, sagte Vreni.
Min vermutete, dass ihre Mutter kurz nachdenken musste, wer Quent sei. Doch sie tat es beiseite. Dieses Gefühl des Wechsels von Schatten und Licht, dieses eindrückliche und fremde Gefühl einer zerstückelten Kommunikation und einer fragmentierten Beziehung, schob sie von sich. Irgendwohin nur nicht jetzt und hier, dachte sie. Min blickte in das Gesicht ihrer Mutter und fragte sich, ob sie neben dem, was sie sagte und ausdrückte, auch etwas empfand und wenn sie etwas empfinden würde, was es wohl wäre. Manchmal dachte Min, es fehle eine Verknüpfung- zwischen dem was sie ihrer Mutter ansah und von dem, was von ihr zu hören war.
<poch, poch, poch>… Hammerschläge… dann Bohrmaschine.
„Möchtest du keinen Kaffee?“, fragte Vreni langsam.
„Danke, ich muss auch gleich weiter.“ Min klopfte sich ein wenig auf die Schenkel. Vreni überlegte und sie sah ein wenig aus wie Mins Großvater. Die Bohrmaschine ging aus und man hörte, wie jemand die Treppe hinunterkam. Wenig später stand Ernst in der Tür. Er grüßte und lächelte, doch das Lächeln war eher zynisch. Seine Augen glichen einer Schlange, befand Min. Kleine Pupillen um eine grün-graue Iris. Sie konnte sich dem Empfinden nicht erwehren, dass er einen Giftschleim um den Mund trug. Ernst hatte eine Art, Dinge zu verdrehen, einen falschen Schein aufkommen zu lassen, andere zu verunsichern, ihnen zu misstrauen und sie zu verwirren. Er hatte ein Faible für Verschwörungstheorien und misstraute selbst alles und jeden; dieses Misstrauen projizierte er auf andere. All dies machte es unangenehm, mit ihm zu sprechen. Min meinte öfter, er sei behindert, nicht in einer böswilligen Form, sondern eher insofern, als dass seine Art ihn hindere, einfach ein natürlicher Mensch zu sein und er es behindere, dass sich Menschen natürlich verhalten konnten. Hinter all den unangenehmen Dingen, die mit diesem Menschen einhergingen, mutete es so an, als läge in ihm ein bemitleidenswertes Wesen.
Ernst ging zu Vreni und umarmte sie, dabei sah er kurz herüber zu Min. Diese blieb einfach still, sie hätte den Kopf schütteln können, laut lachen, etwas sagen, doch hätte es nichts an ihrem Empfinden geändert. Man durfte sich einfach nicht auf die irren Spiele einlassen, sie am besten gar nicht zur Kenntnis nehmen. Ohne weitere Worte nahm Ernst ein paar Regalbretter und ging wieder hinauf. Min stand ebenfalls auf, blickte ihrer Mutter ein paar Sekunden in die Augen und verabschiedete sich von ihr. Vreni wusste nicht so recht, was sie sagen sollte.
„Ich habe noch einige Sachen von dir auf dem Speicher gefunden“, sagte die Mutter schließlich.
Min drehte ihren Kopf zu ihr um, blickte ihr Lächeln und wusste sich nicht zu helfen. Daran erinnernd, wie es einmal gewesen war, unterdrückte die Tochter ihre Tränen und spürte ein Kloß im Hals.
„Okay“, sagte sie trocken und zu Boden blickend.
Beide verabschiedeten sich wiederholt mit einem kurzen Wink. Min stieg wieder auf ihr Fahrrad. Die Sonne war bereits untergegangen und es war kühl. Einige Vögel zwitscherten in den umliegenden Büschen und raschelten dabei, die, sich im zunehmenden Wind bemerkbar machenden Blätter auf. Die Straße führte neben dem Zentrum entlang, eher ruhig, nicht viel befahren und mit viel Bäumen. Es dauerte zehn Minuten bis zu ihrem Zuhause.
Zurück
Als Min in ihrer Wohnung ankam, ging sie in das Wohnzimmer, zog sich dort bequeme Joggingsachen an und setzte sich in ihren Sessel. Von dort zog sie am Band der daneben befindlichen Stehlampe und nahm eines der Bücher, die neben ihr auf dem Tisch lagen. <alles eine Frage des Glaubens>, so der Titel. Ihre Freundin hatte ihr das Buch letztens geschenkt. Min schlug willkürlich eine Seite auf und las darüber, dass auch der Zweifel und das Misstrauen, ein Glaube wäre, eben nur ein Glaube daran, etwas nicht zu glauben. Jemand, der meine, Menschen würden etwas verbergen, ist in seinen Vorstellungen doch selbst verborgen. Jemand der aufgrund seiner Veranlagung zu einem derartigen Zweifler und latenten Verleumder werden würde, hätte sein Los angenommen, es zu seinem Charakter gemacht und wäre im Begriff, andere am Trübsal teilhaben zu lassen. So hätte man die Niederung des Lebens angenommen, hätte ein Stück eingetauscht. Sie las noch ein wenig weiter in dem Kapitel und versuchte dabei, die Angelegenheit mit Ernst zu verarbeiten. Als sie meinte, an einen passenden Punkt gekommen zu sein, blätterte sie weiter und fand ein Kapitel über die Relativität des Glaubens und des Unglaubens.
In beiden Extremen wäre Existenz möglich, sowohl im Glauben an etwas oder an dem Nichtglauben an etwas beziehungsweise an alles. Denn so extrem wie beide Perspektiven waren, so waren sie doch beschrieben durch etwas Gemeinsames, dieses Gemeinsame war ein ungeschriebenes Wort und ein stiller Ton, der sich zwischen der Beschreibung eines Dinges der Extreme und seines negierten Gegenteils befand.
Das Telefon klingelte.
Anruf
Min nahm den Hörer ab und meldete sich.
„Guten Tag, mein Name ist Bild. Könnte ich bitte mit Min sprechen?“
„Ja, am Apparat.“
„Sehr gut, hier ist Adam, der...(räuspern) ein Freund deines Bruders, Quent. Er hat mir deine Telefonnummer gegeben.“
„Ah ok.“ Min Stimme stockte.
Min überlegte, doch konnte sich nicht erinnern, dass ihr Bruder je etwas von einem Adam erzählt hätte. Dieser fuhr derweil mit dem Gespräch fort:
„Ja… weswegen ich dich anrufe, also, Quent hatte einen Unfall, er liegt im Krankenhaus.“
„Geht es ihm denn gut? Was ist passiert?“ Min war nun ein wenig aufgeregt, die Stimme unruhiger.
„Man weiß noch nichts Genaues, er wird gerade untersucht. Ein Komet hat ihn getroffen. Frontal.“, antwortete Adam.
„Komet?“, fragte Min ein wenig verstört.
„Ahh, ja. So heißt die Tram bei uns, du weißt schon… Schienen, vorgegebene Spurrinnen, Oberstrom, öffentliches Verkehrsmittel…“, erklärte Adam ausführlich, bereit noch mehr Details vorzutragen, wenn man ihn denn danach fragen würde.
Min wusste, was er meinte, sie fragte nicht weiter.
Adam fuhr fort:
„Also Quent wollte dich ja nächste Woche besuchen, aber das scheint wohl nichts zu werden. Wie gesagt, man weiß noch nichts Genaues, aber es scheint zumindest unwahrscheinlich, dass er so bald wieder genesen sein wird. Ich kann allerdings sagen, wo er im Krankenhaus liegt und wie du ihn erreichen kannst.“
„Ja, warte ich hole etwas zu schreiben“, Min suchte in einigen Schubladen. Ein Stift fand sich nach wenigen Augenblicken, ein Zettel hingegen nicht ohne Weiteres, daher nutze sie dazu irgendeine Seite von dem Buch, das sie zuvor gelesen hatte.
„Ich höre…“
„Also er liegt im Walden Krankenhaus, Zimmer 2.038, die Telefondurchwahl entspricht der Zimmernummer. Vorwahl und Durchwahl des Krankenhauses findest du im Telefonverzeichnis. Hast du´s?“
„Ja, verstanden. Danke.“
„Ok falls noch was ist kannst du mich auch anrufen“, bot Adam an und gab ihr seine Mobilfunknummer.
Min bedankte sich. Adam meinte, es gäbe keine Ursache, sie solle sich keine übergroßen Sorgen wegen ihres Bruders machen und verabschiedete sich daraufhin.
Als Min den Hörer aufgelegt hatte, überlegte sie kurz, ob sie ihrer Mutter kurz Bescheid geben solle, doch ihr Kopf wurde schwer und sie setzte sich erstmal wieder in den Sessel. Infolgedessen schlief sie ein.
Infinitesimale Träume
Im Traum fuhr Min auf dem Fahrrad zu ihrem Bruder, ausgestattet mit neuem Helm und Schuhen. Schwarz-weiß und violett. Sie fuhr und stand doch still, ihre Beine bewegten sich, die Räder des Fahrrads drehten sich, das, was sie in ihrer Sicht sah, änderte sich, doch kamen die Dinge auf sie zu. Zumindest konnte sie nicht sagen, dass sie etwas entgegenfuhr. Als befände sie sich in einem endlosen Raum und im absoluten Stillstand. Was sie sah, war eine Sicht, ein großes Viereck in dem Formen entstanden und einen dreidimensionalen Raum darstellten, ein Raum, den sie spürte und den sie selbst verkörperte. Die Bewegungen des Raumes waren im Fluss und in Bewegung, doch gab es keine Vorstellung von einem dorthin kommen und einem dorthin gehen. Alles war ausschließlich augenblicklich und ohne Vorstellung. Weder gab es eine Vorstellung davon, dass etwas gerade doch noch dort war, noch gab es eine Vorstellung davon, dass etwas gemäß den letzten Beobachtungen sich dorthin bewege. So gab es nichts, dass man hätte kommen und gehen nennen können. Es war einfach. Jeder Augenblick war ein Neuer und dadurch, dass die Augenblicke nahtlos ineinander übergingen und sich kein Anfang und Ende des Augenblickes wahrhaft finden ließ, war es gleichzeitig etwas Unendliches. Infinitesimal. Die Augenblicke waren eine unendliche Folge von rechteckigen Bildern, die sie mit der Sicht ihrer Augen sah, sie strebten beim erfassen wollen des Momentes, in ein immer Kleineres; in ein unendlich Kleineres. Man konnte sich annähern und den Augenblick definieren als eben diese Annäherung, doch der Augenblick war niemals fassbar. Nur dessen Abbild, die Annäherung und das vorgestellte Konstrukt konnte gebildet werden. Das war, was sie eigentlich sah, fern der im Wandel befindlichen Sicht ihrer Augenwahrnehmung, fern der scheinbar unendlichen Folge von Formen. Ihre Augen blickten die definierte Annäherung, die eine Endlichkeit als Moment der Realität zu beschreiben und zu berechnen verstand; und während ihr Inneres zeitgleich die Unendlichkeit, in der nicht Erfassbarkeit des Momentes sah, das, was sich niemals wahrhaft berechnen ließ und immer nur Annäherung blieb, fing ihr Körper an zu beben. Im unendlich Kleinen einmal angekommen, stand die Zeit still. Ihre Augen konnten blicken und ihre Ohren konnten hören, alles dem scheinbaren Wandel von Form und Klang unterliegend, doch dort im Übergang vom angenäherten Moment zur Unendlichkeit gab es keine Zeit. Nichts geschah und nichts würde je geschehen. Sie verweilte und ließ sich treiben, alles war im Begriff sich auszurollen.
Der Wecker
Die Betrachtung änderte sich, Mins Augen und die vielen endlichen Rechtecke drangen ihr mit einem hämmernden Geräusch ins Gedächtnis. Sie sah sich noch stillstehend, doch lag sie auf einem Tisch, festgeschnallt und kalt. Vreni und Ernst zeigten sich vor ihr, lachend standen sie vor Min und das Lachen klang wie hämmern. Ernst murmelte Verschwörungstheorien und fragte sie, ob sie etwas hätte, kontinuierlich gestikulierte er mit den Händen, als definiere und forme er die Momente damit noch eingehender, augenscheinlicher, penetranter. Vreni lehnt sich an seine Schulter, als vertraue sie ihm, als übergebe sie ihm ihre Tochter auf einem Opferaltar, als wüsste er, was er tue und als hätte er Vreni überzeugt, ihm zu vertrauen, um dafür zu sorgen, dass sich Min ihm anvertraue. Das Min ihm ihre Aufmerksamkeit, Ihre Momente übergebe, dass sie seinem trügerischen und befremdlichen Schein nachgebe und seine Irrungen, Täuschungen und Zweifel als ihre Wirklichkeit anerkenne. Ernst nahm die Form ihres Vaters an, dann die Stimme. Innerlich schrie sie, sie schrie und schrie, während die beiden vor ihr lachten. Sie glichen zwei Puppen, die an den Fäden ihrer eigenen Erinnerungen hingen. Min versuchte, die Fäden aufzunehmen, sie gehen zu lassen, doch ihre Hände waren gebunden, der Körper bewegungslos. Ihr Bruder kam nun zu ihr, er hielt ihre Hand, ließ die anderen beiden unbeachtet, als sähe er sie nicht, er blickte Min verständnisvoll an, während er ihre Hand hielt. Die gerade noch zerrissene Zeit fügte sich wieder, die Wellen wurden harmonischer und sie fand sich wieder auf dem Fahrrad. Sie trat in die Pedale und bemerkte, dass etwas in regelmäßigen Abständen quietsche, als wäre die Fahrradkette ein wenig gerostet oder als wäre eines der Schutzbleche am Rad anliegend. Sie wachte wieder auf.
Vibrationen
Das Mobiltelefon von Irene vibrierte kontinuierlich und sie schaute, auf das zerkratze Display des Gerätes, mit Sprung im unteren Bereich, aber ohne, dass sie die Geschichte dazu kannte. Gebrauchtkauf. Irene las die Nachricht. Ihr Herz klopfte und ihr wurde warm, doch eher wohlig warm als unwohl warm. Min nahm ab.
„Hallo, du Irre“, grüßte Min mit melodischer Stimme. Die junge Frau wollte und konnte ihre Freude nicht verbergen.
„Na, wie ist es?“, fragte Irene mit langgezogenen Silben, nicht minder melodisch, fast ein wenig schelmisch.
„Bin gerade wieder aufgewacht, … was für ein Traum, fällt mir ja erst wieder ein.“
„Möchtest du darüber reden?“, erkundigte sich Irene; verständnisvoll.
„Weiß nicht, vielleicht später. Danke übrigens für das Buch.“
„Kein Thema, ja, das Buch ist gerade der absolute Hit in meinem NLP Kurs. Vielleicht weil der Dozent den Autor kennt, vielleicht sogar an ihm mitverdient?“
Min schnaufte ein wenig erschöpft, aber ohne dabei genervt zu wirken. Eher ein noch ein wenig heiter. Nach einer kurzen Pause erklärte sie sich:
„Oh bitte, gerade keine Mutmaßungen und Ansätze von Verschwörungstheorien. Kein guter Zeitpunkt.“
Irene erriet die Gedanken ihrer Freundin, ohne näher darauf eingehen zu wollen.
„So schlimm?“
„Ja irgendwie schon. Ich war heute kurz bei meiner Mutter und er zieht doch tatsächlich bei ihr ein. Mit allen drumherum. Ich weiß nicht, wo das alles noch enden soll“, seufzte Min.
Irene sprach einige tröstende Worte, mit warmer, verständnisvoller Stimme beruhigte sie ihre Freundin. Es war dabei weniger das, was sie sagte, als das wie sie es sagte. Für Min war es ein Rätsel, wie es ihrer Freundin gelang, sie stets auf diese unbeschreibliche Weise zu beruhigen und zu entspannen. Als massierten ihre Worte und Klänge ein Teil ihres Inneren, als gäbe es einen Geheimgang zu ihrer Seele, den nur Irene kannte, den sie, die ganze Freundschaft über, gegraben hatte und den Irene auswendig kannte. Und wenn sich Irene auf den Weg machte diesen Gang zu gehen, spürte Min viele lindernde Vibrationen, die durch ihren Körper fuhren, als tanzte sie mit ihr, als passten sich ihre Schritte, die jenen Geheimgang beschritten, dem Schlag ihres Herzens an, den Wellen und Schwingungen ihres Naturalls. Irene verstand es, Min sanft und ruhig zu machen, genügsam und dabei glücklich. Neben ihrem Bruder war Irene zum wichtigsten Menschen für Min geworden. Neben der geistigen Verbundenheit und Liebe, die sie miteinander teilten, war es zwischen Ihnen schon einige Male sehr nahe zum körperlichen Miteinander gekommen, doch waren sie aus irgendeinem Grunde nicht fähig oder reif genug. Vornehmlich Irene hatte aufgrund ihrer Erziehung und ihres familiären Hintergrundes, eine Art Sperre, eine einprogrammierte Grenze in sich. Sie kam aus einem konservativen Elternhaus, beides angesehene Ärzte, politisch engagiert und ambitioniert. Man sah es nicht gerne und Irenes Mutter hatte ihre Tochter schon einmal bezüglich der Beziehung zu Min in ein Gespräch verwickelt und dafür gesorgt, dass Irene sich von Min eine ganze Weile zurückzog. Es brach Min damals fast das Herz zu ertragen, das einige Menschen über die Beziehungen von anderen Menschen richten wollten und richten konnten, doch nahm sie ihren Stolz und die Kränkung nicht zu wichtig, als das sie diese Dinge, über sich gebieten ließ, was sie, als eine passende Persönlichkeit für ihr selbst zu empfinden hatte. Zudem verstand sie nicht, warum sie es zulassen sollte, dass äußere Umstände die Persönlichkeit von Menschen nach Belieben beeinflussten und so für sich nutzbar machten. Min blieb in dieser Hinsicht lieber dem Schein nach nutzlos- und dem Wesen nach, zugewandt. Vielleicht hatte sie das bei ihrem Bruder gelernt.
Als Irene das Gefühl hatte, Min hätte sich beruhigt und wäre wieder gefasster, fragte sie, ob sie denn später noch vorbeikommen solle, was Min daraufhin bejahte. Beide verabschiedeten sich, entschlossen sich später zu sehen.
Offene Türen
Min öffnete die Haustür und ließ Irene hinein. Letztere trug eine lockere Bluse und einen Rock über ihre langen Beine. Schwarzbraunes Haar, glatt und glänzend. Beide freuten sich, einander zu sehen, und lächelten verhalten, ein wenig schüchtern, als bewahrten sie sich, ein Zuviel voneinander zu wollen. Die beiden waren achtsam im Umgang miteinander, sie kannten die Zerbrechlichkeit, die in den Beziehungen zueinander lag. Sie fühlten sich beieinander zu Hause, als trugen sie in ihrem Inneren, nur je eine Hälfte eines Hafens mit sich. Als verstanden sie, dass kein menschliches Dasein je vollkommen sein konnte, dass es immer unvollkommen bliebe, immer nur eine Idee und ein Streben zu einer Vorstellung, ein Zurückwerfen und ein Aufbauen, stets getrieben von immer weiteren Vorstellungen. So behielten sie sich, eben nur diese eine Hälfte, sie behielten sie, zum Preis, die Unvollkommenheit zu kennen und zu spüren, sie über sich ergehen zu lassen, sich mit ihr abzufinden und sie gar zu lieben. Und indem sie das halbfertige, nie fertig werdende ihres Daseins verstanden und liebten, erkannten sie, dass es zwischen ihnen Augenblicke der Vollkommenheit geben konnte, in denen sich alle Zeit der Welt konzentrierte. Diesen Wechsel aus halb und ganz teilten sie; gänzlich.
Früher hatte Min sich oft gefragt, ob diese Hälfte denn genug sei, doch erkannte sie des Öfteren, dass diese Hälfte ihrer Person im Grunde gar nicht weniger, als ein Ganzes ihrer Person war, wenn sie nur mit Irene zusammen war.
Min war entschlossen, das, selbst wenn sich Irene irgendwann einmal nicht länger zu ihr bekennen würde, sie mit ihrer Hälfte als Ganzes leben werde, nicht weil sie darauf hoffte oder daran hing, dass etwas zurückkommen müsse oder werde, sondern weil es eben ihr Leben war. Und nur dieses Leben galt es für sie zu leben, ohne sich im Schein von Etwas vollkommen machen zu wollen und ohne im Schein der Vollkommenheit, das zu verlieren, was die wesentliche Hälfte ausmachte und sie damit gänzlich machte.
Min und Irene waren beide wie offene Türen, Flügeltüren, beide waren in sich nicht geschlossen und beide waren für sich genommen, nicht mehr als eine Schale. Eine Schale, mit der empfangen wurde und aus der genommen werden konnte, je nach Erfordernis der Zeit. Zusammengesetzt blieben sie für sich in ihren Hälften stets vollkommen empfangend und gebend und dabei doch gleichzeitig auch zusammen eine Ganzheit.
Socialization
Irene hatte eine Flasche Johannisbeersaft mitgebracht, Min hatte noch Erdbeersaft im Kühlschrank und die Gastgeberin mischte zwei Gläser Fruchtsaft, jedes mit zwei Eiswürfeln. Min setzte an beiden Gläsern ein Stück Honigmelone an den Rand des Glases, zur Dekoration oder zum Snack. Irene hatte zwei Strohhalme und je zwei Cocktail-Schirmchen dabei. Sie holte diese aus ihrer Tasche und schirmte die Melonen am Rand des Glases. Strohhalme gelb, Melone gelb, Schirm grün, Saft rot. Langsam drangen die Strohhalme durch das Eis und sanken mit ihren Enden zum Glasboden. Die beiden mussten lachen.
„Komm setzen wir uns“, sagte Min und nahm Irene an der Hand. Beide setzten sich auf das Sofa, Irene hatte dezentes Parfum, aus dem Stockwerk über ihnen dröhnte Bass: Hip-Hop Musik. Sie bewegte ihren Kopf im Beat des Basses und trank durch den Strohhalm ein Schluck von der Fruchtsaftmischung.
„Was machen wir heute noch? Eher raus oder drinnen entspannen?“, fragte Min.
„Keine Ahnung. Glotze?“
„Glotze eher nicht, hab da gerade eine sensible Phase. Kennst Du das, wenn man nur noch Dinge sieht, bei denen partout nichts rüberkommt, alles flach und ohne Flair; ohne Message? Kein Gefühl, nur recycelte Bilder zu Phrasen und Gerede? Ich weiß nicht mal, ob es an mir liegt oder einfach am Programm.“
„Sowas kenn´ ich. Wie verhext. Übrigens hat mein Onkel letztens davon erzählt, wie er einen Film geschaut hat und meinte, dass das was er ohnehin im Kopf hatte, das hätte sich im Fernseher nur widergespiegelt. Krasse Geschichte, oder?“
„Nüchtern?“
„Stocknüchtern“, versicherte Irene.
„Voll gruselig. Dann also erstmal nicht in die Röhre schauen. Also gehen wir raus was essen?“
„Okay. Ahh warte, ich glaube mein Telefon klingelt.“
Irene holte ihr Mobiltelefon aus der Handtasche, schaute eine Sekunde auf das Display. Sie murmelte dann etwas von Dev und nahm ab.
„Hey Irene, was liegt an? Bin gerade in der Gegend und dachte, ich könnte mit ‘'nem Freund rumkommen, oder wir treffen uns irgendwo. Was meinst´?“
Irene drückte ihren Handballen gegen die Sprechmuschel ihres Telefons und teilte Min mit, worum es ging, woraufhin Min ahnungslos mit den Schultern zuckte. Irene überlegte kurz.
„Ja, okay. Warum nicht. Ich bin mit Min unterwegs, treffen wir und doch im Limegreen, dann können wir was essen.“
„Sehr cool, also in dreißig Minuten?“
„Ja, okay. In dreißig Minuten.“
Irene und Dev verabschiedeten sich und Irene packte das Telefon wieder in ihre Tasche. Sie kam zurück auf das Sofa und klatschte ihr freundschaftlich auf den Oberschenkel. Min war es im Grunde gleichgültig, ob sie sich noch mit ein paar Bekannten trafen oder nicht, sie freute sich, solange sie bei Irene war; im Vertrauen darauf, dass dies in jedweden Umstand so bleiben werde.
Socialization zwei
Min kannte Dev nur entfernt und hatte ihn erst ein paar Mal getroffen. Dev war einer der wenigen Bekannten von Irene, er war etwa Mitte dreißig und wartete auf sein Durchbruch als Drehbuchautor. Nebenbei arbeite er als Croupier in einem feinen Spielsalon, für die reiche Oberschicht. Dort deckte er Karten auf. Von unten nach oben legte er Karten um, mischte sie wieder untereinander, nahm die oberste Karte auf und verteilte sie. Und so weiter. Sein letztes Drehbuch wurde low-budget mäßig verfilmt und erhielt ganz gute Kritik, alle drei schauten sich den Film zusammen in einem kleinen Programmkino an, im Saal war vielleicht Platz für dreißig Leute; ausverkauft. Der Film war eine Mischung aus dem Genre Science-Fiction und Thriller. Die Handlung drehte sich darum, dass der Hauptdarsteller, als Angestellter einer großen Hightech Firma, versuchte, aus seinem Job auszusteigen, die Firma hatte aber einige hundert Kopien von ihm programmiert, die mit ihm zusammenarbeiteten und ein Pseudoleben führten, als eine Art Spiegelbewusstsein von ihm. Warum und wie das alle gemacht wurde, hatte Min nicht ganz genau verstanden, doch der Hauptdarsteller fand schließlich jemanden außerhalb der Firma, den er vertraute, und beide flüchteten sich in Sicherheit. Da die Firma alles daransetze, ihn mit seinem bekannten Persönlichkeitsprofil zu behalten, war das nicht ganz ohne. Die Beiden bauten sich schließlich ein Haus auf dem Land, sie wurde schwanger, er wurde Farmer. Was er dann aber herausfand, war, dass seine mittlerweile zur Frau gewordene Vertraute, selbst eine neue, von der Firma programmierte Version seiner Persönlichkeit werden sollte, woraufhin die Firma ihn wiederum fand und festsetzte. Ob die Frau im Film wusste, dass sie von der Firma benutzt wurde oder nicht blieb offen, Stoff für Teil zwei, meinte Dev. Der Hauptdarsteller fand in seinen Gedanken schließlich eine Art kognitiven Schlüssel, mit dem er sich den Zugriffen auf sein Bewusstsein durch die Firma entziehen konnte, dies lernte er von einem ehemaligen, in Rente befindlichen Mitarbeiter der Firma, der ein wenig wie Meister Yoda rüberkam, wie Irene befand. Dev hatte eine blühende Fantasie, was gesellschaftliche Zukunftsvisionen und Utopien betraf, selbst hatte er wenig soziale Kontakte, dafür waren die wenigen- aber wertvoll für ihn. Prädikat <besonders wertvoll>, wie er oft sagte. Menschen- insbesondere in Massen-, befand er oftmals befremdlich und unnatürlich, er vermisste allzu oft Tiefe, Natürlichkeit und Wirklichkeit in deren Handeln, er empfand, die Dinge als Schwamm- und Schwarmbewusstsein, das sich wie ein Fisch von hier nach da bewege und sich stets nach oberflächlichen Dingen hin ausrichte. Dev hätte sich am liebsten irgendwo auf dem Land niedergelassen, auf einem alten Bauernhof oder so, doch fühlte er sich vom Leben gezwungen, sein Lebensunterhalt in der Stadt zu verdienen. Menschen zu sehen und sich sehen zu lassen, Hände zu schütteln und gute Miene, zum manchmal bösen Spiel, aufzusetzen, Wichtigtuer wichtig sein zu lassen und Kritiker, kritisieren lassen, allen ihre Schublade zu gönnen und sich dabei nicht selber in eine der Schubladen hineinziehen zu lassen. Am Spiel teilnehmen, aber nach Möglichkeit nicht als Spieler, sondern als jemand, der aufdeckt. Dev versuchte, seine Karten zu bewahren, obwohl sie oftmals einfach nicht richtig aufgehoben waren. Er wollte so unauffällig wie möglich leben, aber er musste für seinen Beruf und seinen Traum, ebenso auffällig wie notwendig leben.
Irene und Dev hatten sich an der Uni kennengelernt, im vierten Semester ihres Kulturwissenschaftsstudiums. Beide belegten in der Zeit einen Theaterkurs. Sie spielten ein befreundetes Paar, in einem Stück, das Dev selbst geschrieben hatte, und verstanden sich auf Anhieb, woraufhin sie immer mal wieder etwas miteinander unternahmen. Oft las Irene für Dev Drehbücher und spielte sie Min, abends mit ihrem schauspielerischen Faible vor. Besonders Gestik und Mimik waren Irenes Lieblingsgebiet, wenn es um darstellerischen Vortrag ging.
Min mochte Devs Art zu reden, sie war stets ein wenig aufgeregt und verstört, manchmal machte er mitten im Satz einfach eine Pause, sagte nichts, blickte in die Gegend und fuhr dann fort, als wäre nichts gewesen. Als hätte die Zeit kurz stillgestanden. Min schmunzelte dann immer, Irene ließ ihn einfach machen. Außerdem blickte Dev nur allzu oft mit seinen weit aufgerissenen Augen durch eine Brille, die wirklich immens große kreisrunde Gläser hatte.
Irene und Min tranken ihren Saft aus und gingen aus der Wohnung. Im Treppenhaus war geschäftiges Treiben, allerhand Menschen verstanden es in Richtung Bassquelle zu streben. „Ein tiefer Ton, treibt Menschen hoch“, sagte Irene, als zitiere sie irgendein Buch oder Theaterstück.
Min fragte nicht weiter nach, sie war im Kopf gerade bei Quent und fragte sich, ob sie Irene die Sache eigentlich schon erzählt hatte. Sie konnte sich nicht erinnern und wandte sich so zu ihr:
„Du, mein Bruder liegt im Krankenhaus. Er hat einen Unfall gehabt, mit der Straßenbahn oder so, aber man weiß noch nichts Genaues. Ich habe vorhin einen Anruf von seinem Freund bekommen… oder einem Freund.“ Min überlegte kurz, ob sie näher darauf eingehen sollte, was der Versprecher - und das Räuspern von Adam - vielleicht bedeuten konnte. Schließlich überließ sie es aber Irene, darauf einzugehen. Irene ließ dies jedoch unbeachtet, interessierte sich nur für das Wohlbefinden.
„Der Arme, wünsch ihn mal alles Gute. Wie geht’s Dir damit?“
„Ist schon okay, sein Freund meinte, ich brauche mir keine Sorgen zu machen. Ich habe aber überlegt, am Wochenende hinzufahren, ins Krankenhaus meine ich.“
„Wenn Du magst begleite ich Dich, vielleicht bekomme ich den Camper, dann können wir entspannt hin und zurück fahren und vielleicht sogar irgendwo auf dem Weg übernachten?“, bot Irene ihrer Freundin an.
„Das wäre ja klasse“, freute Min sich sichtlich.
„Ich kläre das morgen mit dem Camper und falls wir den nicht bekommen sollten, warum auch immer, dann fahre ich trotzdem mit Dir, okay?“
Min nickte und umarmte Irene, während sie die Treppenstufen hinuntergingen. Irene blickte dabei geradeaus, um sicher durch das rege Geschehen im Treppenhaus zu kommen.
Kosmische Gesetze
Die Menschen, die ihnen entgegenkamen, gaben sich aufgeputscht, voller Energien und willens diese Energien in Formen und Klängen von ihren Oberflächen, zu den Oberflächen anderer Menschen übertragen zu lassen. Niemand wusste, wohin der Abend noch führen werde, in welchen Körper sich welche Energie womöglich aufgenommen fände, wem sie verträglich bekäme, oder ob sie jemanden womöglich auch schade. Die Menschentraube war ein einzigartiger Kosmos und jeder Einzelne trug sein Teil dazu bei, jeder hatte in Bezug auf bestimmte Denk- und Verhaltensweisen eine gewisse Gravitation auf andere, jeder hatte seine eigene Atmosphäre aus Luft und anderen Gasen, jeder seine Temperatur, sein Niederschlagsmittel und seine Anzahl Sonnenstunden. Manche Dinge aus dem Kosmos waren zugänglicher für Expeditionen und manche mussten überzeugt werden, wollten überzeugt werden. Es gab massereiche und massearme Körper, es gab weit voneinander abgelegene-, obwohl sie direkt neben einem standen, und es gab unmittelbar beieinander kreisende, obwohl sie weit in der Masse auseinanderzustehen im Begriff waren. Der Kosmos lebte und pulsierte, vibrierte stets auf der Suche nach einem Ruhepol und solange die Suche und die Ahnung danach anhielt, solange würde es scheinbar keinen Ruhepol geben.
Ein Jagen und gejagt werden von Lichtern und Farben, die man selbst immer nur reflektieren konnte, die sich niemals in einer bestimmten Konzentration und Kondition erhielten und die sich niemals einfangen ließen. Alle wollten, konnten oder mussten mit ihrer Person an etwas glauben, dass sich finden ließe, für manche war es ein partnerschaftliches Lebenskonzept, für manche Liebe im Allgemeinen, für manche war es der Beruf oder Freunde.
Gemeinhin war man im Begriff, sich weniger für die eigene Oberfläche zu interessieren; man schaute lieber darauf, wie sich der Schein an den Oberflächen anderer spiegelte und wie er in einzelne Farben brach. Ausgehend von dieser Beobachtung, beschrieb man sich seinen Anteil am Kosmos, eine individuelle Kartografie, die auf dem basierte, was man vom Standpunkt seiner eigenen Oberfläche sah. Diejenigen, die, auf einem hohen Punkt ihrer Oberfläche standen und von dort kartografierten und beschrieben, beanspruchten für sich oftmals die klarste und weiträumigste Sicht, sie wähnten sich in Wahrheit und Überlegenheit den Anderen gegenüber. Diejenigen, die, einen inneren Blick für sich besaßen, hatten wenig zu sagen. Sie verharrten oft im Stillen, im Hinterzimmer der Gesellschaft, dort wo man sich mit weniger Nachdruck versuchte. Jene, die ihren eigenen Reichtum und ihrer eigenen Nichtigkeit, zu gleichen Teilen verstanden, waren in der Unterzahl. Also diejenigen, die den Reichtum vorwiegend zum Wohle einzusetzen verstanden und von sich augenblicklich abließen, wenn erforderlich, das waren die Sterne, die ihren leuchtenden Namen verdient gemacht hatten. Doch wie viele von ihnen konnten sich eines solchen Verdienstes rühmen? Wie viele dieser wunderbaren Körper waren dafür bestimmt, derart zu dauern und sich nicht den althergebrachten Täuschungen aus Oberflächlichkeit und Überlegenheit zu beugen? Wie viele vermochten es wohl, die schroffen, die alten, die brüchigen, die harten, die mit Staub und Dreck bedeckten Riten aufzubrechen und zum Scheinen zu bringen, ohne sich dabei zu zerbrechen oder sich brechen zu lassen? Der Kosmos war an sich, weder sicher noch hatte er eine abschließend definierte Ordnung. Im Grunde war das Ganze in keiner endgültigen Weise definiert, jeder nahm etwas Undefinierbares und Unverständliches an und formte dadurch- und durch das Leben etwas aus.
Miteinander
Irene hakte sich bei Min am Arm ein und beide gingen die Straße in Richtung Zentrum entlang. Je näher sie kamen, desto geschäftiger und bunter wurde die Umgebung. Allerhand Menschen mit Handys, mit Fotoapparaten, mit Musik in den Ohren, sowie größere Menschentrauben, die sich amüsierten, tauchten auf. Die jungen Frauen kamen an einer Skulptur vorbei, vor der, einige Personen ein reges Gespräch führten und Fotos machten. Man hatte die Skulptur wohl neu in der Stadt aufgestellt; die äußere Form glich der einer Kugel, die mit Zeichen und Buchstaben beschrieben war. Vor der Skulptur war eine Aufschrift zu lesen, beleuchtet von der Umgebung stand dort:
„Seht mich an ihr Betrachter, ob nun mit euren Blitzlichtaugen oder euren durchdringenden Blicken. Ich bin euer Auge. Ich bin massiv im Inneren und trage alles, was ich weiß auf meiner äußeren Oberfläche. Ihr könnt es lesen, fühlen, zitieren und abschreiben, doch gehören kann es niemanden. Eure Blicke sind meine Blicke. Was ihr denkt, das habe ich gedacht. Wir sind Eins und scheinen doch verschieden. Was auch immer ihr meint, dass ich bin, oder dass ich nicht bin, all das bin ich. Nur darin liegen unsere Verbindungen, unsere Unterscheidungen und unsere Gemeinsamkeit. Jeder von euch hat mich schon unzählige Male den Berg hinaufgerollt, um mich wieder herunterrollen zu lassen, dies ist meine Beständigkeit und darum seht ihr mich nun hier im Stillen.“
Min und Irene blieben einen Moment stehen.
„Das ist doch bestimmt etwas für Dev, der macht daraus doch glatt ein ganzes Drehbuch“, meinte Irene. Min nickte, sie überlegte noch.
„Seit wann steht die hier?“
„Keine Ahnung, letzte Woche war hier zumindest noch nichts, vielleicht seit genau…jetzt“, sagte Irene, lächelte und zog Min behutsam zum Weitergehen.
Als die beiden das Limegreen erreicht hatten, sahen sie Dev bereits an einem Fensterplatz sitzend, er schaute nach draußen, zumindest hatte man das aufgrund der Blickrichtung vermuten können. Die beiden Frauen gingen hinein und man begrüßte sich mit Küsschen auf die Wange und Umarmung. Min und Irene setzen sich auf die Stühle gegenüber von Devs Sitzplatz, der seinerseits einen freien Platz auf seiner Seite hatte.
„Wie geht’s Dev?“, fragte Min ihn mit einem dezenten Lächeln.
„Ach, keine Ahnung, mal so und mal so. Und bei dir?“
„Bin zurzeit ein wenig faul, immerzu matt… keine Ahnung warum.“
Dev nickte, sagte nichts weiter und versuchte, ein wenig lindernd dreinzublicken. Min verstand seine Anteilnahme. Irene hatte ihren Mantel ausgezogen, blickte noch einmal zu den Seiten-, ob dort auch ja kein Ärmel unter den Stuhlbeinen hing und dessen ungeachtet, sprach sie Dev währenddessen schon mal an:
„Und Shakespeare, was hast du heute so gemacht?“
Dev lachte und wippte ein wenig mit dem Kopf auf und ab, als wäre er erfreut über Irenes gewohnte- und leicht übertriebene Art, die jedoch immer das richtige Maß aufwies und niemals zu hämisch, oder fehl am Platz war. Irene verstand es, das genaue Mittel zu halten, was sein Gemüt betraf und nicht zuletzt deshalb, fühlte er eine tiefe freundschaftliche Verbindung zu ihr. Er mochte es im Grunde nicht sonderlich, dass man ihm in all seinem beruflichen Geschehen und dem oberflächlichen Umfeld, stets eine Überzeugung und Selbstsicherheit abverlangte, um seine Texte, Bücher und Filme zu präsentieren, und gerade Irene konnte ihn, auf dezente Art und Weise, von diesem aufgesetzten Gehabe entrücken; sie wusste ihn zu mitteln.
„Ich sitze hier schon eine Weile und schaue hinaus. Man, die Straßen voll mit Menschen, die meistens starren oder sprechen in ein Mobiltelefon. Ich bewundere wirklich die menschliche Vorstellungskraft. Man hat es im Laufe der Evolution tatsächlich geschafft, Zeichen in ein Viereck einzugeben und sich dann vorzustellen, dass der Mensch an den man im Bewusstsein denkt, eben dieses liest und beantwortet.“
Irene schaute Dev ein wenig ungläubig an, lächelte aber dabei und zeigte Verständnis.
„Alles klar, also amüsierst du dich?“, fragte Irene.
Min schaute gleichmütig und war sich nicht sicher, wie Dev das zuletzt Gesagte, gemeint hatte, und sie verhielt sich zurückhaltend, abwartend.
„Ich sage ja nicht, dass es nicht so ist, also das diese Nachricht nicht von jemandem gelesen und beantwortet wird, ich meine nur, dass man sich das doch immer nur vorstellen kann, man kann es gar nicht wirklich wissen, man muss seiner Vorstellung in der Sache gänzlich vertrauen, oder man muss zumindest daran festhalten. Es ist reine Vorstellung, oder nicht? Versteht ihr?“
Irene nickte ihm zu, auf eine Art, die sowohl Verständnis für ihn ausdrückte, also auch Fürsorge für ihn erkennen ließ, indem er einfach auch mal unbeschwert sein sollte. Min fand den Gedanken schon spannend und da Irene bereits den ausgleichenden, bodenständigen, weltzugewandten Teil übernahm, ging sie auf Dev ein:
„Du meinst also, dass sowas wie Radio- oder Funkwellen eine Einbildung sind. Also gar, nicht wahr?“
„Wie gesagt, ich meine nicht, dass es das nicht gibt, oder dass es nicht wahr ist, ich sage nur das es egal ist, ob es wahr ist oder nicht wahr, denn im Grunde, ist und bleibt es, immer nur eine Frage der Vorstellung des Menschen. Kann er daran glauben, dann läuft die Sache. Die Wissenschaft unterstützt lediglich die Vorstellung.“
„Klingt schon ein wenig merkwürdig, aber es hat irgendwie schon einen gewissen Irrwitz, was du meinst, denn warum sollte man sich mit sowas befassen, wirft man dabei nicht die Realität über den Haufen?“, meinte Min.
„Es geht nicht darum, etwas über den Haufen zu werfen. Es geht darum, den Geist freizubekommen. Es geht darum, von diesen ganzen Dingen, die sich tagtäglich um einen spinnen und die unsichtbar eine Wahrheit und eine Realität beanspruchen, freizukommen, sodass man wieder atmen kann, so da man leben kann. Es geht darum, wieder mehr zu empfinden, mehr zu sein, als sich nur vorzustellen, das man sei. Es geht um den Menschen. Es geht darum, dass die Vorstellung nicht mehr wert ist, als das Wesen, die Vorstellung ist nicht mehr wert, als die Wurzel des Lebens, die <gefühlt> werden kann, tief in einem selbst, fern von Einbildungen an der Oberfläche der Person. Fern von der dicken Kruste aus <dies ist so und jenes ist so>. Hast du noch nie so empfunden? Empfindung danach, dieses maschinelle Netz, der wahren und unwahren Einbildungen, zu durchbrechen, um endlich wieder zum Menschen zu werden, wie ein Mensch zu fühlen, ohne Angst, ohne dass jemand meint, das müsse so und so sein? Durchdringen um wieder zu leben und zu atmen wie ein wahrer, natürlicher Mensch; nicht zu existieren wie ein Randprodukt, das in Netzen eine Existenz wahrzumachen versucht? Wahre Menschen brauchen wahres Leben, echtes Gefühl für ein Miteinander und die Liebe aus einer Wurzel heraus und nicht aus Verzweiflung heraus geboren. Es bedarf kein Konfetti für ein Lächeln, kein Vergnügungspark fürs Vergnügen und kein Applaus, weil Dinge so oder so seien; keine ewige Fortführung von Ketten eines <ich liebe dieses, weil ich es nicht hasse und weil…>, kein weil, kein verdammtes, weil und kein verdammtes warum. Ganz einfach.“
Devs Stimme wurde im Laufe seines Vortrages überzeugter, er wusste wohl, wovon er sprach. Min war weniger überzeugt; Dev blieb ihr suspekt.
„Hört sich an als wärest du schwanger mit einem neuen Buch?“, fragte Irene.
Dev nickte.
„Ja ist so, wollt ihr was hören?“, fragte er.
Beide lächelten und nickten. Sie sahen Dev an seiner Mimik an, dass er an dem heutigen Abend einfach jemanden brauchte, der zuzuhören verstand. Er schien getrieben und versuchte sich mit dem, was er an Gedanken aufbringen konnte zu befreien und das, was er hatte, waren Worte und Menschen, die Worte verstanden. Und diese beiden Dinge versprachen ihm für den Augenblick Freiheit.
„Also… die genaue Geschichte in Bild und Ton habe ich noch nicht ganz, aber ich habe die Vision dazu. Und in der geht es darum, dass sich jemand von seiner Angst befreien möchte, die ihm seit seiner Kindheit verfolgt, er erkennt langsam, dass die Angst nur in seinem Inneren existiert und das jeder Versuch, diese Angst zu therapieren nur dazu führt, sie weiter wahr werden zu lassen. So werden immer neue Wahrheiten und Vorstellungen um diese Angst gelegt, es wird so immer nur ein Bypass gelegt und dieser Bypass ist dann immer mit der Angst verbunden und es werden Abhängigkeiten geschaffen. Eines Tages scheint er all das zu verstehen, den ganzen Wust aus daraus entstandenen Abhängigkeiten und Verknotungen um die eigentliche Sache; und zack. Zack er durchschlägt den Gordischen Knoten.“
Dev sah die beiden mit großen Augen an.
„Hmm, und was ist diese eigentliche Sache?“, fragte Irene.
„Die eigentliche Sache ist einerseits wie sein Schatten, aber anderseits auch der Ursprung seines Körpers und Bewusstseins. Es ist eine personifizierte Vorstellung davon, was richtig und was falsch ist, was zu tun ist und was nicht zu tun ist. Es ist Ankläger, Verteidiger, Richter und Henker in Einem, jemand, der Wahrheiten in einem entweder - oder beansprucht und sie bemisst, jemand, der meint, es müsse jemanden geben der Dinge regelt und sicherstellt, jemand, der stets sortiert und in seinem Ordnungswahn keinen Freiraum zulässt. Gleich einem Gefängniswärter, der meint, die Insassen hätten nur in seiner Welt aus Tätern und Opfer, schuldig und unschuldig ausreichend Nahrung für eine Existenz. Eine Person, die meint, dass nur, die aus ihr geborene Welt wirklich wahr wäre; und in diesem Glauben, das nur diese eine Person es wüsste, was wahr wäre, macht sie sich bewusst oder unbewusst zwangsläufig zum Gefängniswärter; egal welche eigentliche, vielleicht sogar gütliche Intention diese Sache hat oder einmal hatte. Sie wird einfach zur Bedrohung und niemand kann je sagen, ob es diese Bedrohung physisch wirklich in der Welt gibt oder nicht, aber dessen ungeachtet, muss man damit leben, ohne diese Bedrohung je wirklich begreifen zu können. Denn sucht man die Ursache dieser Sache, so findet man nur leidvolle Konsequenzen. So ist zu verstehen, dass sich die Ursache nicht begreifen lässt, dass sie alles und nichts ist. Man hat es einfach nur zu lösen, man muss fähig sein, eine Sache mit verbundenen Augen richtigzumachen. Versteht ihr?“
„Klingt schon ein bisschen Psycho, oder?“, meinte Irene.
Min zuckte mit den Schultern. Sie verstand, was Irene meinte. Nichtsdestotrotz lag ihr, in dem Gesagten schon eine gewisse lebensnahe Substanz und sie dachte hierbei, insbesondere an ihren letzten Traum mit der Mutter und Ernst.
„Na ja, wie gesagt, alles erst noch eine Vision, aber daraus kann sich etwas entwickeln, oder meint ihr etwa nicht?“
Dev hatte nun einen seiner geistesabwesenden Momente. Es stellte eine Frage und verharrte mit seinem Blick zwischen den beiden, als hatte jemand die Zeit angehalten. Nichts an ihm bewegte sich. Die beiden nickten und bewegten sich dabei ein wenig seitwärts, als würde sie ihm signalisieren, „na klar, warum sollte das nichts werden?“. Ob er das sah oder nicht, war nicht zu erkennen. Nachdem die beiden etwa zehn bis zwanzig Sekunden ihren Zuspruch gezeigt hatten, drehten sie sich zueinander, sahen wieder Dev an und fingen an zu lachen. Dev taute daraufhin wieder auf, lachte selbst, nickte mit dem Kopf und dachte „sie verstehen mich.“ Die drei waren sichtlich heiter und lachten gemeinsam, ohne dabei ein Wort zu sagen.
Die Übung
An der Theke standen einige Männer mit Krawatten und einige Frauen im Hosenanzug. Es war eine Art Afterworkparty und einer von den Männern blickte bereits seit längerem hinüber; ein Blick auf drei am Fenster. Er stellte sein Getränk auf die Theke, entschuldigte sich bei seiner Gesprächspartnerin und stand in dem Moment, als die drei gerade heiter lachten, bei ihnen.
„Hey Irene, schön dich zu sehen. Entschuldigt störe ich?“, fragte er mit einem smarten Gesicht.
Das Lachen der Drei klang langsam ab, doch ihre Gesichter blieben fröhlich entspannt, die Freude fand noch Nachwirkung. Irene überlegte kurz.
„Hey, Mal. Das ist ja eine Überraschung. Schön dich zu sehen, wie geht’s dir?“
„Busy. Busy. Nächste Woche haben wir diesen Projektabschluss mit einem Kunden, weißt du noch? Davon habe ich dir letztens bei deinen Eltern noch erzählt?“
„Ja, ja ich erinnere mich, die Sache nach der du einen neuen Posten kriegen sollst. Also das sind Min und Dev, meine Freunde. Und das ist Mal. Wir haben uns schon vor längerem über unsere Eltern kennengelernt, an einem ihrer Doppelkopf-Abende“, stellte Irene alle zusammen vor. Min erinnerte sich das Irene, Mal ein paarmal erwähnt hatte und dass ihr Kennenlernen wohl in die Zeit fiel, als ihre Mutter sich damals mehr politisch angemessenen Umgang für ihre Tochter wünschte und sie von Min abschirmte. Nichtsdestotrotz versuchte sie, Mal neutral und offen gegenüberzustehen. Dev war diesbezüglich ein wenig skeptischer, doch man sah, dass auch er versuchte, seine Vorurteile und Erfahrungen nicht bestimmen zu lassen. Er versuchte, genauso offen und freundlich zu bleiben, wie er es unter Freunden gewohnt war.
Mal begrüßte die Gruppe mit einem Handschlag und einem Grußwort.
„Macht es euch etwas aus, wenn ich mich kurz zu euch setze?“, fragte er unaufdringlich aber bestimmt.
Irene plusterte die Wangen, hob die Hände, die Handflächen ausgestreckt nach oben zeigend und blickte auf die anderen beiden, ohne dass diese eine Regung erkennen ließen.
„Also ja… klar. Wenn es euch nichts ausmacht?“, sagte Irene und blickte Min und Dev an. Die beiden zeigten sich gleichgültig und Mal blickte auf den Stuhl neben Dev.
„Darf ich?“, fragte er. Dev blickte Mal einen Moment an, wie er mit breitem Grinsen und ausgestrecktem Zeigefinger auf den Stuhl zeigte. Unbehagen; zielte er auf etwas, als fordere er etwas heraus, als beabsichtigte er etwas. Dev versuchte seine Mitte zu halten, doch etwas in ihm meinte, dass solche Menschen immer eine Strategie mit Absichten verfolgten. Er ließ sich nichts anmerken, nahm die Jacke von dem Stuhl und hing sie über die Lehne seines Sitzes.
„Klar.“
„Erzähl mal, was machst du so?“, fragte Min, die sah, dass Dev nicht derjenige wäre, der sich unmittelbar in ein Gespräch mit Mal verwickeln lassen würde.
„Also ich bin Manager, Finance und Business Analyst. Wir analysieren und bewerten Unternehmen, meist technisch-ausgerichtete, wir beraten und unterstützen. Ich habe einige Projekte am Laufen, kaum Zeit für irgendetwas, aber na ja… thats life. Von nichts, kommt nichts.“
Irene überließ es erst einmal den Anderen, sich vorzustellen und bekannt zu machen. Dev merkte, dass er mit Mal heute keine Freundschaft schließen könne, denn dass was er von ihm hört und wie er es hörte, war einfach nicht auf seiner Wellenlänge.
„Also aus dem Nichts ist schon vieles gekommen“, sagte Dev.
Mal wandte sich links zu Dev um, drehte die Schulter starr mit seinem Hals, sein linker Unterarm blieb auf dem Tisch liegen.
„Ah ja, interessant, was denn?“
„Nessie zum Beispiel, oder Hui Buh, das Schlossgespenst“, meinte Dev und blickte dabei mit diesen weit aufgerissenen Augen durch seine Brille, ohne jedoch die geringste Miene zu verziehen.
Irene und Min lachten, wobei Irene dabei durch den Strohhalm in ihr Getränk blubbern musste.
Mal setze eine amüsierte Miene auf, die einen zwiespältigen Eindruck vermittelte, sodass man sich genötigt sah, darüber nachzudenken, ob der Gesichtsausdruck aufgesetzt war oder nicht. Für üblich beschäftigte sich niemand von den dreien damit, ob jemand etwas vermitteln wolle, oder eher natürlich und ohne eine bewusste Absicht daherkam, doch gab es einfach diese Situationen, in denen eine gewisse Unsicherheit daherkam, die sich über alles Sichtbare legte. Vielleicht war jene Verunsicherung, ja Teil eines beabsichtigten Ausdrucks und vielleicht war dies sogar, das, was bewusst oder unbewusst vermittelt werden sollte, oder aber, was man selbst verstehen wollte- noch vor dem eigentlich Sichtbaren.
Vielleicht ist es dabei nur allzu oft so, dass die Leute meinten, sie müssten entweder dieses, oder dieses nicht, also das Gegenteil im Ausdruck eines anderen finden und fühlten sich dann unsicher, verängstigt und missverstanden, wenn sie dieses Entweder-oder, nicht klar zuordnen konnten. Und dieses unsichere, verängstigende, missverständliche wird dann nur zu oft als eigene selbstverschuldete Emotion verstanden, statt sie als ein Hinweis für eine gegenwärtige, nicht authentische Kommunikation zu verstehen.
Mals Gesichtsausdruck hatte bei Min die Pforten schließen lassen, was ein persönlicheres Gespräch betraf, Dev schien mit sich zu ringen, bloß nicht in einen Wettstreit mit Mal einzutreten. Irene spürte zwar die Beunruhigung der beiden, sagte sich aber, dass die drei ja nicht unbedingt zu besten Freunden werden müssten und es schon für einen kurzen Plausch aushalten werden. Irene selbst hatte ein recht dickes Fell, wenn es um manche Eigenheiten ging und sie konnte sowas einfach ignorieren.
„Was machst Du mein Junge?“, fragte Mal.
Dev fühlte sich erst nicht angesprochen, regte sich aber schließlich und antwortete:
„Schreiben und Denken und das Gedachte aufschreiben und nebenbei noch ab und an ein paar Gelegenheitsjobs, was sich so ergibt.“
„Ok, also vielleicht könnte ich dir ja was Festes bieten. Ich habe meine Fühler in einer Menge Projekte. Alles Mögliche.“
„Danke, aber ich komm´ klar, ohne Fühler, nur mit meinen Händen“, antwortete Dev und konnte sich eine Zuspitzung der Worte nicht verkneifen.
Irene bemerkte, wie es zwischen den beiden ein wenig haarig wurde.
„Mal hat letztes ein Theaterkurs belegt“, warf Irene ein und versuchte, so eine Brücke zwischen den zweien zu schlagen. Min blieb defensiv und zurückhaltend. Dev versuchte, sich zusammenzureißen:
„Interessant, was gab es?“
„Das Ganze war ein Teambuilding Event, sie spielten ein Stück von Moliere, der eingebildete Kranke nannte es sich.“
„Und ließ sich der Tod ordentlich auf die Schippe nehmen?“
„Der Tod gehört nun einmal zum Leben dazu, kein Grund sich vor ihm zu fürchten“, meinte Mal.
„Dennoch tun es alle Lebenden auf eine gewisse Weise. Es sei denn, sie erkennen, dass es weder das entstehende Leben und noch den vergehenden Tod gibt, dann hört die Angst auf“.
„Das hört sich doch ein wenig esoterisch und wirklichkeitsfern an“, bemerkte Mal und schaute zu den beiden Frauen, um sich der Richtigkeit seiner Ansicht zu vergewissern. Die beiden beobachteten und hörten das Gespräch jedoch nur beiläufig und waren damit beschäftigt, die Strohhalme ihrer Getränke aufzuwickeln, anzuschnipsen und damit zum Platzen zu bringen.
„Dann weißt du womöglich mehr. Ich weiß nicht, ob die Vorstellung, das etwas dauern und Bestand haben solle, wirklichkeitsferner ist als die Vorstellung, dass es nur einen Verlauf des Wandels gibt, ohne Phasen, ohne Abschnitte, ohne Dauer, einfach nur den einseitigen Schein, der zugleich immer die Tendenz zum anderen beinhaltet.“
Mal hatte nichts darauf zu sagen, seine Argumente hatten sich erschöpft. Er versuchte es mit anderen Mitteln und griff in sein Sakko, holte eine Visitenkarte heraus und legte sie vor Dev auf den Tisch.
„Hier meine Karte, falls du es dir noch einmal überlegen solltest. Mit dem Job meine ich, vielleicht kann ich dir doch noch einmal helfen.“ Dev bedankte sich höflich und beruhigte sich wieder ein wenig, er hatte nichts mehr zu befürchten.
„Na gut, hat mich gefreut“, sagte Mal bestimmt, aber reserviert. Und fuhr fort:
„Ich gehe dann mal wieder zu meinen Kollegen. Die stehen an der Theke. Es gibt noch ein wenig vorzubereiten, Arbeit ruft zu jeder Stunde und überall. Business halt.“, sagte er, machte eine kurze Pause, blickte zu Irene und sagte schließlich:
„Wünsche noch einen angenehmen Abend… und Irene, wir telefonieren, okay?“
Irene nickte und war ein wenig überrascht von Mals plötzlichem Gehen, machte sich aber nichts daraus. Min verabschiedete sich ebenfalls mit einem Nicken. Dev hielt sich zurück mit Kommentaren über Mal, auch um zu vermeiden, ihn überhaupt noch weiter zum Gesprächsthema zu machen.
Das Ergebnis
Dev hatte die Fassung behalten. Er beobachte nun mit ruhiger werdendem Herzschlag, wie, die beiden Damen immer noch mit den Strohhalmen beschäftigt waren, dabei lachten und sich irgendwelche Sachen erzählten. Nichts konnte die beiden auseinanderbringen, wenn sie sich in diesem Zweiermodus befanden, und Dev freute sich, die beiden so zu sehen. Sie gaben etwas Besonderes und äußerst Wertvolles an ihre Umgebung ab befand er, einfach aus ihrem Miteinander heraus und ohne, dass es jemand der beiden an die Umwelt geben wollte. Ihr Glanz war auf eine natürliche Weise vorhanden, sichtbar und erfahrbar für Menschen, die frei fühlen und empfinden konnten.
Das ist Leben, dachte Dev, genau das ist Leben. Er spürte, wie ein angenehmes Kribbeln seinen Nacken erfasste. Er hielt inne; überwältigt. Scheinbar aus dem Nichts, kam die Fülle seiner Empfindsamkeit zu ihm.
Seit langem schon, hatte er eine Idee für ein Buch, das nicht aus einer gesellschaftskritischen Perspektive geboren war, beziehungsweise aus einer Empfindung heraus, die diese Perspektive unmittelbar teilte, sondern ganz aus einem bejahenden Momentum. Er dachte daran, ein Drehbuch für einen besonders positiven und lebensbejahenden Film zu schreiben. Inmitten von lauter, belangloser Musik und Menschen, die sich oft nur ebenso Belangloses zu sagen hatten, inmitten von Leere gab es scheinbar verborgen, für alle Anwesenden ein Kleinod. Eine reiche Oase inmitten einer Wüste und selbst wenn dies nur eine Fata Morgana gewesen wäre, sie hätte ihren Zweck mehr als nur erfüllt. Es spielte keine Rolle, ob das, was er hier blickte und empfand, nun eine Illusion sei oder nicht, denn ein wahrer Moment fragt nicht wirklich nach Wahrheit. Er lebt. Er lebt Träume und er lebt die Nichtträume auf gleiche Weise, einerlei wie etwas genannt oder verstanden wird. Ein Leben das nur da war; was auch immer da war … es war da! Diese Art des Lebens war ein riesiger, nicht zu erklimmender und nicht zu zerteilender Berg, ein Leben dem keine Frage und keine Antwort hätte beikommen können. Jeder Mund, der dieses dort im Augenblick vor ihm stattfindende Leben, versucht hätte, zu hinterfragen, zu befragen oder zu beantworten, der hätte einerseits seine Zähne jäh ausgebissen und sie wohl kauernd vor sich liegend aufsammeln müssen. Er hätte andererseits, seinen Kiefer mit einem riesigen Berg versperrt vorgefunden, unfähig auch nur einen Laut hervorzubringen, oder dass, was er einmal zu sagen gedachte, auch nur wieder herunterschlucken zu können.
So stellte sich dieses Leben der beiden jungen Frauen auf eine seltsame und wunderbare Weise als eines dar, das, obwohl es augenscheinlich aus mehreren Körpern, Formen und Klängen bestand, wie ein Bild war, ein Abbild einer tiefliegenden Ahnung, die sich aus etwas Innerlichem speiste, das fern von allem agierte.
Dieses Abbild wurde sichtbar, wenn man seine eigenen Mauern überwunden und hinter sich gelassen hatte.
Das Abbild
Dev notierte es auf einer Servierte. <Abbild>; er sprach es leise zu sich, um die Stimmung und die Atmosphäre des Augenblickes möglichst begreifbar zu machen. Der Begriff war ihm ein Laut, in dem man etwas hineingab, ein Ton für das, was er empfand und verstand.
Dev ersann daraufhin eine Szene.
Eine Frau stand mit makellosem Körper vor einem jungen Mann. Dann regte sich etwas auf und zaudernd und zögernd überlegte er, ob und wie er seiner Zuneigung, Form und Kontur verschaffen solle, wie und ob er die Frau ergreifen solle und wann der Zeitpunkt dazu wäre. Der Mann befürchtete, dass die Frau sich abwenden würde, wenn er sie berühre und das sie verschwinde, wenn er sie nicht berühre; er müsse sie nicht einmal zurückweisen.
Die Erinnerungen des jungen Mannes ließen Wünsche entstehen. Für eine gewisse Zeit schwelgte er in einer erinnerten Liebe und cremte dabei ihren Bauch ein, entschlossen, so fest wie möglich das Nötigste zu berühren und alles andere zu lassen, auf das sie erhalten bliebe und sich nicht in unterbewussten Formen verlor. Er schaute nur auf ihren Bauch, er versuchte, sich dort zu sammeln und dies als den zentralen Ort der gemeinsamen Erfahrung zu begreifen.
Dieser Szene schloss sich nun eine Metapher an, indem sich ein vielfarbiges Mosaik mit einem Herz in der Mitte auf einer Wasseroberfläche spiegelte. Ein Finger glitt- oberhalb dieser Spiegelung der Wasseroberfläche- umher. Langsam berührte die Spitze des kleinen Fingers das Wasser, fühlte den Tropfen, den Wind, das Nass, das kalt und das warm. Das Bild an der Wasseroberfläche hatte sich ein wenig aufgewellt, blieb aber doch erkennbar, ebenso verhielt es sich, als der Tropfen vom Finger erneut in das Wasser perlte. Die Oberfläche zitterte kurz auf, wallte in Kreisen, legte sich aber schnell wieder auf sanfte Weise, ohne das die Spiegelung dabei je gänzlich verschwand. Die wallenden Ränder glätteten sich wieder. Die Form war betastet, der Körper war benetzt, der Finger entschwand wieder aus der Perspektive und die Szene blieb einige Sekunden still. Regungslos in der Form, angeregte Gedanken. Die Kameraeinstellung zoomte heraus, zeigte den See, einen Baum und in dem Baum eine Laterne, deren Hülle aus eben jenen bunten Mosaiksteinen bestand. Die Kamera hielt erneut einige Sekunden still. Stille, bis schließlich das Knarren eines Astes einen Ton abgab und die Laterne in jene Stelle des Wassers fiel, an dessen Oberfläche sie sich zuvor noch gespiegelt hatte.
Drama in 3D
„Oder Dev, was meinst Du?“, fragte Irene.
Dev schaute mit dem üblichen Blick seiner weit aufgerissenen Augen in Richtung der beiden jungen Damen, doch der Fokus lag zwischen Ihnen, verborgen in einer geheimen Weite. Es dauerte einen Moment, den Blick wieder loszueisen, ihn aus der Tiefe des Raumpunktes herauszuholen, zurückzukommen aus einer Art vierten Dimension. Während sein Bewusstsein im Gespräch war und der Mund bereits ein Lächeln formte, skalierte sein Blick erst wieder auf drei Dimensionen.
„Hm?“, fragte Dev, noch ein wenig verträumt dreinblickend, mit einer kurzen Kopfbewegung seitwärts.
„Kann sich ein Mensch so verändern das ihn ein anderer- nicht wiedererkennt? Oder liegt dieses nicht- wiedererkennen nur an dem Menschen, der meint jemand hätte sich verändert? Gibt es ein objektives <Ändern> zwischen Menschen? Und ändere sich die Person, von der man vielleicht nur meinte sie hätte sich geändert, dann tatsächlich aufgrund der bloßen Meinung?“
Dev blickte verwundert. „Was? Darüber habt ihr gerade gesprochen?“. Er erinnerte sich wie vergnügt und gelassen ihm die beiden vorkamen, wie einfach und intuitiv sie ihm doch gerade noch auf jenen wunderbaren Weg geführt hatten. Wie in alles in der Welt konnten sie zu solchen Fragen gelangen?
„Nun, ja…“, setze Dev ein, stockte dann aber und befand, nicht antworten zu können, ehe er die Quelle ihrer Frage näher verstanden hatte.
„Schwer zu sagen, wie kommt ihr darauf?“
„Meine Mutter hat Alzheimer“, sagte Min.
„Ja und wir haben uns gerade darüber unterhalten, wie sich die ganze Sache mit den Erinnerungen an früher und so verhält. Und wer sich in den Situationen eigentlich wie verändert“, erklärte Irene.
„Heikel, heikel, harter Tobak, Min. Im Grunde liegt es wohl an Dir selbst“, meinte Dev.
Min erinnerte sich an ihren Bruder, der oft genauso antwortete. Anteilnehmend und zurückhaltend legte er wieder die Fährte zu ihr selbst.
„Na erzähl schon was“, drängte Irene freundlich.
„Nun ja“, setze er erneut an. „Unabhängig davon, ob es nun selbst gewählt ist oder nicht, sieht deine Mutter dich nun einmal als einen anderen Menschen, als Du es vielleicht noch in Erinnerung hast, oder Dir wünschen würdest, oder?“
Min nickte.
„Nun auch wenn es emotional schwer ist und die Erinnerungen es kaum zulassen, es ist nun einmal die Gegenwart. Der Blick, der von ihr auf Dich übergeht, hat sich verändert und da Du in diesem Blick lebst, bist Du nun einmal ein anderer Mensch für sie, während Du wünscht und hoffst, sie müsse ganz die Alte sein. Es ist außerdem egal, ob es ein objektives <Ändern> je gegeben hat, denn was zählt, ist, was mit dir passiert. Jede Beziehung zu einem Menschen ist doch immer ein wenig wie ein Traum.
Dev machte eine Pause und räusperte sich.
„Also Min, ich weiß nicht ob ich das gut erklären kann und ich hoffe Dir nicht zu nahe zu treten, wir kennen uns dafür zu wenig, aber mein Rat wäre: Achte auf Dich. Ich wünschte ich könnte Dir etwas sagen, dass Dir wirklich hilft...“
Dev war ergriffen, hatte Tränen in den Augen. Er wischte sich kurz über die Augen und legte seine Hand auf die Hand von Min.
„Ich mache einen Film für Dich und Du bist der Star“, sagte er.
Min lächelte, dankte ihm und lehnte sich kurz an die Schulter von Irene und hielt ihre Augen geschlossen.
Ausklang
Es war spät geworden, alle drei fühlten sich wohl, hatten einen besonderen Abend und es war ihnen genehm, diesen Abend am gegenwärtigen Punkt ausklingen zu lassen. Die drei bezahlten ihre Drinks und verließen das Lokal, die Visitenkarte von Mal blieb auf dem Tisch liegen, etwas entfernt von einigen Münzen Bediengeld und zerplatzen Strohhalmen.
Auf den Straßen war es ruhig, hier und da Musik, Autos, Spaziergänger und Partygäste, doch nichts Außergewöhnliches. Dev und Irene unterhielten sich erst über einige Szenen aus Devs derzeitiger Drehbucharbeit und dann noch ein wenig über Irenes Theatergruppe und ihren NLP-Kurs.
Dabei gingen die drei, den Weg zur Bushaltestelle in der Nähe. Nahe vor dem Busbahnhof stand eine rechteckige Skulptur.
„Hey, da ist ja schon wieder so ein Ding“, sagte Irene und erzählte Dev kurz von der Kugel, die Min und sie auf dem Hinweg zum Limegreen gesehen hatten.
„Das scheint so eine Art Künstlerprojekt zu sein, für mehr Miteinander in der Stadt, hab´ davon gelesen.“
„Was weißt Du noch?“, fragte Irene, während Min bereits einen Blick auf die beleuchtete Tafel vor dem Bildwerk warf.
„Es gibt wohl einige dieser Skulpturen in- und um das Zentrum verteilt. Jede soll eine Art Bauklotz sein.“
„Also muss es irgendwo noch Dreieck, Halbkreis und so weitergeben, oder wie?“
„Vermutlich. Ich meine es sind insgesamt fünf verschiedene Formen.“
„Min, siehst Du was auf der Tafel steht?“, fragte Irene.
Min ging noch einen Schritt heran und las laut vor:
„Seht mich an ihr Schaffenden, ihr Bauenden, ihr Türmenden, ihr die ihr mit mir spielt. Ich bin euer Baustein und nur ihr habt mich in der Hand. Ich bin aus dem Material, das ihr mögt und baue was ihr wollt, inmitten von dem das ihr nicht mögt und umgeben von dem, das ihr nicht wollt. Unzählige meiner Art sind himmelhoch gestapelt in euch verbaut, sie passen sich eurem Körper an, während ihr euren Körper für sie anpasst. Dort wo es sich leicht auf- und ineinanderlegt und schwer wieder von- und auseinanderlegt, von dort seht ihr meinen gesamten Umfang, alles andere ist nur die Sicht einer Fläche. Und so könnt Ihr eure Augen auf meine Seitenflächen spiegeln, sie darauf selbst betrachten und mit euch und euresgleichen durch sie leben. Ein augenscheinliches Spiel um Gewinn und Verlust, genannt nach dem was geschieht: Alea iacta est. Doch ich bin immer nur die Form und ihr habt mich in der Hand. Ein Weiser schrieb einst mit seinen Blicken in mich hinein: Selbst jemand der es am nötigsten habe, nähme nur das Nötigste und vermeidet so notwendigen Streit und Irrtum. Und jemand der genügsam sei, dem genügt bereits ein Samen in der Erde, um sich wie von genügender Ernte zu ernähren. Kannst Du dieses auch sehen und schmecken?“
Alle drei ließen es auf sich wirken, ob sie nun verstanden oder auch nicht - es spielte keine Rolle. Außerdem war es spät geworden. Sie waren müde von dem wundervollen Abend und dies war der Platz, um ihn nun zu verabschieden. Min gähnte, sie steckte Irene damit an und Irene gab es weiter an Dev.
Alle drei lachten daraufhin, ein letztes gemeinsames Mal für diesen Abend. Der Bus für Irene hielt bereits einige Meter weiter an die Bushaltestelle vor ihnen, direkt dahinter der für Min. Die drei umarmten sich, küssten sich auf die Wangen und versprachen sich einmal wieder zusammen zu treffen. Die Bussen fuhren ab. Dev wartete noch einen Augenblick, dann stieg auch er ein.
Kreise
Die Nacht war feucht und Min hatte den Regen still in sich aufgesogen, mit Blicken, die schimmernd in den bunten Lichtern der Stadt schauten, hindurch durch die große Fensterscheibe des Busses, der sie zu ihrer Wohnung gefahren hatte. In ihrem Bett hörte sie die dicken Tropfen des Regens, wie sie an das Dachfenster ihres Schlafzimmers prasselten. Ermattet war sie eingeschlafen.
Der Morgen hatte aus dem Regen, matschigen Schnee gemacht. Manchmal schneie es im April, dachte Min und sie erinnerte sich dabei daran, dass es letztes Jahr im Aprilmonat ebenfalls verschneit gewesen war, sehr viel stärker noch, denn der Schnee blieb damals liegen und der Anblick war winterlich und gleich eines Dezembers. Während sie des Morgens mit ihren müden Augen bei Tee am Küchentisch saß, wandte sie ihren Blick- von dem draußen, dass sich durch ihre Balkontür sehen ließ- ab, hin zu einem Bild, das in der Küche hing. Kreise um Kreise zogen sich in vielen Farben umhin, sie überlagerten sich, verliefen parallel und gingen ineinander über. Manchmal setze ein Kreis erst zu einem späteren Zeitpunkt in die Linienführung eines anderen Kreises ein und beschrieb mit ihm eine Weile die Bahn. Manche Kreise verblassten und anderen kamen hervor. Alles wiederholt sich, alles hatte eine Richtung, wenn auch nicht immer in gleichen Bahnen und gleichen Linien, doch das Gemeinsame blieb erhalten. Warum Kreisbahnen so lebensnah sind und alle Dinge irgendwie mit Ihnen zu tun haben, hatte ihr Bruder ihr einmal, halb spaßeshalber und halb ernst erzählt. Er meinte, dass ein erlebter Weg geradeaus, einer sei, der durch Wandel hindurchginge, er lag voller empfundener Übergänge von warm zu kalt. Körperlich wenden sich die Dinge dann einem Strom, einer möglichst gleichbleibenden Temperatur, zu und da solch ein Strom mit der Drehung der Erde verläuft, drehen sich die Dinge in Kreisen. Ein vom Strom unbeirrt gerader Weg führt so gesehen immer direkt durch das Versprechen eines Gleichbleibenden hindurch, durch die Grenzen der kreisenden Dinge, die gleiches Klima versprechen; so schreitet man geradeaus durch das Leben. Das Verlaufen auf den Kreisbahnen hingegen ist die Empfindung des Geradeausgehens, eine Empfindung, die sich der gleichbleibenden Temperatur und dem Wunsch nach Komfort verschrieben hat, etwas das den notwendigen Wandel, der in allen Dingen liegt, auszuweichen versucht, um etwas erhalten zu wollen. Auf diesen Kreisen bewegt man sich notwendigerweise vor und zurück, es bleibt so gesehen auch ein Wandel, doch dieser Wandel wird als etwas empfunden, was sich in Bahnen eines Gesterns und -Morgen bewegt, eines wandelnden Lebens mit Tag und Nacht, auf Bahnen die sich konzentrisch um eine Mitte zubewegen.
Über dem Bild war ein Regal, weiß und aus Holz. Auf dem Regalbrett stand ein Schüttelglas mit Schneegestöber und inmitten des Glases ein Prinz und ein Pferd. Immer wenn sich einmal scheinbar zufällig ihre Aufmerksamkeit auf das Glas richtete, nahm Min das Glas in die Hand und ließ es im Inneren lebendig werden. Wer könne sie ihrerseits nun wohl aufrütteln? Die Frau blieb noch ein wenig im Stillen sitzen, das Ticken der Küchenuhr synchronisierte sich mit ihrer Atmung und dem Schlag ihres Herzens, wie Kreise, die nebeneinander herliefen, die ineinander übergingen und sich schließlich wiederfanden. Reise
Das Telefon klingelte. Min stand auf und ging an den Apparat, dieser war schnurlos und mit Freisprecheinrichtung. Wer anrief, war nicht zu erkennen, Nummer unbekannt. Sie nahm ab und begrüßte verschlafen aber freundlich. Die Freisprechfunktion war eingestellt und das Telefon lag vor ihr auf dem Küchentisch.
„Hallo Schwester“, tönte es aus dem Apparat, die Stimme klang ein wenig heiser.
„Quent? Aber das ist ja schön. Geht’s Dir gut? Was ist passiert?“, sprach Min nun deutlich wacher als noch vor einem Augenblick.
„Ja. Mach Dir keine Sorgen. Ich bin im Krankenhaus und werde noch untersucht, es gibt noch nichts Genaues, aber im Augenblick geht es. Verzeih bitte das ich nicht solange sprechen kann, ich wollte mich nur einmal kurz melden und mich für das Wochenende entschuldigen.“
„Ah mach Dir keine Umstände. Dein Freund Adam hat gestern übrigens schon angerufen. Außerdem hat er mir noch deine Zimmernummer durchgegeben und ich wollte am Wochenende zu dir fahren.“ Quent stockte für ein paar Sekunden.
„Adam?“, fragte er.
„Ja, er meinte er wäre ein Freund von Dir.“ Erneute Stille, dann ein kurzes Räuspern, bevor Quent fortfuhr:
„Hat er noch etwas gesagt?“, fragte er leise und ein wenig vorsichtig.
„Er sagte sonst noch, dass du einen Unfall hattest und dass ich mir vorerst keine Sorgen machen soll. Stimmt etwas nicht?“
„Alles ok; danke.“
„Also was ist denn nun mit dem Besuch am Wochenende, würdest Du dich freuen? Ich komme vielleicht zusammen mit Irene. Wir wollen in einem Campingmobil kommen“, fragte Min noch einmal nach.
„Ja, klar“, sagte Quent knapp, merkte, dass die Antwort vielleicht ein wenig zu kühl war und fügte an: „Hab´ noch nichts vor.“
„Super“, sagte Min, und ihre Stimme legte sich durch die Freude noch ein paar Töne höher.
„Du, ich kann leider nicht solange telefonieren, meldest Du dich nochmal kurz bevor du ankommst? Schreib mir einfach eine Textnachricht, mein Mobiltelefon habe ich ab und zu an.“
„Ja, ok. Mach ich. Soll ich noch was ausrichten?“, fragte Min. Beide wussten, dass sich die Frage auf ihre Mutter bezog.
„Ich ruf´ sie kurz an, mach Dir keinen Umstand“, antwortete Quent zögerlich nach einer kurzen Pause.
„Ok, dann sehen wir uns, ja?“
„Ja“, antwortete Quent.
Die beiden verabschiedeten sich und Min legte ihr Telefon wieder in die Ladestation; daraufhin ging sie in ihr Bad und machte sich frisch.
In dem Moment, als sie die Tür des Bads wieder öffnete, klingelte das Telefon erneut, diesmal war es Irene.
„Hey, guten Morgen. Crazy Wetter, oder?“ Irene war gut gelaunt, der Schnee konnte ihr nichts anhaben.
„Wunderbar. Weißer April. War ein schöner Abend gestern, Dev scheint ja echt richtig nett zu sein.“
„Ja, was denkst Du?“, fragte Irene. Min dachte an den Business-Typ von gestern Abend, enthielt sich aber eines weiteren Kommentares. Sie lächelte. Irene sprach unterdessen weiter:
„Also, ich habe Neuigkeiten was unseren Trip angeht und zwar...jaja…wir bekommen wir den Camper!“ Irene zog die letzte Silbe lang und hoch hinaus, ganz so als hätte sie eine Zirkusvorstellung angesagt.
„Klasse, sehr schön! Ich habe heute früh auch schon mit meinem Bruder telefoniert, ihm geht es einigermaßen, kein Grund zur Sorge. Unser Besuch ist angekündigt.“
„Dann kann es also losgehen?“
„Kann also losgehen!“, antwortete Min.
„Müssen wir was vorbereiten? Also außer den üblichen Kram wie Öl, Reifen und so weiter… und was das betrifft, ist mein Dad bereits aktiv geworden. Eine Auseinandersetzung mit meiner Mutter zu irgendwelchen Gelddingen hatte ihn auf besondere Art und Weise motiviert.“
„Aber sonst…weiß nicht, im Grunde nichts weiter vorzubereiten. Ein paar Klamotten einpacken und zum Supermarkt. Das sollte es sein.“
„Hört sich ja an als könnten wir sofort los“, bemerkte Irene und lachte.
„Warum eigentlich nicht?“, fragte Min aus dem Bauch heraus.
„Meinst Du? Ja, warum eigentlich nicht“ wiederholte Irene und beschloss das Vorhaben.
Beide lächelten und ohne weitere Erklärungen, Begründungen oder sonstige Gedanken verstanden sie, dass es einfach zu machen war. Kein Hin und Her was etwaige Gründe oder Einschränkungen aus Beruf oder Planung betraf, sie ließen es einfach hinter sich.
„Also dann sehen wir uns heute Mittag, so gegen zwölf? Ich hole dich dann von deiner Wohnung ab.“
„Ja ok, bis dann.“
„Ja bis dann. Freue mich.“
Min rief danach auf der Arbeit an und informierte darüber, dass sie diese Woche nicht mehr ins Büro käme. Ohne Nachfrage oder dergleichen akzeptierte man es. Früher hatte Min für Firmen gearbeitet, die sich strikte Rahmen aus Anwesenheit und Abwesenheiten auferlegten, die begründet dargelegt haben wollten, wann, jemand warum, nicht erscheine. Doch all dies war auch aufgrund des sogenannten Fachkräftemangels, Geschichte; die Unternehmen und ihre Abläufe passten sich an. Zudem stand es Min als freie Mitarbeiterin überdies frei, wie sie, wann, ihre Arbeit erledigte.
Min packte ein paar Sachen zusammen, reinigte grob die Wohnung und als sie danach auf die Uhr blickte, war es bereits kurz vor zwölf.
Kurz vor zwölf
Die Sonne blinzelte durch die Wolken und im Hausflur duftete es nach Reinigung. Das Holzgeländer war mit Politur behandelt und noch ein wenig feucht, die Stufen waren bereits zu zwei Dritteln getrocknet. Auf halber Treppe stand die Tür zur Abstellkammer offen und Min sah, wie sich eine Person dort im Dunkeln zurechtzufinden versuchte. Sie grüßte freundlich und ging weiter, die Person trat aus der Kammer hervor und blickte hinter Min her. Irene fuhr derweil mit dem Camper vor und hupte, ob sie dies vorrangig tat, weil sie einfach Spaß daran hatte die Hupe des Gefährtes zu erproben und ertönen zu lassen, oder ob sie beabsichtigte Min ein Zeichen ihrer Anwesenheit zu geben, war wohl beiden Frauen nicht klar. Min entnahm noch die Post aus ihrem Fach und verstaute die Umschläge erst einmal, ohne weitere Blicke, in ihrer Handtasche und winkte ihrer Freundin zu, die sich etwa zehn Meter vor ihr, hinter der Windschutzscheibe des Campers befand. Das Radio des Fahrzeuges war äußerst laut. So das Min es bereits aus der Entfernung gut hören konnte. Irene sang dazu Playback und bewegte sich im Rhythmus der Musik von rechts nach links und im Falle eines besonders prägnanten Akzentes auch ruckartig nach vorne. Min beobachtete ihre Freundin, während sie noch einmal nachsah, ob sie ihren Kulturbeutel in die Tasche gepackt hatte, und wühlte sich dazu mit ihrer Hand in die Tasche hinein. Als sie meinte, die Form des Beutels ertastet zu haben, fühlte sie sich bestätigt, alles eingepackt zu haben, und ging zum Wagen. Sie öffnete die Tür und die Musik schallte ihr entgegen, Irene stellte das Radio leise und beide umarmten sich kurz. Die zugestiegene Frau schob die Tasche vom Beifahrersitz aus, durch den Gang des Wohnmobiles, nahm Platz und schnallte sich an. Irene drehte die Musik wieder auf und fuhr ruckartig los, passend zum Rhythmus der Musik. Sie hupte noch einige Male aufgedreht.
„Dann wollen wir dem eisigen Treiben hier mal entkommen“, meinte sie.
Min nickte. Auch sie hoffte, möglichst bald den letzten Schnee für das nächste halbe Jahr gesehen zu haben. Es dauerte nicht lange, da befanden sich die beiden auch schon auf der Landstraße. Sie hatten sich darauf vereinbart, dass die Autobahn zu öde wäre und Zeit für die Fahrt hatten sie ja genug. Es war Mittwoch und sie hatten das ganze verlängerte Wochenende Zeit. Bis spätestens Samstag wollten Sie die ungefähr vierhundert Kilometer zu Mins Bruder zurückgelegt haben, je nachdem was auf dem Weg geschehen sollte. Sie fuhren durch mehrere kleine Dörfer, ab und an sahen sie einmal einen Menschen auf den Straßen, doch waren jene den Kühen und Pferden, welche sich auf den umliegenden Weiden befanden, augenscheinlich in der Unterzahl. An einer Tankstelle kauften sie sich je ein Sandwich, einen Salat und ein Heißgetränk. Sie beschlossen am nächstgelegenen Ort eine Pause zu machen, wenn nicht sogar den restlichen Tag in der Umgebung zu verbringen und vielleicht erst morgen weiterzufahren. Es wurde ein wenig hügeliger und sie sahen eine kleinere Straße von der Landstraße abzweigen, die in einigen Bögen, auf ein Waldstück mit einem Teich zuführte. Irene bog den Camper ab und die beiden fanden sich nach einigen Minuten auf einer Hügelkuppel wieder, die zwischen einen kleinen See und einem Wald lag. Nicht unweit des Sees befand sich eine Scheune. Die beiden beschlossen erst einmal auszusteigen, sich die Beine zu vertreten und dabei nachzusehen, was die Scheune denn wohl beherberge. Sie ließen den Camper hinter einer Anhöhe und einigen Bäumen stehen, so dass er nicht auffiel, falls doch einmal jemand von der Straße hinaufblicken sollte. Irene hatte Sandwich und Salat in einer Tüte und stieg aus dem Wagen aus. Min kramte derweil noch die Post heraus, um diese noch kurz durchzusehen, denn sie wollte für den Rest der Reise keine unerledigten Aufgaben mit sich herumzuschleppen. Als sie sah, dass Irene bereits ausgestiegen war, steckte sie die Briefumschläge in die Jacke und verließ ebenfalls den Camper. Die Sonne fühlte sich warm an und es gab keinerlei Anzeichen von Schnee oder Feuchtigkeit auf dem umliegenden Gras, es war beinahe, als hätten die beiden auf ihrer etwa eineinhalb Stunden eine andere Klimazone passiert.
Klimawechsel
Min zog ihre Jacke aus und hing sie sich lässig über die Schulter. Irene tastete nach dem Essen, um sich zu versichern, dass es nicht zermatscht wurde. Sie gingen die etwa einhundert Meter bis zur Scheune, über das dicht gewachsene Gras der Wiese. Es führte kein Pfad zur Scheune, nicht einmal eine ansatzweise Ebnung des Grases war zu sehen, was regelmäßige Reifenspuren oder Fußabdrücke, bei der Zufahrt oder bei dem Zugang hinterlassen hätte. Die Vermutung lag nahe, dass es sich um eine verlassene und kaum besuchte Scheune handeln konnte, die, wenn überhaupt, kaum noch in Gebrauch war. Der Zustand der Scheune war hingegen noch recht gut zu bezeichnen, die Beplankung war solide und aus gut erhaltenen Holz, die Oberfläche gut behandelt, um lange Zeit den verschiedensten Witterungen standzuhalten. Das Dach war ebenfalls noch gut gedeckt und ließ nur hier und da einmal den ein oder anderen Ziegel vermissen, der teilweise ein wenig die Dachschräge heruntergerutscht war und sich auf einem seinesgleichen festhielt. Ohne sich dem Inhalt der Scheune im Detail zu vergewissern, denn ein kurzer Blick durch die Ritzen der Beplankung offenbarte Leerstand, ließen sich die beiden unter einem Vordach der Scheune auf einem Holzpodest nieder. Irene reichte Min Salat und Sandwich, dass mit Tomaten, Salat und Tofu belegt war und begann ihrerseits daraufhin die Mahlzeit schnell aufzuessen. Es dauerte weniger, als ein paar Minuten da hatte Irene ihren letzten Bissen vertilgt. Min begann indessen gerade mit dem Kauen, nachdem sie den Belag des Sandwiches zurechtgerückt- und das Salatdressing nach ihrem Gusto zurechtgeschüttelt hatte. Irene blickte nun noch einmal durch die Beplankung und meinte im Inneren nun doch etwas zu sehen, sie sprang auf und ging zum Tor der Scheune, das sich um die Ecke des Vordaches befand. Min hörte wie sich ihre Freundin an einer Art Riegel- und Laschenverschluss des Tores bemühte und hielt es nun für einen treffenden Zeitpunkt, einen kurzen Blick auf ihre Post zu werfen. Sie holte die etwa vier Umschläge aus ihrer Jacke hervor und öffnete Kuvert für Kuvert. Neben Rechnung und Werbung war ein privater Brief, eines ihr nicht bekannten Absenders zugestellt. Min öffnete den Umschlag und schob den Brief heraus. Irene schien zwischenzeitlich den Verschluss aus Riegel und Lasche überwunden zu haben und öffnete mit einem lauten Knarren das Tor.
Min begann den Brief zu lesen:
„Liebe Min,
vielleicht mag es überraschen das ich Dir nach all den Jahren schreibe und ich möchte dafür sowohl um Verzeihung als auch um Verständnis bitten. Ich schreibe Dir nicht um zu rechtfertigen oder zu entschuldigen was damals geschah und was Du wohl unweigerlich mit mir in Verbindung bringst. Doch die Dinge lassen den Menschen zuweilen keine Wahl und es scheint Situationen zu geben, in denen sich Dinge wie Verpflichtung und Verehrung dem Leben unterordnen. Es scheinen alle möglichen Wege gegangen und es ist erkannt, dass jeder dieser Wege nicht dorthin führt, wofür und wohin man einst einmal aufbrach. Ich habe mich damals mit den falschen Leuten eingelassen und wäre ich nicht gegangen, so wäre ich gegangen worden und das auf eine Weise die es nicht mehr möglich gemacht hätte dir diesen Brief zu schreiben. Das dein Bruder all die unsäglichen Dinge nach meinem Weggang durchmachen musste ist unverzeihlich, aber das hätte ich mit ihm zu besprechen.
Doch all das soll nichts mit der Sache zu tun haben weswegen ich Dir schreibe und zu der ich nun kommen möchte. Also: ich habe von Vreni gehört, von Ihrer Verfassung, der Krankheit und so weiter. Ich bedauere dies sehr. Doch lass mich Dir kurz und unumwunden sagen: Sie ist nicht deine leibliche Mutter. Sie ist damals als Kindermädchen für euch zur Fürsorge berufen gewesen und sorgte seinerzeit den Großteil der Zeit für euch. Als eure leibliche Mutter damals fortging nahm Vreni immer mehr die Rolle einer Mutter an und sorgte für euch. Du warst noch sehr klein und kannst Dich vielleicht nicht erinnern. Ich dachte sie würde es euch eines Tages vielleicht selbst sagen, doch darauf möchte ich mich nunmehr nicht verlassen und ich möchte es nicht länger ungesagt lassen. Die Gründe wären weniger mein eigenes Seelenheil, als vielleicht vielmehr ein später väterlicher Rat, der dich in deinem Leben bereichern soll, wenn nicht sogar ein wenig retten soll. Also lass mich Dir nur sagen, das es egal ist, ob jemand nach Mutter oder Vater aussieht oder nicht aussieht, dass dieses Aussehen und dieser Schein niemals das ersetzen kann was Du in deinem Innerem von dem Wesen einer Mutter oder eines Vaters hältst. Es scheint Dir vielleicht ein makabres Treiben des Schicksals, das gerade ich derlei mitteile, doch ließe sich darin nur das nicht berechenbare der Lage erkennen. Alles Gute.“
Min empfand Verwirrung und versuchte Fassung zu finden, eine die es ihr erlauben würde, die Dinge zu verstehen. Ein wenig starr blickte sie auf den Boden vor ihr; paralysiert. Hatte sich tatsächlich, ihr- seit Jahrzehnten verschwundener - Vater gemeldet und einfach mal so geschrieben das ihre an Alzheimer leidende Mutter gar nicht ihre eigentliche Mutter wäre?
„Hey, hier ist ein alter Traktor“, hörte sie Irene rufen.
Traktor
Min blieb regungslos sitzen. Irene kam euphorisch aus dem Inneren der Scheune und war binnen weniger Augenblick auch schon wieder um die Ecke des Gebäudes, sah ihre Freundin dort kauern, setze sich neben sie, nahm ihr den Brief aus der Hand und begann zu lesen.
„Whoa! Soll das etwa von deinem Vater sein?“
Min zuckte mit den Schultern. Perplex. Sie wusste immer noch nicht, was sie davon halten sollte.
„Ich verstehe es ja auf eine Art, sogar trotz der ganzen Widersprüche und trotz schwer zu vereinbarenden Gefühle, doch ist das nicht alles irgendwie wie in einem merkwürdigen Film?“
Irene drückte sich näher an Min, sie merkte, dass es weiterer Worte gerade nicht bedurfte. Min dachte dabei an Devs gestrige Worte, dass er einen Film für sie machen wolle. Befand sie es gestern noch als eine gutgemeinte Bemerkung, um sie aufzubauen, musste sie sich nun überwinden, es nicht als Hohn zu empfinden.
„Ich meine das ist doch mein Leben, nicht irgendein Buch oder sowas.“ Sie machte eine kurze Pause. Atmete tief aus. „Aber was ist schon das Leben.“
„Komm mal mit“, sagte Irene und zog Min an der Hand auf ihre Beine.
„Wir ziehen dich jetzt wieder aus dem Sumpf deiner Gedanken. Ruckzuck. Du wirst schon sehen.“
Die beiden gingen in die Scheune und Irene setze Min auf den Traktor. Das Gefährt wies eine hellblaue Lackierung auf und hatte Chromleisten an den Seiten.
„Wie silberne Flügel“, rief Irene euphorisch.
Der Sitz war außerordentlich gut gepolstert und von unten gefedert; es ließe sich leicht vorstellen wie man selbst auf unwegsamen Feldern, wippend eine angemessene Gemütlichkeit wahren konnte.
Irene drückte auf die Hupe und schreckte damit einige Tauben auf, die zuvor noch unter dem Dach der Scheune gegurrt hatten.
„Alles einsteigen auf der Fahrt aus den Sümpfen der Vergangenheit. Einsteigen bitte. Nächster Halt: Zukunft!“, rief sie mit tiefer gestellter Stimme und drehte den Zündschlüssel, der mit der Oberfläche des Zündschlosses festgerostet daherkam, sich aber noch in selbigen drehen ließ. Es bedurfte einige Anläufe. Irene tat nach jedem Anlauf, der nicht zur Zündung des Motors führte, so, als würden sich noch weitere imaginäre Fahrgäste einfinden, weshalb sie mildtätig zu warten bereit war. Min zeigte nun zumindest wieder den Ansatz eines Lächelns.
„Ah, da kommt die werte Dame und der werte Herr- von und zu. Sehr angenehm sie begrüßen zu dürfen, wir reisen natürlich nicht ohne Ihre Beehrung ab.“ Irene verbeugte sich und imitierte eine Art, als würde sie dabei einen Hut abnehmen und ihn sich in der Aufwärtsbewegung wieder aufsetzen.
„Also nun legen wir ab… meine Damen und Herren. Auf zu neuen Ufern.“
Sie betätigte den Zündschlüssel erneut, der Motor begann zu stottern und fand sich nach einigen unrunden Bewegungen schließlich in einem kontinuierlichen Lauf wieder. Irene freute sich sichtlich und hupte ausgelassen. Min wippte auf ihrem Sitz synchron zu den Umdrehungen des Motors hin und her, was sie nun auch sichtlich amüsierte.
Irene stellte den Fuß von Min auf das Gaspedal des Fahrzeuges und führte ihre Hände auf das Lenkrad. Dann stieg sie noch einmal ab, um den zweiten Teil des Scheunentores zu öffnen, damit die Durchfahrt der Traktor ohne Hindernisse ablaufen konnte. Zurück auf dem Traktor setze sie sich auf einen der Seitenplätze, klatsche in die Hände und lächeltet Min an. Diese legte nun ihrerseits einen Gang ein und fuhr an, anfangs ein wenig ruckelig, doch ohne den Motor an die Schwelle zum Abwürgen zu bringen. Im Schritttempo fuhren die beiden so aus der Scheune, während Irene Jubelchöre imitierte und so tat, als werfe sie Konfetti in die Luft.
„Und nun werfen wir die Vergangenheit über Board. Alle gemeinsam. Los, los nur nicht zimperlich sein, es gibt nichts das uns noch hält“, rief Irene, als sie die Schwelle von der Scheune zur Wiese erreicht hatten. Min nahm abwechselnd eine Hand und warf die Handflächen seitwärts hinter sich in die Luft. Irene applaudierte derweil und spornte mit Pfiffen zum Weitermachen an. Die beiden fuhren so über die umliegenden Felder in Bahnen und Kreisen, warfen Dinge von sich ab und riefen lautstark Namen und Ereignisse, von denen sie meinten, sie müssten sich in den Ackerboden zurückfinden, um von dort etwas Neues hervorzubringen. Sie pflügten, trällerten und fuhren über die Felder. Den ganzen Nachmittag verbrachten sie so und der Traktor zog willig und ohne Mühe seine Bahnen. Das helle Blau mit den silbrigen Flügeln fuhr durch das hohe, satte Gras grüner Wiesen und durch gelbe Rapsfelder, vorbei an blühenden Kirschbäumen und Kastanien. Das Gefährt verstand es, auf allen Feldern und Fluren zu Hause zu sein, ein Wanderer durch alle Gefilde, besohlt mit seinen silbrigen Flügelschuhen, flog er wie ein Perseus von hier nach da. Als die beiden wieder zur Scheune kamen, neigte sich der Tag bereits zum Ende. Die beiden jungen Frauen beschlossen, die Nacht an Ort und Stelle zu verbringen, und fuhren ihren Camper neben die Scheune, die ihnen aufgrund des Tages zu einem vertrauten und angenehmen Ort geworden war.
Irene sammelte ein wenig Holz am Rand des umliegenden Waldes, während Min eine Feuerstelle bereitete. Im Camper befand sich ein Wasserkocher, Tee und Brei und Obst, so dass sie es sich in der untergehenden Sonne, bei einer Tasse Tee und einer Schüssel warmen Brei gemütlich machen konnten. In warmen Decken, die Hände an warmen Tassen gelegt, saßen sie am Feuer und redeten über dieses und jenes.
Min hatte beabsichtigt, kein weiteres Mal über den Brief zu reden und Irene beabsichtigte keinesfalls, sie noch einmal danach zu fragen. Irene nahm Min lieber fest in den Arm.
Gesichts Geschichten
Als Min aufwachte, dämmerte es. Ihre Decke war weggerutscht und Irene lag in einiger Entfernung noch schlafend neben ihr. Sie legte ihre Decke zusätzlich um Irene, zog ihre Jacke an und ging zum Camper. Die Luft war kühl und der Nebel stand über dem Gras. Sie empfand das dringende Bedürfnis, sich das Gesicht waschen zu müssen, denn das Feuer und deren Glut hatten im Laufe des gestrigen Abends und der darauffolgenden Nacht, eine rußartige Oberfläche auf ihrer Haut hinterlassen. Sie öffnete die Tür des Campers, füllte den Wasserkocher, stellte ihn an, ließ Instantkaffee in eine Tasse und ging in die Nasszelle. Dort ließ sie etwas Wasser in das Becken, betrachtete sich im Spiegel und spürte wie einige Erinnerungen von der letzten Nacht, aus ihrem Unterbewusstsein flossen. Sie hatte ein wenig unruhig geschlafen, war immer mal wieder aufgewacht, legte sich aber immer wieder hin und ergab sich der Nacht aufs Neue. Der Wasserkocher war indes fertig, Min ging zurück zur Küchenzeile und füllte das Wasser in die Tasse, ging dann wieder in die Nasszelle und füllte etwas Wasser in das Waschbecken. Sie füllte genauso viel ein, dass das Wasser angenehm temperiert war, und wusch sich dann in regelmäßigen Schüben das Gesicht. Mit jedem Schöpfvorgang und dem danach folgenden Blick in den Spiegel, tauchte stets ein Stück Traumfragment auf. Die Träume waren ebenso nebelig wie der Morgen und ebenso dunkel wie die Nacht. Die in dem Traum auftauchenden Personen stellten sich gewissermaßen als alte Bekannte heraus, nicht unbedingt im realen Sinne alter Bekannter, wenngleich jene Personen, dem oder der ein oder anderen aus Mins Erinnerungen auch glichen. Sie waren eher unterbewusste Spieler. Fast wie Schauspieler auf einer Traumbühne und sie kannten die Rolle von Mins Traum - Verkörperung und wussten daher, welche Handlungen, sie wie auszuführen hätten, um ein bestimmtes Resultat zu erzielen, das nur im gewissen Rahmen und der situativen Ausgestaltung von Mins Traum - ich selbst beeinflussbar war. Die Schauspieler im Traum waren keine bösen Geister, obgleich sie in jener Nacht gewalttätig und missgünstig spielten, sondern sie waren ihrerseits einfach ebenso abhängig von den Umständen welche die Bühne und ihre Geschichte bot und die Umstände der vergangenen Nacht, erwiesen sich dunkel und im selben verhangen. Die Geschichte, die jene Nacht schrieb, ließ nicht zu, dass irgendeiner der Akteure etwas zu tun vermochte, was die wache Person der Min als richtig und schön ansehen konnte. Das Schauspiel selbst hatte zwar Empfindungen, Handlungen und Urteile über richtig und falsch und dergleichen, aber es waren tendenziell von ihr dissoziierte Programme, die einfach so abliefen, auch wenn Min die Dinge als natürlich empfand und sie durchlebte. Doch tat sie es als eine Schauspielerin, die derart an ihre Traumrolle gebunden war, dass sie, sie selbst glaubte und für wahr halten musste. Es war nur auf illusionäre Weise ihre Person und ihr Körper, der auf jener Traumbühne handelte und behandelt wurde und ein anderer Teil von ihr, fand sich dabei gar als Zuschauer genötigt, um das Geschehen anzusehen und es so erst zusammenzufassen. Und so war sie weder nur die Schauspielerin, noch nur die Zuschauerin, sondern umfasste und übersetzte die Gesamtzusammenhänge in Formen und Eindrücken und das aus vielerlei Perspektiven. Sie durchlebte und sie erlebte. All die Akteure waren Verkörperungen einstiger Erfahrungen und Erinnerungen, Menschen, mit denen sie einmal einen Teil ihres Lebens verbrachte, sowie körperunabhängige Wesenszüge von Menschen mit denen sie tagtäglich zu tun hatte. Bewertete man den Traum so aus einer vom Traum erwachten Perspektive, konnte man in Anbetracht eines Maßstabes, der sich an hell und dunkel orientierte, sagen, dass dieser eine finstere Nacht war, mit schwarzem Stift auf schwarzem Papier geschrieben.
Min trocknete ihr Gesicht und ging zurück zur Küchenzeile. Sie rührte den Kaffee einmal um und setze sich draußen unter das Vordach der Scheune. Sie stellte ihre Tasse neben sich und der noch feuchte Rand hinterließ einen Abdruck auf den Brettern. Die Vögel hatten derweil begonnen, den Morgen zu besingen, und der Wind zog leicht durch die umliegenden Baumkronen und Büsche. Min blickte auf Irene und bemerkte dabei, wie die aufgehende Sonne, ihren Strahl, auf Irenes, in Decken gehüllten Körper, warf.
Sonnenuhr
Augenblick für Augenblick erklomm das Sonnenlicht ein Stück von Irenes Körper. Die Sonnenstrahlen jagten den nächtlichen Schatten; und man konnte sich leicht vorstellen, dass irgendwo auf der Welt, eben die nächtlichen Schatten, in eben diesem Augenblick ihrerseits das Sonnenlicht jagten und es sich einverleibten.
„Warum in schattige Ferne streben, wenn die Sonne gerade hier und jetzt vor ihren Augen aufginge“, fragte sie sich.
So betrachtete sie, wie der Schatten wich.
Min trank den letzten Schluck ihres Kaffees aus und nahm sich vor, durch die Felder zu streifen und die Kirschbäume, die nicht unweit der Scheune hinter einem Rapsfeld in großer Anzahl blühten, im Licht der aufgegangenen Sonne zu betrachten. Trotz des unruhigen Schlafes fühlte sie Klarheit und Vitalität. Ihre zuletzt schweren und müden Glieder waren durch die Reise neu belebt. Die Lungen waren wieder angehalten zu atmen und vor allem konnte sie die Gedanken und Erinnerungen der Stadt hinter sich lassen. Sie dachte daran, die Stadt für längere Zeit zu verlassen, all das Treiben für eine Weile hinter sich zu lassen. Min ging in Richtung des Rapsfeldes. Die Blüten glänzten mattgolden in der morgendlichen Sonne, während der untere Teil der Pflanzen noch in Nebelschwaden gehüllt war. Sie ging den kürzesten Weg, querfeldein auf den Spuren, die sie gestern zusammen mit dem hellblauen Traktor in das Feld gepfercht hatte, denn die zahlreichste Ansammlung von Kirschbäumen befand sich diagonal gegenüber der Stelle des Feldes, die man von der Scheune aus am schnellsten erreichen konnte. Der Geruch der Rapsblüten erinnerte sie an ihre Reiterferien in Jugendjahren. In Gedanken an jene Zeit breitete sie ihre Arme aus und spielte mit ihrem Körper ein Tanzen, wobei die Form wie ein Flug anmutete. Sie atmete die kühle und klare Morgenluft, die mit Aromen der Rapspollen geschwängert war, tief ein. Gänzlich glitt die Luft hinab, durch alle Nervengestade des Rückens, durch die Beine, in die Füße und in die Kuppen ihrer Zehen. Dort wirbelten die windigen Lüfte eifrig, suchten einen Bestimmungsort und fanden ihn, indem Min mit ihnen tanzte. Jeder Schritt, den sie machte, ließ sie zu einem Teil des Feldes werden, sie grub tänzelnd Fußabdrücke in die Erde und sammelte Rapspollen und deren gelbliche Farbe an ihrem Körper, sie atmete den süßen Duft ein, kam in das Feld und ging doch hinaus. Ohne die Richtung abzumessen, ging sie dahin und fand sich nach einer Weile außerhalb der Spurrinne des Traktors, inmitten der hohen Rapspflanzen wieder.
Min schaute hinab. Auf dem Boden sah sie einen Schal vor sich liegen, an dem ein Brief festgemacht war. Sie öffnete ihn und las: „Sollte man traurig sein, wenn etwas vom Herzen nimmt und zu einem anderen wird? Ist es herzlos? Was passiert, wenn Gegensätze aufeinandertreffen? Wofür solle man überhaupt ein Herz haben?“ Der Schal war scharlachrot, duftete nach seiner Umgebung und verbarg eine dezente Note, menschlichen Körpergeruchs, darunter.
Der Verlust lag nicht lange zurück, wahrscheinlich flog er kürzlich aus einem Auto und der Wind trug ihn von der Straße in die Felder. Min schweifte ab und wurde kitschig: „Oder ein einsamer Mensch hatte sich bei der Scheune eingefunden, Liebesleid zum Ausdruck gebracht und den Schal dort hinterlassen. Vielleicht hatte der Schal aber auch ganz beabsichtigt seinen Bestimmungsort im Rapsfeld gefunden, denn der der Untröstliche hatte genau hier einmal jemanden kennengelernt und nahm am selben Ort Abschied.“
Min entschied, das Fundstück an Ort und Stelle zu belassen. So ging sie querfeldein, bis sie schließlich in der Nähe der Kirschbäume aus dem Feld heraustrat. Eine relativ starke Windböe kam auf; Min breitete noch einmal die Arme aus, schloss die Augen und öffnete die Lider, als der Wind wieder nachließ. Sie passte den Übergang vom Sturm zur Ruhe genauestens ab, um in diesem unbestimmten Moment das Bild der Kirschblüten aufzunehmen. Sie ging weiter und bemerkte mit einen ihrer ersten Schritte, dass sich etwas um ihre Schuhe gelegt hatte. Es war der Schal mit dem Kärtchen. Sie holte einen Schreibstift aus ihrer Jackentasche und begann auf der Rückseite des Zettels zu schreiben: „Wer nimmt mich mit?“ Sie nahm den Schal und band ihn um einen der Baumstämme.
Raus aus dem Raps
Min war kurz davor wieder aus dem Rapsfeld herauszutreten und den Blick auf die Scheune richten zu können, als sie meinte die Stimme von Irene zu hören. Daraufhin ein wenig schneller gehend, befand sie sich nach wenigen Augenblicken wieder im Blickfeld zur Scheune. Irene umrundete diese hastig, während sie den Namen ihrer Freundin rief. Min beeilte sich möglichst schnell, um wieder näher zu kommen, und winkte aus der Ferne. Als Irene die Zeichen schließlich sah, blieb sie stehen, fasste sich kurz mit der Hand auf ihre Herzgegend und kam ihrer Freundin entgegen.
„Wo warst Du denn? Mensch, ich habe mir vielleicht Sorgen gemacht.“
Irene war ein wenig aufgewühlt und ließ kein Anzeichen von morgendlicher Restmüdigkeit erkennen.
„Spazieren war ich. Bei den Kirschbäumen von gestern, weißt Du noch?“
Min lächelte. Unbedarft und naiv, ohne von dem Empfinden der Unruhe ihrer Freundin ergriffen zu werden.
Irene verstand ebenfalls, dass es keinen Sinn hatte, weiter die Besorgte zu geben, und schloss sich der Unbedarftheit von Min an.
„Kaffee?“, fragte sie.
Min nickte.
Irene hatte bereits eine Kanne voll gekocht und sie zusammen mit einem spärlichen Frühstück, unter das Vordach der Scheune gestellt. Die beiden setzen sich auf die hölzernen Dielen und erzählten sich von ihren Träumen. Min rekapitulierte ihrer Freundin gegenüber, was sie sich zuvor bereits bei ihrem morgendlichen Waschgang vor dem Spiegel in der Nasszelle des Campers, vergegenwärtigt hatte.
Irene erzählte anschließend davon, wie sie sich inmitten eines großen Stadions oder dergleichen befand, während die Dinge auf der einen Seite des Stadions versuchten auf sie derart einzureden, als dass sie etwas gerettet habe und nun eine Heldin sei. Während die Dinge auf der anderen Seite hingegen meinten, sie hätte ihr Leben verloren und geopfert, an etwas das dominant und gefährlich sei, jederzeit bereit sich ihrer Seele habhaft zu machen. Irene erinnerte sich nicht daran, was es genau war, um das es ging, doch stand etwas mit ihr in der Mitte des Stadions, dessen sie sich aber gerade nicht erinnern konnte.
So beließen es die beiden nach einer Tasse Kaffee dabei, sich ihre Träume zu erzählen, sie zu deuten, und beratschlagten sich stattdessen in Bezug auf den Fortgang der Reise. Schnell kamen sie überein und beschlossen, den Ort alsbald zu verlassen, um sich weiter auf der Landstraße in Richtung der Stadt zu bewegen.
Dreieck
Fürs Erste übernahm Min das Steuer des Campers und fuhr mit gemächlichen Tempo, auf der verkehrsberuhigten Landstraße weiter. Irene war von der letzten Nacht offenbar noch erschöpf und döste derweil ein wenig auf dem Beifahrersitz. Min bemerkte die Trägheit ihrer Beifahrerin erst nur beiläufig, denn sie war mit ihren Gedanken bei ihrem Bruder und ihrer Mutter. Nach der beschwerlichen Nacht empfand sie ihre Beziehungssituation nicht minder beschwerlich und sie fand sich inmitten zweier Dinge wieder, die sich immer nur gemeinsam entfernten- oder immer nur gemeinsam aufeinander zubewegten. Als wäre die Beziehung, durch ein gleichschenkeliges Dreieck beschrieben und jeder hätte seinen Eckpunkt und seine schenkelseitige Verbindung zu einem der weiteren Eckpunkte und je näher man die eine Ecke in die Sicht brachte, desto näher kam zwangsläufig auch die zweite Ecke. Ebenso verhielt es sich mit dem Versuch etwas wegzudrängen oder nicht herankommen zu lassen, denn in gleichem Maße wie die erste Ecke Entfernung fand, sah man auch die zweite Ecke sich entfernen. Die junge Frau versuchte die Vorstellung, wie man es wohl aus einer von den Ecken losgelösten Sicht betrachten würde. Sie sah, dass es mittig so weit hineinzoombar war, bis die drei Punkte und deren Verbindungen nur noch eine verbliebene Ahnung inmitten eines mächtigen umliegenden Walles wären, unermesslich weit voneinander entfernt und nahezu unbestimmbar, in einem nichts oder einer leere, verbleibend. Ferner war ihr verständlich, dass man auf gleiche Weise auch hinauszoomen konnte. Dieses ´hinaus´ würde die Punkte dann wieder klar erkennbar machen und zeigte, dass der gerade umgrenzte Wall, nicht mehr war, als eben die Verbindungen der drei Punkte zueinander; und sofern man nur weit genug hinauskäme, so sähe man zudem, wie die drei Punkte zu einem verschmelzen würden.
Sie dachte darüber nach, ob es sich auf jene Weise mit ineinander verschachtelten Vorstellungen und Erinnerungen verhielte. Die Vorstellung, jeder Gedanke, jede Idee, wäre im Grunde, ein im Raum geschaffener Punkt, der aus etwas entsteht und sich an etwas anknüpft. Dieses Entstehen, das Anknüpfen und das Verhalten, es wäre relativ zueinander und die Dinge der Vorstellung werden als solche existent empfunden, weil eine Perspektive eingenommen wird, die die Dinge weder aus der Leere betrachtet, noch aus dem Punkt des Einen.
Die Vorstellung und Erfahrung einer familiären Beziehung war ihr dabei ein gutes Beispiel für einen solchen Komplex. Aufgrund der Erfahrungen und Erinnerungen manifestieren sich vom Standpunkt eines familiären Personenpunktes aus, auf besonders eindringlich Weise, jene Punkte und Verbindungen und deren relative Bezüge. Min befand, dass sie ihrer Mutter und ihrem Bruder gegenüber, eine zu starre Betrachtung vollzog und das diese fixierte - und auf den eigenen Standpunkt bezogene Betrachtung -, in Verbindung mit dem Empfinden dieser Verbindungen, dazu führte, dass sie eine Vorstellung mochte und zu sich heran zog, während die andere Verbindung näher rückte und ihr Unbehagen bereitete. Sie befand sich innerhalb eines Vorstellungskomplexes und sie meinte, den ihr zu wahrenden Teil vom Komplex zu beschützen, sofern sie es verstünde, den anderen Teil nicht auf gleiche Art und Weise gelten zu lassen.
Irgendwo zwischen dem Punkt ihrer Person, der leeren Perspektive, sowie der einenden- hatte sie entweder eine entsprechende Sicht zu finden, oder aber sie müsse sich zwischen dem Fortleben oder dem Absterben des Komplexes, wie er denn war, entscheiden.
Während Min überlegte, fuhr sie durch mehrere kleine Ortschaften, die in einer Hügellandschaft eingebettet wären. Die Straße schlängelte dabei auf und ab, sowie von rechts nach links, was der Fahrt mit dem schwerfälligen Campingmobil nun auch immer mehr Aufmerksamkeit abverlangte. Die Sonne hatte sich derweil hinter einigen Wolken verzogen, aus denen es zu nieseln begann. Die junge Frau suchte daraufhin die Funktionen des Scheibenwischers zu ergründen und fand schließlich eine passende Einstellung, um die Bewegungsintensität der Wischer, dem des Regentreibens entsprechen zu lassen. Irene erwachte von den Geräuschen des Scheibenwischers aus ihrem Dösen, rieb sich ihre Augen, gähnte einmal lange und schaute zu ihrer Freundin, die sich konzentriert hinter dem Steuer des Wagens verbarg.
„Wo sind wir? Großer Steuermann?“, fragte sie in einem lustigen Ton, der davon zeugte, dass ihr das Schlummern im Fahrzeug gutgetan hatte.
„Irgendwo im auf und ab“, antwortete die Fahrerin mit wenigen Worten, um sich weiter auf die Strecke zu konzentrieren. Irene verstand das ihr nebenan, gerade vollends mit dem Fahren beschäftigt war und schaute daraufhin selbst, mit den Navigationsmöglichkeiten ihres Mobiltelefons, nach dem gegenwärtigen Aufenthaltsort.
Dreihundert Kilometer bis morgen
„Irgendwo in der Pampa. Noch dreihundert Kilometer“, sagte Irene.
Min nickte zustimmend.
„Das sollten wir bis morgen schaffen“.
Irene dachte, dass es eine gute Idee wäre, Min anzubieten, das Steuer wieder für eine Weile zu übernehmen und bat ihr dies kurzerhand an, was Min eher gleichgültig annahm. Irene fuhr derweil ausgeruht, durch das mittlerweile wieder ebenere Land und suchte dabei eine Möglichkeit, ihre Freundin ein wenig aufzuheitern.
„Erzähl mir doch noch etwas über deinen Bruder. Wenn ich ihn mit dir schon im Krankenhaus besuche, wäre es vielleicht ganz gut, ich wüsste noch ein wenig über ihn.“
Min war halbwach, hatte die Augen geschlossen und ihr Körper wippte dem Verlauf der Straße, in Kombination mit der Federung des Fahrzeuges, nach. Sie überlegte kurz und begann mit anfangs vernuscheltem Tonfall zu erzählen, was ihr Bruder ihr einmal über Freundschaft und Liebe gesagt hatte:
„Er meinte einmal, dass er denke, man solle sich in Beziehungen zu Menschen stets Weitherzigkeit behalten; aus einer uneingeschränkten Weitherzigkeit entsteht die natürliche Tiefe des Herzens zu allen Dingen. Und wenn man sein Herz so in die Weite und in die Tiefe gedeihen lässt, bedarf es kein bestimmtes Ziel mehr, sondern die Gesamtheit der Dinge verkörpert die Idee der Liebe. Auch wenn es mit den Sinnen und Erfahrungen oft nicht einfach sei, so wäre das eben der Weg zu den Menschen. Weiter sagte er, dass man sich nicht zu ängstigen habe, oder sich zu scheuen hätte, wenn man es gar selbst so empfände als sei ein Herz brüchig und schwach. Das Herz, so sagte er, sei immer nur ein Abbild der äußeren Dinge und Menschen die es abbildet und es ist stets nur so stark wie die Idee jener Dinge. Man sollte lieber nicht meinen, dass man, ein eigenes von der Welt abgeschlossenes Organ hätte, denn das hieße abgeschlossen von der Welt zu sein. Außerdem sollte man bedächtig sein, das Herz auf etwas richten zu wollen und auf etwas abzuzielen.“
Irene hatte jede Silbe gelauscht und es klang ihr richtig, gar so richtig, dass sie es nur für angemessen hielt, kein einziges Wort hinzuzufügen oder darüber zu sagen.
Min fuhr indessen fort, noch ein paar Dinge aus der Jugend ihres Bruders zu erzählen, davon wie er seine Ferien oft auf dem Reiterhof verbrachte, womit ihn die Jungs in der Schule oft aufzogen. Man hätte meinen können, er erlebte seine Jugend und die jungen Erwachsenenjahre stets in Phasen; so unterschiedlich wie wechselhaft. Es war, als suchte er irgendetwas, von dem er selbst nicht wusste, was es denn sei und wenn die Dinge aus einer Phase einen bestimmten Zustand erreicht hatten, meinte er, dass es nicht das Richtige sei, und zog weiter. Er lernte dann wieder andere Menschen und Dinge kennen, ließ das Vergangene, vergangen sein, änderte sich oft in Erscheinung sowie Verhalten und trat in eine neue Phase ein. Die Lehrer und Verwandten meinten, es läge wohl an seinem Vater und dem fordernden Verhalten seiner Mutter, die ihn oft mit dem Vater verglich und Bestrebung hatte, aus ihm etwas Besseres zu machen, was er Mins Meinung nach auch versucht war zu erfüllen.
Min meinte rückblickend jedoch, dass sie es eher für einen Versuch hielt, aus den Umständen herauszuwachsen und freizukommen. Sie sagte, er merkte einfach, dass er aufgrund der Vorstellungen und Realität seiner Eltern in etwas hineinwuchs, das nicht seine Bestimmung war und er versuchte den Umständen gemäß, einen Platz zwischen den Möglichkeiten dieser Vorstellungen zu finden, die ihn täglich begleiteten. Er suchte nach einem Ort, an dem ihm dieser suchende Impuls abhandenkäme, er nannte es auch das allgegenwärtige Wolfsgeheul und das ständige Stechen einer wilden Wespe. Und wenn er dann einmal meinte, jene Dinge gefunden zu haben, so stärkte sich die Vereinnahmung wieder. Und so gab es Menschen, die meinten, er laufe auf etwas zu, um eine gefundene Lücke zu füllen, und es gab Menschen, die meinten, er laufe vor etwas weg um eine Lücke zu finden; ja die ganze Vorstellung bestand aus diesem Pendel.
Doch erst, als er schließlich die Firma vom Vater übernehmen musste und die Mutter ihm endlich dort sah, wo er sich ihren Vorstellungen gemäß voll entfalten konnte, da fand sich die Möglichkeit zum Wandel.
„Der Zweck der Dinge“, so sagte er mir später einmal, „schien die Übung darin gewesen zu sein, ob man den Verlust einer Vorstellung als Scheitern oder als Chance betrachten würde.“ Für ihn persönlich dürfe es diesbezüglich keine Wahrheit geben. Er wollte sich nicht einreden lassen gescheitert zu sein, nur weil er es verstand etwas loszulassen. Das Preisen von Strebungen zur Freiheit und Lösung könne nicht nur undankbar sein, sondern auch verletzend gegenüber denen, die man mit der Bindung in Verbindung bringt.
Es den Dingen selbst zu überlassen, die Dinge zu ordnen, sagte er und meinte damit: Sein Bewusstsein und sein Körper wären nur das Feld und die Streiter, um die Ordnung auszutragen. Er sei involviert und beeinflusst hinsichtlich seiner Persönlichkeit, wäre aber selbst im Grunde, nicht mehr, als ein Behälter des Augenblickes, an dem sich vergangene- und zukünftige Vorstellungen teilten, sich einten und sich hervorbringen würden. Seine Person hätte weder zu streiten und die Welt zu verletzen, noch hätte sie zu leiden, weil andere sie sich vielleicht zu Eigen machten oder dies anzustreben wagten.
Irene fragte Min nach seinen Freundinnen, danach was für ein Beziehungsmensch er wäre und ob ihr Bruder einmal eine richtig feste Beziehung gehabt hätte. In Anbetracht der Erzählung fühlte Irene die Situation derart, als hätte er entweder jemanden niet- und nagelfestes, oder gewisse Schwierigkeiten, was die Beziehungsfindung betraf. Min sagte ihr, dass seine letzte Beziehung, von der sie wüsste, schon eine Weile zurücklag und sie nicht sicher sei, ob dies nun wirklich auch seine letzte- gewesen sei, denn auch wenn sie über so ziemlich alles redeten, so blieb er, was feste Partnerschaften betraf, doch eher reserviert. Die damalige Beziehung von der Min zu berichten wusste, lag schon einige Jahre zurück, doch sie konnte sich noch nahezu an jedes Detail erinnern, das ihr einmal bekannt wurde. Seine Freundin hieß Martha und die beiden lernten sich bei einem Kurs für moderne Tanzformen kennen. Sie studierte Schauspiel und arbeitete nebenbei als Masseuse. Min meinte, dass sie wirklich wunderhübsch sei und sowohl Ruhe und Gelassenheit, als auch innere Kraft ausgestrahlt hätte. Min war damals bei der Aufführung des Tanzstückes gewesen, für das die beiden in dem Kurs geprobt hatten, und wusste dazu zu berichten, dass Martha die herausragende Gestalt auf der Bühne gewesen war; einmalig in ihrer Art. Sie hätte eine unglaubliche Wirkung und Präsenz gehabt, was aber nicht an einer besonderen Fokussierung der Bühne oder des Publikums läge, sondern sie war sowohl in sich, als auch in allen Dingen gleichzeitig zu sein. Als hätte sie in- und mit ihrem Tanz einen geheimen Gang gefunden, den sie mit ihren Bewegungen beschritt und der dahin führte, dass sie gleichzeitig in allen Dingen ankam, die sie umgaben, beobachteten, und die sie hätte beobachten können. Es war weniger das, was sie tanzte, sondern wie sie tanzte.
Fenster und Choreografien
Von den Erinnerungen an Martha nun tatsächlich ein wenig erfrischt und gestärkt, ganz so als hätte sich das Bild der Tänzerin, mit der geheimen Energie, nun unmittelbar auf Min übertragen, streckte Min die Arme aus, gähnte einmal und wusste beim Ausatmen, einen Ballast aus ihrem Körper gleiten zu lassen, der sich, zuvor mit einem langen gleichmäßigen Einatmen in ihre Lungen, aus einzelnen Teilen und Orten zusammengesetzt und gebündelt hatte. Sie öffnete kurzerhand das Beifahrerfenster und hielt ihre Hand hinaus, während sie ihre Finger dabei abwechselnd zusammen- und wieder auseinanderfächerte. Irene dachte derweil noch weiter an die wundersame Tänzerin, von der Min gerade erzählt hatte und empfand reges Interesse, weitere Dinge über sie zu erfahren, doch wollte sie ihrer Freundin gegenüber nicht zu aufdringlich sein und behielt es für den Augenblick zurück.
Ein wenig spielerisch betätigte Min abwechselnd die Steuerung der Fensterheber, die das Fenster sodann auf und ab bewegen ließ, während sie sich dabei an die Handlung jenes Tanzes erinnerte, den ihr Bruder und Martha damals aufgeführt hatten. Genau genommen ging es in jenem Tanz auch um Fenster beziehungsweise darum, wie man an sich gleich erscheinende Dinge durch unterschiedliche Fenster betrachten könne, die eben nur durch eine andere Fensterdurchsicht unterschiedlich erscheinen.
Die Inszenierung war derart, dass sich einige Tänzer in zwei Kreisen versammelten, wobei der innere Kreis mit Armen und Beinen, Fenster verkörperte und der äußere Kreis, das darstellte, was er eben offenkundig zu sein vorgab: das Äußere. Eine Person stand dabei innerhalb des inneren Kreises und- je nachdem, durch welches der Fenster sie im inneren Kreis blickte-, schien der äußere Kreis, beziehungsweise der Körper, eine abgewandelte Form anzunehmen. Diese äußere Form beeinflusste wiederum die Form des inneren Kreises, beziehungsweise der verkörperten Fenster, woraufhin, die im Inneren beider Kreise befindliche Person, sich auch wieder bewegen musste, um entweder die Sicht durch das eben noch auserwählte Fensters beizubehalten, oder aber sich neu auszurichten und durch ein anderes Fenster zu schauen.
Einmal in Bewegung gesetzt, ließe sich nicht mehr sagen, welche Bewegung, nun was beeinflusste, doch war alles mit dem nach außen gerichteten Blick, der im Inneren befindlichen Person, initiiert. Und so ließ die Choreografie, die Tänzer sich miteinander und gegeneinander bewegen, sie wandelte sich abhängig von den Bewegungen und Blicken der Tänzer beständig fort und wies dabei aber auch einen vorher eingestimmten Ablauf auf.
Ihr Bruder erzählte ihr später einmal, wie die Choreografin zur Presse gemeint hätte, dass wer daran glauben möchte, dass es alles eine einstudierte Folge sei und von ihr geplant, der solle das machen, aber auf diese Weise wäre der Tanz weniger zu fühlen, zu verstehen und zu leben. Im Zuge eines derartigen Verständnisses blieben die Schritte und Blicke immer mit dem studierenden und planenden Kopf gesetzt, was in der Folge zu maschineller Darbietung und vor allem Empfindung führe. Weiter meinte sie, dass die beste Choreografie, sich durch die Tänzer und Tänzerinnen selbst schreibe und fortschreibe und das sich eine Choreografin dabei gar selbst vergessen mache. Nicht, dass sie dabei wahrhaft überflüssig wäre, aber sie dürfe nicht als etwas bestehen bleiben, das sich zwischen den Tänzern und den Tänzerinnen und dem was sie eben vorführen setzt. Die Choreografin gäbe lediglich einen Impuls dazu, dass das, was in den Menschen als Potential und als Vorstellung zum Leben steckt, sich selbst in eine gemeinsame natürliche Form fügt. Eine gute Choreografin wäre nicht mehr, als ein kurzer, spiegelnder Moment, der alle Tänzer und Tänzerinnen zusammengefasst reflektiere.
Radiozirkus
Min schaltete das Radio ein, auf dem gerade ein lokaler Sender, Nachrichten aus der Umgebung berichtete. Das Thema handelte von einem erhöhten Wolfsaufkommen in der Gegend und den Bewohnern des besagten Gebietes wurde empfohlen, keine Lebensmittel und Lebensmittelreste offen in ihren Gärten zu lagern. Eine Gesprächsrunde versuchte Antworten auf die Fragen zu finden, woher die Tiere so plötzlich kamen und wie man mit ihnen am besten umzugehen habe. Ein Experte meinte dabei, die Menschen hätten im Laufe der Zeit eben einfach optimale Bedingungen für die Tiere geschaffen und sie so angelockt. Ein anderer sprach davon, dass sich die Tiere auf ihrer Wanderung verirrt hätten und sich aus eigener Hilflosigkeit nun in die Gärten der Menschen wagen, die dies oftmals voreilig als Bedrohung empfänden. Ein Dritter meinte, dass man dieses und jenes vermuten könne, aber die Natur eben ihre eigenen Regeln hätte und da der Mensch ein Teil dieser Natur wäre, könne er dieses - wenn überhaupt - nur aus seiner Perspektive vermuten. So empfahl er im Grunde genauso weiterzuleben wie bisher, auch wenn die Angst vielleicht erst einmal Einzug erhält, so gewöhne man sich schon daran. Min hörte gespannt zu, denn sie war von Wölfen und Tieren im Allgemeinen fasziniert; und Irene, die die Marotte ihrer Freundin kannte, freute sich das Min sich an etwas interessierte und der tristen Stimmung des Morgens entronnen war. Min fand an Wölfen vor allem bemerkenswert, wie ambivalent das Bild doch sei, das Menschen, im Laufe der Geschichte, jenem Tier gegenüber hatten; einerseits verehrt und andererseits verdammt. Einige fanden im Wolf eine Verkörperung ihrer eigenen Natur, während andere ihn als Haustier domestizierten, während wieder andere ihn nur als bedrohlichen und gierigen Akteur betrachteten, den es zu jagen galt. Was auch immer stimmen mochte oder gelten konnte, so war dieses Tier doch ganz offenkundig eng mit dem Menschen beziehungsweise dessen Weltbild verbunden und erlaubte eine Vielzahl an Deutungen. Und so war es gewissermaßen gar kein ausschließliches Interesse an dem Wolf als solchen, sondern vielmehr für die Sache, die der Mensch, in Verbindung mit dem Wolf, beschrieb, beziehungsweise der den Wolf überhaupt erst mit einer Bedeutung versah. Min meinte gar, dass es niemals nur ein Tier als solches sei, dass aufgrund - wie auch immer gearteter Merkmale - eben so oder so sei, sondern dass, das was die Merkmale bestimme ebenso, ein Teil des Tieres wäre. Womit ein Tier, das sich als etwas Sinnbezogenes darzustellen vermag, immer etwas sei, das zwischen dem Wesen des beschreibenden Menschen und dem Wesen des Tieres hin und her pendele. So wäre jedes Tier, das man versuche zu verstehen, zu beschreiben oder zu studieren, auch immer ein Spiegel der menschlichen Erfahrungswelt selbst und jeder Schluss, den man dabei vielleicht für sich ziehe oder reflektiere, nähre einen nächsten Blick.
Wer könne denn wohl schon je sagen, ob ein vom Menschen gebildete Verständnis über die Natur, wie zum Beispiel jenes des <die stärksten wären überlegen und würden überleben>, nicht eben dazu führt, dass dies von den meisten Menschen irrtümlich als unmissverständlich wahr wahrgenommen wird - aber eben, nur weil daran geglaubt wird, nicht weil es der wahren Natur entspräche. Zumal sei einmal zu verstehen, ob der Mensch überhaupt in der Lage befindlich wäre, die Natur mit dem Verstand zu umfassen, wenn der Verstand doch selbst nur ein schemenhaftes Fragment der Natur ist. Wer könne schon mit einem Tropfen Wasser, einen Ozean umfassen? Pflege
Der Radiobeitrag endete und Min hatte ihn mit Interesse verfolgt; sie wechselte auf einen Kanal, auf dem ein wenig Popmusik lief. Doch erneut wurde die junge Frau von einem Müdigkeitsschub erfasst und ihre Augen begannen sich zu schließen.
Irene sah, dass ihre Freundin erschöpft niedersank:
„Warst Du zwischenzeitlich noch einmal bei einem Arzt? Wegen deiner Müdigkeit?“
„Kann mich nicht erinnern“, meinte Min lethargisch und rieb sich ein Auge.
„Vielleicht wäre es ja mal hilfreich.“
„Für wen?“
„Ich meine vielleicht könnte es Dir ja helfen.“
„Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Du weißt ja was es alles für Erklärungen und Behandlungen gibt.“
„Der Körper als Kissen für den Schlaf des Lebens?“, fragte Irene mit einem Lächeln.
„Und Hirn nur als Zwirn um den Bezug zu besticken“, sagte Min und antwortete ebenfalls mit einem Lächeln.
„Oder aber zu müde um die Müdigkeit behandeln zu lassen?“, legte Irene noch einmal nach.
„Eher noch nicht so müde um schlafende Hunde zu wecken.“
Min verstand, dass Irene ernsthaftes Interesse an ihrer gesundheitlichen Verfassung hatte und als Freundin war es ihr nur billig, mit ihr die etwaigen Gründe zu teilen.
„Im Grunde liegt es am gegenwärtigen Zustand in der Familie. Solange das alles ungeklärt ist… und das ich fast keine Nacht durchschlafe und merkwürdig träume kommt noch dazu. Kein Tiefschlaf… trotz gesunder Ernährung und Bewegung.“
„Kann ich dir helfen?“
„Das machst Du doch bereits. Alles was wir teilen, seien es Gedanken, Vorstellungen, oder nun deren Umsetzung, ist bereits wie ein Baum der an einer Stelle steht und der sich niemals aus dem Blick verliert. Es etwas das in guter Erde wurzelt und Vieles von dem, was nicht auf den Wegen liegt, zum Verblassen bringt. Zum angenehmen Träumen. Du bist Teil meiner inneren Richtschnur und ragst mit dem Stamm und seinen Ästen hoch hinauf; du sorgst dafür das ich fruchtbare Gedanken und Wege finde. Auch hilfst du sozusagen dadurch, dass du mit mir Wege gehst, sie mit verkörperst, sie anzeigst und schließlich auch vergessen machst. Und sehe ich dich, sehe ich durch dich mich in gleicher Weise. Wir sind dort wo eins zählt und das was zählt, mag es auch unendliche Ziffern annehmen, lebt aus allen heraus, dass sich eben dort am Ort befindet.“
Irene freute sich über die Worte ihrer Freundin. Sie dachte daran, dass sie sich gerade dadurch, dass sie zu helfen bereit war und durch das, was Min gerade bezeugte, selbst mit einer Einsicht geholfen hatte.
„Hilfe und Unterstützung ist mehr, als etwas, das von jemanden, für jemanden gegeben wird“, sagte Irene.
„Genau. Das ist, wie als baue man Häfen mit seinen Worten, poliere sie schön und richte sie glänzend her, vergesse aber die Anlegeplätze für Schiffe und bietet im Grunde nichts an.“
Gepflanzte Persönlichkeiten
Irene fuhr nach einer kurzen Pause fort:
„Das erinnert mich übrigens an ein Buch, in dem jemand versuchte Pflanzen zu züchten und es damit verglich, wie sich Charakterzüge bilden. Er veränderte die äußeren Bedingungen immer solange und soweit, bis sich etwas ergab und austrieb. Der Mann notierte die Eigenheit dieses Austriebes und versuchte, die Haltbarkeit und Dauer der Pflanze, unter wechselnden Bedingungen zu ergründen.
Die beispielhaft erwähnte Pflanze ließ ihrerseits an Trieben, an Darstellung und am Verhalten erkennen, welche Umstände es bedürfe und welcher nicht. Während der ursprüngliche Samen bestand und in der letzten Faser eine Wurzel lag, schwammen und dorrten die Überreste der sichtbaren Form vergangener Blätter und Blüten, in allen Ecken und Enden und wurden schließlich wieder zur Erde. Der Autor meinte schließlich, es sei nicht anders wie Persönlichkeitsmerkmale, die er selbst hätte. Abhängig von äußeren Umständen und Einflüssen, keimt und formt sich etwas und trägt wiederum zu den äußeren Bedingungen bei. In ihrer momentanen Einwirkungen aber begrenzt, bleibt es abhängig, von dem, was jene Bedingungen über die Zeit und damit Blüten und Blätter schaffte, es versuche beständig, in einer aus Unbeständigkeit geborenen Natur zu sein, und passe sich neuen Umständen fortwährend an.
Es lebt und stirbt abhängig von relativen Zuständen. Über die Zeit entsteht Vertrautheit der Umstände, was zu einem Zutrauen führt. Die Erde und die Atmosphäre ringsum ist Überrest des Abgeschälten, des Verdorrten, des Fortgeschwommenen und des Bestäubten, des Befruchteten.
Es geht aus dem hervor, aus dem sie einst vergingen, und vergehen in dem, aus dem sie später hervorgehen. Ein beständiger Kreislauf.“
Als Irene Ihre Zusammenfassung wiedergegeben hatte, erkannte sie, dass Min erneut eingeschlummert war. Die Freundin buffte Min daraufhin sanft auf den Oberarm, woraufhin jene ihre Augen einen geringen Spalt öffnete und ihr Mund langsam und nach Art eines Faultieres zum Gähnen regte.
„Willst du den Tag wirklich verdösen? Schau nur die Hügel und Täler neben Dir, alles zieht vorbei, ab und an lacht die Sonne.“
Min war schwermütig. Sie nahm keinerlei Medikamente, aber sie fühlte ihren Körper dumpf und schwer. Zuweilen fühlte sie sich gar so, als drangen Flugzeuge wie Zäpfchen in ihren Kopf ein, passiert durch die Ohren, dabei begleitet von unsäglich tiefen Tönen der Maschinen, die den Kopf und den Körper ebenso tief in die Erde zu graben vermochten. Ihre Sinne waren einerseits dumpf, taub und andererseits gereizt. Jeder Impuls, ob in Form eines schnellen Bildes oder lärmenden Lautes konnte sie erschrecken. Und sie konnte in Anbetracht ihres tauben Empfindens nichts Anderes tun, als es zu dulden und sich darin üben, jenen Impulsen nicht mit Ungemach zu begegnen, sie nicht gegen sich zu werten. Manchmal war ihr so, als sei sie erneut ein neugeborenes Kind, das heranwuchs, durch ein dunkles Erbe ihrer vorherigen Leben schreitend, suchte sie sich zusammenzufügen. Gedanken und Empfindungen suchten sich erneut zu vernetzen, auf die eine Weise, die von so vielen Umständen und früheren Ereignissen beeinflusst war. Mit allerhand Ahnungen von Erinnerungen musste sie sich zwingen, dieses hier und jetzt anzuerkennen, denn es gab kein anderes. Der Rückblick auf etwas, das man früher vielleicht einmal war -oder zu sein meinte, ist Verderben dessen, was man hier und jetzt ist.
Neuland. Neustadt
Mittag war es indessen geworden und die Sonne näherte sich dem Zenit, während Min hörte, wie der Magen ihrer Freundin knurrte.
„Wollen wir etwas essen?“, fragte Min.
Irene überlegte nicht lange und nickte, während ihr Bauch sich dieser Entscheidung wegen schon in freudiger Erwartung empfand und die Leere für eine Weile aufhob.
„Da vorne sollten wir ein Städtchen erreichen, vielleicht steigen wir dort einfach mal aus und sehen was es gibt?“
Irene nickte erneut und fuhr auf gerader Straße, derweil auf jenen Ort zu, der noch etwa ein bis zwei Kilometer entfernt lag. Bald passierten die beiden das Ortsschild und fanden sich nach kurzer Zeit, nahe einer kleinen Fußgängerzone und einer Parkanlage wieder. Irene parkte das Wohnmobil auf vorgesehener Fläche neben dem Park und beide machten sich in Richtung Fußgängerzone auf. Die Pflastersteine waren neu gelegt und wiesen ein Muster auf, das aus den farblichen Gesteinstönen rosé, grau und weiß bestand. Das Muster bildete Ornamente ab, die vermutlich etwas mit der Stadtgeschichte oder dergleichen zu tun hatten, dachte Min, als sie langsamen Schrittes um das Muster herumging. Ringsum des kleinen inneren Stadtkerns mitsamt jener Parkanlage fügte sich Mauerwerk, dessen Fassade etwa ein Meter hoch erhalten war und auf dessen obersten Steinen sich allerhand Vögel einfanden, die das dort niedergekommene Ast- und Blattwerk der nebenstehenden Bäume durchforsteten. Die Stadt hatte sich eine kunsthandwerkliche Tradition erhalten und es gab so einige derartiger Läden, die ihre Warenfertigung in der Sommerzeit soweit wie möglich nach draußen verlegt hatten. Infolgedessen sahen die beiden Frauen einen Töpfer, der auf einer durch Zugkraft und Fußpedal angetriebenen Töpferscheibe, Tassen und Vasen formte; anderenorts eine Tischlerin, die sich auf die Fertigung von allerhand, etwa handballengroßen Figuren spezialisiert hatte. Sie kamen an einem alten Turmgemäuer vorbei, auf dessen gegenüberliegender Seite sich ein kleines Bistro befand und entschlossen, sich an einem der Außenplätze für den Moment niederzulassen, um einen Happen zu essen. Die Stühle waren durch Schnörkelei und Verzierungen kunstvoll gearbeitet und entsprachen damit gänzlich dem Eindruck, den das Städtchen im Allgemeinen verschaffte.
Die Bedienung kam rasch und ging nach Aufnahme der Bestellung auf gleiche Weise. Irene blickte gebannt auf den alten Turm gegenüber, der etwa sieben Meter in die Höhe maß, rund gemauert war und dabei in etwa einen Außenradius von etwa anderthalb Metern aufwies. Min schaltete währenddessen ihr Mobiltelefon auf Empfang, im Ansinnen die empfangenen Kurznachrichten der vergangenen Stunden zu lesen. Die Bedienung kam zurück und brachte die bestellten Getränke in Form von Tee und Kaffee. Min fielen dabei die grazilen Hände auf, die das Geschirr sicher auf den Tisch luden, um sich danach sanft mit den Handflächen auf der Schürze abzulegen. Das Interesse von Min war nun geweckt und sie ließ von ihrem Mobiltelefon ab, um die Bedienung genauer anzuschauen. Jene Dame trug ihre braunen Haare locker geflochten über die Schultern hinaus und duftete zart nach Parfum. Ihre Hände mitsamt den daran befindlichen Gliedern und den erwachsenen Abmessungen ergaben ein kleineres und getreues Abbild ihres Körpers, denn jene Form passte zu der schlanken und hochgewachsen Gestalt, die sich in der Art ihrer Knochen und Wölbungen zeigte. Min konnte und wollte nicht genau diese oder jene Proportion herausstellen, sondern es war vielmehr die Gesamtheit, die sich gegenseitig zu einer Stimmigkeit verhalf, ohne dass man fähig war, zu sagen, welcher Teil ihrer Erscheinung nun was bedingte, begünstigte oder besonders machte. Der Körper der Angestellten mutete wie eine Perlenkette an, an der jede Stelle und jedes Körperteil teilnahm, um das vorher betrachte und geknüpfte zu einer Vollendung zu bringen. Egal welche Stelle man zu welchen Zeitpunkt, in welchem Licht auch immer besah, es ergab sich stets eine Fortführung und ein Abbild einer anderen Stelle, die ebenso fein und makellos fortgeführt wurde. Min war regelrecht verzaubert und eingenommen von dem Wesen und blickte bald auf den Mund der Person, der sich nunmehr zu bewegen begann:
„Salat und Baguette brauchen noch ein wenig“, sagte sie in knappen Worten und sah ihrerseits das sowohl Min, als auch Irene sich an etwas verloren hatten. Für Min lächelte sie freundlich und für Irene erübrigte sie nun ein paar weitere Worte:
„Wissen Sie was es mit dem Turm auf sich hat?“
Irene sah sich um, blickte kurz zu Min, dann zur Bedienung und schüttelte den Kopf.
„Keine Ahnung. Vielleicht ein alter Kerker?“
Die Dame lachte und ihr Lachen ließ erkennen, dass sie dies gerne tat.
„Fast. Also man nennt den Turm auch die Fledermausplage.“
Irene war gespannt; der Name wies Stoff für eine interessante Geschichte auf. Sie wiederholte den Namen leise und blickte erneut zur Bedienung, erkundigte sich danach, ob sie wisse, woher der Begriff wohl stamme und ob sie Näheres darüber zu erzählen verstünde.
Die freundliche Dame lachte erneut und freute sich des höflichen Interesses von Irene und versprach zu erzählen, was sie wüsste, sobald sie die restlichen Bestellungen ausgegeben hätte. Irene begrüßte das Angebot und lächelte dankbar, während die Dame wieder schnelleren Schrittes in das Innere des Bistros ging.
Blumen zum Tee
Min nahm vorsichtig einen Schluck vom Tee und empfand angenehmes Wohlsein. Sie wusste, dass schwere Gedanken, zu schwerer Stimmung führten und umgekehrt. Doch war es nicht zu vermeiden; sie verstand zwar nicht genau, was es war, aber es gab Phasen, da befände sich ihr Körper in einer Auseinandersetzung mit sich selbst und dem, wohin er strebe. Er tariere dann Erfahrungen miteinander aus, wäge Interessen ab und ließe an der Art und Weise der Erfahrungen, mal ein zähes und mal ein leichtes Fügen des Fortganges empfinden. Man erkenne jenes Auspendeln daran, wie sich der Körper ausrichtet, was er sieht, was er fühlt und was er anstrebt. Als seien die Gedanken und Wahrnehmungen, Fußabdrücke und Spuren der Vergangenheit, die sich nun zu einem Tanz des Augenblickes zusammenzufügen gedachten und die, durch den Tanz, eine bestimmte Richtung und Ausrichtung beschreiten. Selbst spüre und tanze man dabei lediglich, ließe sich im Dunkeln des Feldes treiben und es endet, wenn ein Zeitpunkt erreicht war, der, je nach Erfahrung und Person, variieren kann. Es gab Tänzer, die sich selbst aus den Knochen und aus dem Leibe tanzten, die sich den Dingen hingaben und überließen- und sei es tiefste Nacht, weit weg von einem innerem zu Hause und im gefährlichsten Feld, tanzten sie sich selbst davon.
Doch egal, was auch geschieht, für jeden kommt früher oder später, der Tag, an dem man <zu> etwas findet, ob nun vornehmlich einen eigenen Tanz fortgeführt und kultiviert, oder aber vornehmlich den Schritten Anderer folgend. Dieses Leben lebt bewegt und es lässt sich nicht lehren, es lässt sich nicht mit dem Verstand verstehen, es lässt sich vielleicht nur an sich selbst messen und so ist das unermessliche Leben, eines, das sich einer Messung entzieht.
Die Bedienung des Bistros kam nach einigen Minuten im gewohnt gewandten Schritt zum Tisch der beiden Gäste zurück, servierte jeweils die bestellten Salate und Baguettes, band sich behände ihre Schürze ab und setze sich auf einen Stuhl, der inmitten der beiden jungen Frauen stand. Auf dem Namensschild, das die Angestellte auf ihrer Bluse trug, las Min den Namen <Magdalena>. Min befand, dass das Wesen der Magdalena, nachdem sie erst die Schürze abgebunden hatte, ruhiger und anmutiger daherkam, fast ein wenig majestätisch erhaben. Mit ruhiger Stimme begann Magdalena erst einmal ein Gespräch mit den beiden, ob ihnen die Stadt denn gefiele und ob der Salat schmecke. Es waren einfache Fragen, die es zuließen, auf ebenso einfache Weise eine positive Atmosphäre zwischen den Dreien zu entfalten. Sowohl Min als auch Irene empfand, dass es sehr angenehm sei, mit Magdalena zu sprechen, und sie verzehrten die Speise auf entspannte Weise, während Magdalena nun ein paar Dinge über das Städtchen zu erzählen begann.
Sie wusste von einer Sage über das Städtchen zu berichten, in der die Stadt einst von Unheil heimgesucht war und sämtliche Einwohner, einer Art von Krankheit erlagen. Man meinte, dass die Menschen seinerzeit dem Wahnsinn verfielen, tollwütige Züge annahmen und regelrecht danach dürsteten, jemanden, eine Schuld zuzusprechen. Ihr Argwohn war ihnen derart unerträglich und es war ihnen aus eigenen Kräften nicht linderbar; ihre Tröstung bestand in einem Erschaffen und richten von Schuldigkeit. Ein anklagender Kannibalismus verbreitete sich.
Und wie die Ironie spielte, belegte man zuerst jene Menschen mit einer Schuld, die ein gemeinsames und verständliches Gemeinbewusstsein verstanden oder es zumindest offen propagierten. Jene, die noch die Sinne für die Umtriebe innehatten, etwas Gemeinsames meinten, waren also die Ersten, die von der Masse gerichtet wurden.
Das Verständnis von Schuld verlagerte sich und war keines mehr, das Genügsamkeit aufwies und im Ansinnen eine gesellschaftliche Ordnung zu erhalten hatte, sondern es wurde rein begriffsgewordener Wetteifer, der aus Erleichterung eigener Last bestand. Wie hätten es die zum Sündenbockgemachten verstehen können? Sie glaubten mit einem ordnenden Verständnis daran, dass etwas Gemeinsames möglich sein müsse und doch selbstverständlich in den gesellschaftlichen Vorgängen läge. Wie hätten sie verstehen können, dass sich das Verständnis gesellschaftlicher Fragen durch eine Art von Krankheit derart wandeln könne? Kein Mensch kann wissen, wie und was, ein anderer Mensch denke. Er könne nur an den Taten und Worten ableiten, dass es, so und so sei; und habe man es einmal als unmissverständlich gelernt, wie sollte man darüber zu einem Missverständnis gelangen? Manche liefen den Vielen, nach und nach, ins offene Messer. Die Tiefe der Gesellschaft ging verloren und die Masse strebte in ihren Zügen in die Breite.
„War es nun Krankheit gewesen? Oder steckte noch mehr dahinter?“, fragte die Erzählerin die beiden Frauen abschließend.
Min und Irene hatten aufmerksam zugehört; Magdalena verstand sich auf das Erzählen, so das ihr, die Beiden für Stunden hätten Zuhören können. Ihre Stimme wies eine Klarheit auf, die das Erzählte nicht zu verzerren oder zu beeinflussen vermochte. Stimme und Erzählung gehörten auf das Geratewohl zusammen.
„Und was ist mit dem Turm?“, fragte Irene.
Magdalena lächelte, ganz so als hätte sie die Frage erwartet. Als gute Erzählerin verstand sie sich darauf, ihre Zuhörer ab einem bestimmten Zeitpunkt aktiv mit einzubeziehen, doch nicht etwa, weil sie sich gerne bitten ließ, sondern weil sie ihren Zuhörern auf unaufdringliche Art und Weise, Gelegenheit geben wollte, eigens zu entscheiden, wie viel und was sie zu hören wünschten.
Magdalena verkörperte gewissermaßen, ein geschichtliches Bewusstsein des Städtchens, die denjenigen, der etwas darüber erfahren wollte, stets auf eine klare und wahrhaftige Weise das widerspiegelte, was das Erfahrenwollen verfolgte. Nun fuhr sie weiter mit der Erklärung der Begebenheiten um den Turm fort und meinte, der Turm bestand sowohl zu Zeiten als die Geißel noch nicht aufgetreten war, als auch zu Zeiten als die geschilderten Geschehnisse um sich griffen. Es war seit jeher ein Turm, gebaut auf einem Fundament mit Steinen, die alle kannten, und gemauert mit Mörtel, der einst gemeinsam angerührt war.
Doch Betrachtung, Nutzung und Ansehen dieses Turmes waren vor- und nach den Ereignissen grundlegend verschieden; zumindest was die gesellschaftliche Gesamtperspektive betraf.
In Zeiten vor der Krankheit lobte und freute man sich der Aussicht, sowie der feinen Gesteinsstrukturen der Fassadensteine, denen man gar eine geheime heilsame Wirkung zusprach, sofern man die Handflächen in einem bestimmten Abstand vor der Fassade öffnete. Der Turm hatte nicht nur die Funktion eines Treffpunktes, sondern war auch ein Ort an dem sich die Menschen, egal, in welchen Teilen des Städtchens sie auch wohnten oder sich aufhielten, innerhalb der Stadt orientieren konnten. Die Menschen sahen den Turm ob nah, ob fern und hatten das Gefühl einer gewissen Verbundenheit und Heimat. Man sah die Sonne über ihm aufgehen und den Mond mit seinen Sternen um ihn zirkulieren, der Turm stand fest und unverrückbar.
Magdalena atmete tief ein und machte eine Pause. Sie schaute auf die leeren Teller der beiden jungen Frauen und lächelte, sie meinte, dass es den beiden wohl geschmeckt hatte. Irene hatte ihren letzten Schluck vom Kaffee genommen.
„Und was geschah dann? Also nachdem die Krankheit ausgebrochen war? Wie erhielt der Turm seinen Namen?“, fragte Irene, fest entschlossen zu erfahren wie sich die Gesamtheit begeben hatte und um zu verstehen wie sich der Kreis wohl schließen lassen würde.
Magdalena atmete tief ein und ebenso tief aus, sie erzählte davon, dass je mehr Gegeißelte den Turm ansahen, desto mehr Absicht entstand, das Bauwerk als Form zu nutzen.
Es erhoben sich Stimmen, die das Bauwerk im Inneren nutzbar machen wollten. Man ergriff den Turm, fasste ihn an, machte ihn nutzbar und nahm sich des Wesens an, auch um damit die Meinung und den Glauben zu verstärken, es sei nur richtig, was im Inneren dieser Sache zu tun wäre.
Der Anblick des Turmes im Rahmen der Weite der Welt, der Erde und des Himmels wurde abgelöst durch den Blick in die Enge von umgebenen Mauern des Inneren. Man hielt dort Gericht über Menschen, denen man Schuld zuwies, man versammelte sich. Und je mehr ein Unglücklicher dabei versuchte, die Geißel zu beschwören, umso mehr konnte man daran glauben, dass dieser Mensch schuldig sei.
Im Vergelten ihrer Leiden lag nunmehr das einzig vernehmbare Bestreben in den engen Turmmauern. Man band jenen Unglücklichen im Turm an einen Pfahl und ließ ihn dort Tag und Nacht darben. Des Nachts hörte man Klagen und Weinen aus dem Inneren des Turmes, was sich zudem mit Angst und Verzweiflung vermengte, denn mit den abgehaltenen Gerichten innerhalb des Turmes, hielten nun auch vermehrt Tiere Einzug, die sich von der eingebrachten Wärme und der Luft angezogen fühlten und sich von den zurückgelassenen Resten der leidlichen Vorgänge nährten. Vornehmlich ließ sich nun auch eine große Anzahl Fledermäuse nieder, die den Gebundenen des Nachts im Dunkeln schnell und blitzartig umflogen und ihn dabei wach und im unvorhersehbaren Erschrecken hielten.
Und jetzt?
Magdalena endete ihre Erzählung.
„Und was ist jetzt?“, fragte Min.
Mit dieser Frage sollte Magdalena nun den Kreis schließen und sie meinte, „dass der Turm eben dort stehe, zu jeder Zeit und die Bedeutung für den Menschen bliebe abhängig von der Betrachtung und der Bedeutung, die der Verstand ihm eben zugesteht. Ein eindrucksvolles Beispiel, wie die Einheit inmitten der Zweiheit, sowohl umgebend, als auch innenliegend, zu gleichen Teilen besteht und wie aus der Zweiheit die unendlich verstrickte Mehrheit erwächst, die aus Ergreifen und aus dem Ausschmücken entsteht. Im Gleichgewicht finden Einheit, Zweiheit und Vielheit ihre Balance, sie ergänzen sich und sorgen füreinander, sie stellen den Platz und für jedes Belehrbare findet sich ein Lehrer, für jedes schöpfend und planend bestrebte Ding findet sich etwas aus dem sich schöpfen ließe.
Nun hier und jetzt ist der Turm da, er umfasst jede Frage nach einem Sinn und ist fähig jeder Frage mit Sinn und Unsinn zu entgegnen; er ist, war und bleibt alles von der Möglichkeit bis zur Unmöglichkeit.“
Min und Irene nickten. Aus dem Innenraum des Bistros rief jemand nach Magdalena, die daraufhin ohne umzuwenden die Schürze umband und meinte, sie würde wieder ein wenig mit Armen und Beinen arbeiten gehen.
„Ich hoffe ihr mögt die Stadt“, meinte sie und ging in das Bistro. Min nahm sich eine Zeitschrift, die neben ihr lag und blätterte ein wenig darin umher, bis sie einen kurzen Artikel mit der Überschrift <der gemeinsam gebaute Zweifel> fand. Sie rümpfte die Nase und überlegte kurz, dann fragte sie Irene:
„Meinst Du es wäre auf Dauer angenehm in solch einem Städtchen zu wohnen?“
Irene zuckte die Schultern und verzog die Mundwinkel, als sie ihre Unterlippe unter die Oberlippe schob, um eine ahnungslose Miene zu machen.
„Weiß nicht, ich kenne die Stadt nicht wirklich.“
Min lächelte, als wäre sie sich selbst auf die Schliche gekommen.
Irene nahm nun eine Zeitschrift und meinte, sie wolle einmal nachsehen, was es zu lesen gäbe, und fand einen Text, der im Rahmen der Leserbriefe abgedruckt war. Sie las Min laut vor:
„Ich kann nicht gehen, denn der Tod kann dich mir nicht nehmen. Auch wenn unendlich viele Köpfe sich deine Gesichtszüge über ihre Knochen legen und auch wenn deine Stimme von Bändern bewegt werden, die mit meiner Liebe brechen wollen, so kann ich mich nicht von Dir fortbewegen.
Körper voller Pfeile und Narben, Angst fließt statt Blut, sie gräbt zittrige Hände in die Erde, um dort gepeinigte Herzen gegen Willen zu vergraben. Mein Körper hat die Nervenbahnen eines Tieres und trieft aus jeder Pore eine betäubende chemische Dumpfheit aus. Es ist mir von Dir geblieben und es legt sich nicht ab, es trägt sich mir als meine eigene Haut und vereint sich mit Fleisch und Knochen. Vielleicht habe ich zuvor geliebt, aber Liebe war niemals so eins mit mir.“
Neuland
Irene endete das Vorlesen und klappte die Zeitschrift zu.
„Selbst die Zeitschriften sind irgendwie…wunderlich“, meinte sie.
„Ja irgendwie hat der Ort schon eine gewisse Aura. Wie eine Enklave inmitten einer großen weiten Welt, oder wie eine Insel inmitten eines riesigen Meeres.“
Min hatte durch Tonfall und Mimik erkennen lassen, dass sie noch fortfahren wollte, und gerade die richtigen Worte zu finden, im Begriff war, um Irene behutsam mitzuteilen, dass ihr Beispiel vorhin, mit dem Umzug in eine neue Stadt, nicht ganz zufällig gewählt war. Vielmehr versuchte sie, ihrer Freundin auf eine indirekte Weise anzuvertrauen, dass sie, ernsthaft mit dem Gedanken eines Umzuges spielte und dabei ein wenig Hilflosigkeit empfand.
Nicht nur ein weiterer Umzug sollte es für sie sein, einem bei dem sie ihre Sachen von einem Ort mitnähme, um sie dann an einer anderen Stelle wieder aufzustellen. Diesmal war es eher ein Umzug in ein neues Leben. Die junge Frau hatte im Laufe des vergangenen Jahres all ihre Kisten gepackt, alle Dinge die sie, seit ihrer Geburt aufbewahrt hatte, einer Art Inventur unterzogen, es waren Dinge aussortiert, die es im Fall des Falles wegzuwerfen galt und sie hatte eine Liste der Dinge gemacht, derer es in ihrem neuen Zuhause wohl bedürfe. Min versuchte dabei, sich den Lauf der Zeit anzuvertrauen, der darüber entscheiden sollte, ob und wann sie ihre Vision umsetzen würde. Sie versuchte derart, sich auch dem Drängen und dem Treiben in ihrem Inneren möglichst zu entziehen. Lange Zeit empfand sie ihre Zukunft als bekannt, könne diese aber nicht kommen sehen. In ihr deutete eine geheime Ahnung, eine Vision aus einer anderen Zeit. Vergangenheit? Zukunft?
Min erinnerte sich daran, dass sie Ende letzten Jahres bereits einmal so weit war; sie hatte ihre Sachen geordnet, nur ein letzter Gang wäre zu tun und eine letzte Kiste sei zu packen. Um das zu vollziehen, musste sie in das Haus ihrer alten Mutter, hinauf in den Speicher, sowie hinunter in den Keller, dort ordnen und sortieren. Sie musste sich auch in Anbetracht der Krankheit ihrer Mutter, ihres Segens versichern, sich mit ihr und ihrem Leid versöhnen und die Erinnerungen vom Anbeginn ihrer Geburt bis jetzt übereinbringen. Min hatte ihr verständlich zu machen, auf welchem Wege sie sich nun befände, dass sie endlich zu sich gefunden hätte, und wisse, was ihr Leben sei.
Doch es ging alles zu schnell; die Harmonie wurde durch Wüten vergiftet und der Gang war schließlich ein Irrgang, der gegangene Wege in Staub und Asche zu setzen vermochte. Die alte Mutter verbrannte einen Großteil ihre Sachen. Und so war jene Kiste, mit den noch verbliebenen Sachen, eine Büchse der Pandora; und deren Handhabe brachte womöglich einen unerbittlichen Sturm mit sich. Neuland neu
Als Min an Ort und Stelle derart die Dinge reflektierte formte sich eine Träne in ihrem Auge und tropfte auf den leeren Teller vor ihr. Immer mehr Tränen folgten und schließlich begann sie zu schluchzen. Irene bemerkte den Gefühlsausbruch ihrer Freundin, nahm sie unverzüglich in den Arm und ließ ihrerseits eine Träne nieder, die Min am Ohr niederlief.
Im Arm ihrer Freundin liegend, erkannte Min warum sie die vergangenen Monate so lethargisch war und das dies nichts anderes war, als eben ihre zurückgehaltene Trauer, die sie tief in ihrem Inneren verbarg, und mit allerhand Weisheit und Ratschlägen schütze. Die damalige Begegnung mit ihrer Mutter, sowie die richtigen Schlüsse daraus, waren der Schlüssel zu ihrem Dilemma. Sie erinnerte sich an einen Traum von letzter Nacht, der ihr Gleiches zu offenbaren vermochte. Der Traum hatte in gewisser Weise, der Handlung nach, bestrebt, sie mit jenem wirren Verhalten vertraut zu machen, doch durchbrach sie mittels eines tiefer liegenden Impulses, die Handlungskette und ließ eine Wandlung des Verlaufes erfolgen. Sie verstand, dass die Welt, so wie ihre Mutter, unendlich spende, doch dass es ein Spenden sei, die angenommen und selbst ergriffen wird - oder dessen Erhalt zumindest in Teilen vererbt war. Sie weinte und meinte zu verstehen, dass sie, mit dem, was und wie sie es annahm, wohl auch zum Leid ihrer Mutter beigetragen hatte. Doch zwischen diesen Bildern, die mit jener wahren Empfindung einhergingen, mischte sich ein Impuls, der sie abhärten und vor den Empfindungen ängstigen sollte. Der Fernseher neben ihr schaltete sich an und impfte mit eiserner Stimme und harten Bildern aus Kriegen ein, das sie stark sein müsse und nicht weinen solle. Doch sie erkannte, dass in ihren Tränen eine Wahrheit lag und sich dort ausdrückte.
Und diese Tränen, waren wie eben jene Tränen, die sie am Tisch des Bistros nun vergoss, keine Tränen, die ein kümmerlicher Impuls hervorbrachte, sondern es war vielmehr das Wissen um die Dankbarkeit und die Schönheit der Welt. Es war Kraft. Und innerhalb dieser Kraft schwamm die Verarbeitung über die Empfindung des Verlustes der Mutter beiläufig mit und so war es kein verdorbener Fluss, sondern vielmehr etwas Klares, etwas Reinigendes. Die Unterschiede mögen manchmal fein sein, doch in jenen noch so feinsten Staub der sich im Denken und Handeln zeigt und mit dem man sich verwirklicht, offenbart sich ein Weg und dieser lässt erkennen, ob die Person mit Schritten auf dem Weg zu halten vermögend ist, oder ob sie, vorher erst noch weiterer Belehrungen bedarf, während ein Weg gesucht wird. Selbst ein angestimmtes Lied, das zur Einheit miteinander aufruft und gütlichsten Intentionen zu verfolgen scheint, kann im Klagen, zu einem Irrweg werden, auf dem man nicht fähig wäre, auszudrücken, wofür man stehe.
Die Empfindungen und Gedanken, die Min hier an Ort und Stelle des Bistros machte, verbanden sich mit jenen aus ihren Träumen und ließen ein klares Bild erkennen, dass sie in die Vergangenheit führte. In jener damaligen Zeit, in der ihre Mutter kurz vor gesundheitlichen Erschütterungen stand, umgarnte der damalige Freund, Min auf eine besondere Art und Weise. Er machte ihr Versprechen aller Art, ließ ihr allerhand Geschenke zukommen, erzählte ihr Geschichten und war auf bestem Wege ein Freund zu werden. Min verstand die Dinge in ihren damaligen jungen Jahren, in denen sie gerade zu einer Frau heranwuchs, auf eben eine dem Alter entsprechend naive Weise. Sie dachte sich nichts weiter dabei und nahm es an, meinte dabei gar etwas Gutes zu tun, indem sie ja aktiv zu der sich neu formenden, familienartigen Gemeinschaft beitrug. Ihrer Mutter ging es indes schlechter, wie sie im Nachhinein verstehen konnte, auch wenn die Mutter sich Mühe gab zu kaschieren und einen herzlichen Eindruck zu wahren. Nachträglich gesehen kam es einem subtilen Hilferuf gleich. In diesem Augenblick verstand Min auch ihren Bruder. Sie verstand, dass die klügsten Ratschläge und allerhand Weisheiten zwar helfen können, aber so etwas nur die halbe Miete war.
Magdalena kam erneut zum Tisch der beiden jungen Frauen und holte Erkundigung ein, ob man noch etwas Speise oder etwas Getränken wünschte.
Min schüttelte den Kopf, machte dabei aber nicht den Eindruck traurig zu sein.
„Ein großen Kaffee bitte“, bat Irene.
„Groß?“, erkundigte sich Magdalena, woraufhin Irene noch einmal kurz überlegte.
„Oder zwei Kleine zusammen in einer Tasse“, sagte sie ein wenig heiterer.
Magdalena lächelte und ging daraufhin wieder vom Tisch der beiden ab.
Irene hatte Min bereits eine ganze Weile im Arm gehalten; sie hatte Ihrer Freundin währenddessen keinerlei Fragen gestellt, oder sie mit Bemerkungen betraut.
„Schon merkwürdig, manche Leute sprechen doch tatsächlich davon, dass sie jemanden in einer Sache, Zeit oder Raum gäben, ganz so als sei es ihre Zeit und ihr Raum, den sie für andere vergeben könnten“, sagte Irene.
Min überlegte wie sie Irenes Worte zu verstehen hatte; sie hätte doch selbst, insbesondere in den vergangenen Monaten, nach jenem Vorfall mit ihrer Mutter, in einer Vorstellung gelebt, dass man ihr doch Zeit geben müsse, und so hatte sie im Zuge von Gesprächen mit Menschen- und auch in ihren eigenen Handlungen- oft eine latente Angst davor, dass man diesen Wunsch nicht entspräche. Ihr war so, als hätte sie sich in der letzten Zeit allzu sehr selbst getäuscht; sie seufzte.
Magdalena brachte derweil Kaffee. Min blickte sich um und meinte, es wäre bald Zeit weiterzufahren, damit sie zur Mittagszeit bei Ihrem Bruder einträfen.
Erwachen
Quent wachte auf. Er blickte um sich, neben ihm stand eine Krankenschwester.
„Wo bin ich?“, fragte er.
„Im Krankenhaus“, antwortete.
„An was können Sie sich erinnern?“
Quent fasste sich an den Kopf.
„Ich weiß nicht, es kommt mir vor als sei es Monate her seitdem ich mich das letzte Mal bei Bewusstsein fand, aber ich hatte diesen Traum.“
„Welchen Traum?“, fragte die Krankenschwester.
„Naja ich war mit einem Schiff auf See. Ich trieb dort Jahre umhin, ich tauchte und ich fischte. Es war fast so als sei ich dort aufgewachsen und es gab einen Wassermann der mich stets mit guten, glänzenden Fischen versorgte, mich hegte und pflegte wir er eben konnte. Die Fische hatten goldene Schuppe und konnten fliegen, wenn die Sonne herauskam. Ich trieb dort wie gesagt Jahre umhin und nach einiger Zeit trug es sich zu, dass das Meer mir einen Hai zutrieb, er mir zutrieb oder ich auf ihn zutrieb; wer kann das auf hoher See schon sagen?
Nun ja, wie dem auch sei, der Hai gesellte sich zu mir, er war mir sehr zugetan und ich ersann nichts Furchtsames an ihm, wohl aber eine gewisse Bedrohung der Umgebung, die ich nach einiger Zeit jedoch als natürlich annahm; womit ich mir den Hai nur umso mehr zu einem Begleiter wünschte. Ich fütterte ihn mit meinem eigenen Fleisch und Blut, was mir im Übrigen in keiner Weise wehtat, mir gar zu gefallen wusste und so auch zu einer Gewohnheit wurde. Wir durchquerten die Meere fortan gemeinsam und unserer Gesichter glichen sich auf eine gewisse Art und Weise an, ohne das es mir seinerzeit aber besonders auffiel. Schließlich kam es dazu, dass die See aufgewühlt wurde und ich mich in einen Hafen zu retten hatte, während mein treuer Begleiter in der weiten See verblieb. Im Hafen angekommen, legte ich all meine schweren Kleider ab, die ich die Jahre getragen hatte und die mir meine Wunden verdeckten, aus denen ich die Jahre über das Fleisch und das Blut entnahm. Ich versorgte besagte Wunden und ging fortan nackt durch die Stadt und verliebte mich in ein Mädchen. Diese Liebe offenbarte sich mir als wahrhaftige Geburt, sie heilte all meine Wunden, nähte mir die schönsten und leichtesten Kleider, während sie mit ihrer Stimme den lauen Sommerwind flüsterte und stets so schüchtern wie die Daphne blieb, was dazu führte, dass ich sie niemals mit meinen Händen je wirklich zu fassen bekam.
Das Mädchen war immer bei mir, in jedem Augenblick spürte ich etwas das sich nach Kräften einsetzte und liebte, ganz so als hielte sie die Stadt in ihren Händen und meine Hingabe galt allem was sie berührte, oder auch nur zu berühren gedachte. Ich liebte sie mehr als alles was ich je auf dem Meer gesehen hatte, alles was ich in den Tiefen an Perlen und Gold je erspäht. All diese Dinge waren mir seinerzeit mit dem vorgesehenen Geschicke entgegengeschwemmt, auf das mir eines Tages gezeigt werde, was wahre Schönheit vermag; die Zeit verbrachte sich endlos und man kann es wohl als einen Traum in einem Traum bezeichnen.
Doch eines Tages fuhr ich einmal wieder auf das Meer und es zogen dunkle Wolken auf; am Horizont erschien es tiefschwarz, als ich sodann auch in Ohnmacht fiel. Als ich zu mir kam, ringten gut hundert Kämpfer aus reinem Licht gegen eine Überzahl an Schatten, die sich aus dem Horizont herausgeboren hatten und ich sah in der Ferne, jenen Hai meiner einstigen Zeit auf See wiederkehren; doch hatte er sich wieder zurück zu einem Baby entwickelt. Nichtsdestotrotz erkannte er mein Fleisch und den Geruch meines Blutes, was ihn veranlasste, näher zu kommen und kurzerhand in das Geschehen einzusteigen. Er bekam irgendwie ein Stück meines Fleisches ab und sogleich öffnete sich der Himmel und ich sah wohl Zeus und wie er versuchte seine Gemahlin Juno zurückzuhalten, doch sie stieg in rasendem Trieb in die Tiefe des Meeres hinab. Sogleich kam jener Hai, in der Größe hervor, in der ich ihn einst auf See verlassen hatte, die Winde drehten sich und alles ging in einem riesigen Sturm unter. Am folgenden Abend erwachte ich am Ufer der Stadt, es war dunkel und es gab kaum Licht; ich hatte zertrümmerte Glieder, mein Kopf war wie ausgewechselt und im wenigen Licht, sah ich vor mir eine blutige Spur, die sich vom Meer in die Stadt erstreckte. Ich hörte allerorts fremde Stimmen und sah Unmengen fremder Gesichter. Sie flüsterten sich hörbar zu, dass ein Hai gekommen sei und etwas geraubt hätte, just in dem Moment, als verzweifelte Rufe von Menschen, seitens der See, in die Stadt herüberzogen. Ich brach zusammen und wie ich wiedererwachte, sah ich vor mir eine Statue der Ino, die am Meer stand und um deren Fuße eine Hai lag; während darüber sowohl Sonne als auch Mond aufgingen und sich übereinander schoben. Ich ging daraufhin zum Strand zurück und ließ mich betäubt in das weite Meer fallen und trieb dort - während ich von Zeit zu Zeit immer einmal halbwach wieder zu mir kam – lange herum. Ab und an erwachte ich und blickte in die Wogen des Meeres, wobei ich den Hai halb reflektiert und halb im Wasser unter mir sah, daraufhin immer wieder unter betäubenden Schmerzen und Lärm des Meeres einschlief. Meine Glieder gefroren und schwer wie Blei, mein Kopf nicht mehr als eine eiserne Boje, die in ihrem rötlichem Rost in den Wellen trieb und die sich nur durch das ausgehöhlt scheinende Volumen irgendwie über Wasser zu halten vermochte.
Dies Treiben ging etwa ein gefühltes Jahr und ich meinte, immer öfter einen Unterschied zwischen meinem gespiegelten Gesicht im Meer und demjenigen zu verstehen, welches ich mit meinen Händen zu ertasten vermochte. Innerhalb meines Traumes im Traum traf ich auf Argus und erzählte ihm die Geschichte die sich ereignet hatte und je tiefer er indessen anfing in Schlaf zu verfallen, desto wacher wurde mein Körper, der leblos in der See umhertrieb. Schließlich begab es sich, dass ich die Io zu befreien erreichte und meinen Augen, ein helles Licht zwischen Meer und Horizont erschien, was Selbige für einen Moment erwärmten. Ich hörte sodann eine Stimme, die mir zuflüsterte, es sei nur ein feiner Unterschied, nur ein einzelner Buchstabe, der das Befreite und das dadurch Erhaltene, von dem Vergangen unterscheide und dieses, zu jenem, mache. Ich solle den Buchstaben finden und gleichzeitig etwas verlieren, um das Eine zum Anderen zu machen und zurückholen, was mir die See nahm.
Der Blick in den Himmel und die Stimme daraus, drang mir tief in die Eingeweide und ich goss den Ozean in einem langen Schlaf mit meinen Tränen voll, mein Atem glich sich dabei, den Silben und der Rhythmik des Namens <Niobe> an, woraufhin ich nach einiger Zeit wieder anfing zu schwimmen, um, nach einigen Zügen schließlich wieder hier im Bett aufzuwachen.“
Die Krankenschwester lächelte:
„Eine blühende Phantasie hat der junge Mann. Vielleicht schreiben sie das ja einmal auf. Ich hole inzwischen den Arzt, der kann Ihnen Genaueres zu ihrer Situation sagen. Auf ihrem Nachtisch liegt übrigens ein Brief.“
Quent blickte die Krankenschwester an. Sie war ihm der erste Mensch, den er je gesehen hatte. Bevor sie sich aufmachte, aus der Tür zu verschwinden, blickte er noch auf ihr Namensschild, welches sie an ihrer Kleidung trug, doch es war weniger ein bestimmter Name, der ihn interessierte, als der Umstand, dass ein Name überhaupt vorhanden war. Die Krankenschwester ging aus der Tür und überließ Quent, dem geräumigen Mehrbettzimmer, das gegenwärtig nicht weiter belegt war. Er fühlte sich noch ein wenig benommen, seine Glieder waren starr vom vielen liegen und die Sonne schien ihm direkt in das Gesicht.
Er blickte auf den Nachtisch und nahm den Brief in die Hand. Der Umschlag duftet nach Blumen, er hatte einen pastellfarbenen, lila Farbton und der Absender war eine Person, die sich mit den Kürzeln M.N. auswies und irgendwo aus dem Ausland kam. Das Briefpapier war dick und kräftig, es ließ sich kaum gefaltet aneinanderhalten, was auch dazu führte, dass die zwei gefalteten Briefseiten unmittelbar bestrebt waren, sich in ihrer Gänze zu entfalten, als sie denn einmal aus dem Umschlag gezogen waren. Die erste Seite wies in einer der oberen Ecken, eine bunte Markierung auf, die scheinbar per Hand gezeichnet war. Mit farbigen Bleistiften waren seine Flügel weiß und blau, mit Übergang in eine Art smaragdgrün, dass rote Punkte enthielt.
Er begann zu lesen:
„Hallo Quent,
wir haben schon lange nichts mehr voneinander gehört, doch ist mir im Zuge einer längeren Reise einiges klar geworden. Ich weiß nicht wie lange wir uns nun kennen und wie oft wir im Pendel der Zeit von hier nach da schlugen, stets im Bestreben einmal den einen Augenblick zu finden, indem die Uhr die passende Zeit verkünden würde. Vielleicht wartetest du immer nur? Der Augenblick war immer nur Warten, es war immer nur Hoffen und Eifern um bessere Tage. Sie trieben uns stets fort- und weiter fort, immer hin zu den besseren Tagen, die sicherlich kamen, aber doch niemals blieben. Wir bauten unsere Welt, um unsere Welt und darum unsere Welt, alles wuchs und verband sich. Wir fanden uns oft in einem Zweifel wieder, wobei dieser Zweifel nicht die Wahrheit zu suchen und zu finden bestrebt war, sondern es war Verwirklichung, die unsere Ursprünglichkeit dehnte und trennte, sie arg verdinglichte. Das Ruder wurde aus der Hand gegeben, an all das Umliegende, wir machten uns zu blinden Tänzern und gaben die Wahrheit in die Hände der Journalisten und Redakteuren, die sich um ihr Renommee fortan stritten und meinten, sie für sich vortanzen lassen zu können. Der Zweifel war der Motor jener Bewertungen, Tänze und fortgeführten Wahrheiten und irgendwann glaubt man wohl selbst daran, dass sich die Wahrheit in einem Kampf der Entscheidungen, Ansichten und Standpunkte zwischen richtig und falsch finden lassen könne. Wir tanzten und führten auf, wir fielen und standen auf, doch fanden wir und nie wirklich zusammen im Schritt, wo unser angestammter Platz war.
Was ich Dir zu sagen versuche ist, dass die Zeit des Trugs und des Zweifels vorbei sein soll, die Gedanken und die Schritte führen mich nur noch auf dich zu und der Rest meiner verbliebenden Kraft soll direkt zu dir führen. Lass uns das schwarze und trübe Wasser teilen uns die Kleider die wir gegenseitig schneiderten von unseren Körpern schleudern und den Fuß nicht länger zum Tanzen verwenden, sondern die Flügel zum Fliegen nutzen.
Martha.“
Zittriger Aufstand
Quent hob seine Beine an und gedachte aufzustehen. Sein Körpergefühl war intakt. Er setze eines seiner Beine langsam auf den Fußboden neben dem Bett, hielt einen Moment regungslos inne und setzte dann das andere Bein, das derweil noch angewinkelt auf dem weißen Bettlaken ruhte, behutsam nach. Seinen Oberkörper hob er daraufhin geradewegs in die Senkrechte, während die Beine das Gewicht mit zittrigen Bewegungen zu halten bestrebt waren, und, bis sich schließlich ein stabiler Zustand erhielt. Der Fußboden war außerordentlich kalt, doch störte es ihn gerade nicht weiter. Er ging langsam einige Schritte vorwärts und kam schließlich am Fenster an, öffnete es, um ein wenig frische Luft in das Zimmer einzulassen und atmete tief ein.
Die Sonne hell und warm; die Umgebung war ruhig. Nichtsdestotrotz lag etwas Bedrückendes in der Luft und auf einem Weg, der sich vor seinem Fenster befand, schleppten sich langsamen Schrittes, zwei Angestellte des Krankenhauses entlang. Vor ihnen rollte ein Berg Abfall her, den sie wohl gerade aus den umliegenden Eimern abgeholt hatten. Die Dinge liefen nur kraftlos voran. Quent erinnerte sich an die Zeit, bevor er das Bewusstsein verlor.
Kurzum ließ ihm ein Blick in sein Inneres erkennen, dass er, sich nicht länger zu kennen verstand und überdies fiel es ihm auch schwer, sich die Personen aus seinen Erinnerungen bekannt zu machen, beziehungsweise, diese als bekannt zu verinnerlichen. Sie alle waren verblasst und zum Teil eine Nachbildung; ein Pauschbild.
Zorn, Wut und Trauer stiegen in ihm auf, als ihm Gedanken kamen, man hätte ihm- gegen einen Willen-, zu irgendetwas gezwungen, ihn sprichwörtlich auseinandergenommen. Er setzte sich auf das Bett und raufte sich die Haare. Seine Augen fielen zur Hälfte zu, doch eine innere Unruhe hinderte ihn am Schlafen oder zumindest am Dösen; er fühlte Zerborstenheit, in Stücke zerteilt, allein und ohne Erinnerung.
So verharrte er in gedrungener Pose, bis sich nach einigen Minuten schließlich die Tür des Zimmers öffnete und ein in weißen Kittel gekleideter Mann eintrat, der sich als sein behandelnder Arzt vorstellte. Er sparte an Worten, was die Erklärung der vorangegangenen Geschehnisse betraf und meinte nur, Quent sei von einer Tram angefahren und hätte sich einige Tage in Bewusstlosigkeit befunden. Er wäre nun aber wieder intakt und solle mit viel Ruhe bald wieder gesunden. Auf die Fragen bezüglich der verlorenen Erinnerung verwies der Arzt auf weitere Untersuchungen und darauf, dass gegenwärtig aus medizinischer Sicht nichts ersichtlich sei; der Arzt bot an, einen hausinternen Psychotherapeuten zu ihm zu senden, was Quent nicht weiter kommentierte. Der Arzt ging daraufhin wieder fort und wenige Minuten später brachte die Krankenschwester, einige von Quents persönlichen Sachen, wozu auch Mobiltelefon und Notizbuch gehörten, wobei aus Letzterem, eine Vielzahl von Seiten gerissen waren. Er bat die freundliche Dame, um etwas zu trinken, und erkundigte sich, ob und wie er, den äußeren Parkbereich des Krankenhauses nutzen dürfe. Die Krankenschwester freute sich sichtlich über die Erkundigung und bat ihm zum Fenster. Dort erklärte sie ihrem Patienten mit wohlwollenden Worten, wohin sich der Parkbereich erstrecke, und wo ihrer Meinung nach die schönsten Bäume und Blumen seien, für die der Park, nicht nur bei den Besuchern, Patienten und Angestellten des Krankenhauses in einem hohen Ansehen stand, sondern auch gemeinhin in der Stadt, sehr geschätzt wurde. Mit aufgehellter Stimmung bedankte sich Quent bei der Schwester; diese verließ ihn sodann mit einem freundlichen Abschiedsgruß
Quent lächelte nunmehr zum ersten Mal seit seinem Erwachen und es war ihm dabei so, als müsse er seine Gesichtszüge und deren zu Grunde liegende Muskulatur, erst einmal wieder an solcherlei Bewegungen gewöhnen; doch umso eindringlicher, wichtiger, war ihm dieses Lächeln.
Er nahm das Mobiltelefon, sowie das Notizbuch und machte sich auf den Weg in den Park des Krankenhauses. Den Ausflug sollte er auch dazu nutzen, kurz bei seiner Schwester Min anzurufen.
Spurensuche
Quent ging etwa einen Kilometer, den Weg entlang, ohne die Umgebung besonders wahrzunehmen. Schließlich setze er sich auf eine nahegelegene Bank aus hellem Buchenholz, blickte dabei kurz auf, in den blauen Himmel, und öffnete das mitgeführte Notizbuch, dessen Blätter sich in weißen Einband fügten. Die erste Hälfte der Seiten war restlos herausgerissen und nur hier und da erkannte er, aufgrund der nicht gänzlich erfolgten Trennung jener einstig eingebundenen Seiten von ihrem Einband, ein Fragment des einstmaligen Inhaltes.
Er durchblätterte die Seiten lose und fand auf einer der letzten Seiten eine Zeichnung wieder, auf der sich ein Godzilla-ähnliches Wesen, eines Gebäudes annahm, das einen Schriftzug <Papst> aufwies. Das Gebäude war inmitten von kleineren Häusern einer Stadt gelegen und wirkte dabei wie ein allzu großer Klotz, der der Umgebung überzeugt -und ihrer Idylle verneinend- zu trotzen verstand; ferner, die Kraft seines Trotzes, aus der relativ mächtigen Bauweise erhielt.
Quent blätterte eine Seite weiter und fand auch hier etwas Herausgerissenes vor, wobei der zu einem guten Viertel noch vorhandene Seitenteil, ihm darauf schließen ließ, das die Zeichnung wohl in Art eines Daumenkinos fortgeführt wurde, oder aber zumindest in irgendeiner Form, vergleichbare Züge aufwies.
Etwa in der Mitte des Buches fand er einen Davidstern und auf den nachfolgenden Seiten, standen einige Sätze und Anmerkungen, von denen er nur ahnen konnte, dass sie in Verbindung mit jener Abbildungen standen.
Er las ein wenig:
„Endlose Weite - der Radius dessen woran und womit man glaubt ist nicht abhängig vom Umfang seiner Form“
und weiter:
„Das Kleine erhält sich durch die Nähe zum Ursprung“
und schließlich:
„Das rosa Miezekätzchen kehrt vergnüglich ein und der alte Muskelkater liegt bewegungsunfähig auf einem Stückchen Holz.“
Quent wunderte sich und er meinte, dass es einmal in direkter assoziativer Verbindung stand, doch ließ es sich nunmehr lediglich erahnen. Er schloss das Buch wieder, entschieden ein paar Schritte zu gehen und über ein etwaiges Gespräch mit dem Psychotherapeuten nachzudenken, denn es war überlegenswert, mit einer neutralen Person zu sprechen.
Bevor er von der Bank aufstand, blätterte er ein letztes Mal im Buch und sein Blick fiel auf eine Seite, auf der notiert stand, das er Schulden nicht beglichen hätte, um mit den noch zu begleichenden Kosten der Schulden, nur wieder neue Schulden anzuhäufen. Ein paar Schritte weitergehend, versuchte der Mann sich aus einem inneren Zwiegespräch zu befreien, das ihm zweierlei eingab; einerseits solle er möglichst schnell wieder auf die Beine kommen, um nicht dauerhaft zu erliegen, und andererseits, solle er sich, die erforderliche Zeit nehmen und nur das Notwendigste tun, bis er wiederhergestellt wäre.
Insekten und Vögel waren in Aufruhr, oder aber, er nahm sie nur so umtriebig wahr, weil er selbst so träge vorankam. Sie schwirrten wild um ihn herum, auf ihn zu und von ihm ab. Die Schnelligkeit und die Wendigkeit waren verblüffend und irgendwie beängstigend. Er empfand sich selbst schreckhaft und fast wie ein, in nächtlichem Treiben, gejagtes Jungtier, schutzlos selbst den winzigsten Insekten ausgeliefert.
Es war einmal
Quent schritt langsam vorwärts und wurde nach einiger Zeit von einer älteren Dame überholt, die ihren Rollator auf dem Weg fortschob und sich mit einem freundlichen Lächeln nicht zurückhielt, als sich merken ließ, das sie mit ihrer Gerätschaft schneller sei, als er zu Fuß.
Sie hielt inne und fragte ihn, ob sie eine Geschichte erzählen dürfe. Quent nickte und sie begann daraufhin zu erzählen:
„Es gab da einst einmal einen König, der von seinem Volk stets nahm was er wollte und ihm allerhand Versprechungen machte; dem Edelsten unter ihnen versprach er seine Tochter zur Heirat.
Das Volk war ihm ein riesiger Vorratsraum, als hätte er Anspruch auf jedwedes Ding; der Anspruch begründet sich ihm zufolge daraus, dass ein jeder in dem Königreich, in eben dieses hineingeboren war und es nicht abzulegen vermochte. Und so verhielt es sich, dass je mehr Gold erwirtschaftet wurde, desto größer wuchs der beanspruchte Anteil des Königs und je mehr er beanspruchte, umso stärker wurde die Gier, die er schließlich nur noch mit noch mehr Gier, zu kurieren versuchte. Der König suchte nebenher die Heiligen und die Weisen auf, um sich mit Worten zu kurieren und selbst selig zu sprechen, doch auch diese Worte waren ebenso genommen wie das Gold. Er nahm das Gold aus den Hoffnungen und den Leiden des Volkes und inhalierte seine eigene, eigens gedeutete, eingebildete Heiligkeit ein. Niemand im Volk bemerkte es, doch ein jeder tat es bald dem König gleich; sie orientierten sich an seinem Vorbild.
Da gab es diesen Jungen, der gab alles hin, sämtlichen Tand und alle seine weisen Worte. Der König sandte Jäger aus, denn er mochte jene Habe des Jungen besonders gern; jener lächelte nur und meinte er hätte, nichts, das es je wert wäre, zu behalten und alles was man ihm auch abnähme, lindere doch des Königs Leiden nicht.
Der Junge meinte weiter, dass seine Arme zwar in den Staat hineingeboren seien, aber das was hineingeboren sei, könne sich selbst abschneiden und so nahm er in einer Hand ein Messer und schnitt damit einen Arm ab. Daraufhin meinte er: Das was nun blute sei das Volk, das was schneide und trenne sei der König, dass was den König zum Schneiden und Teilen veranlasst, wäre sein Blut und das was abgetrennt im Schmutz liege, das sei der Junge. So schaffe sich aus etwas Einheitlichem, etwas Getrenntes, das doch in der Vorstellungswelt eins bleibt. Denn selbst abgetrennt, blieben die Dinge eins, solange die Vorstellung bestünde, dass etwas trennt und getrennt ist, hält selbst diese überbrückende Vorstellung die Dinge doch zusammen. Sein Leib, sei nicht mehr als ein Spiegel der Dinge, er fühle des Königs Regungen und des Volkes Verzweiflung und alles, sei nicht mehr als ein Staat in seinem Kopf, der sich einst aus einem Satz heraus gebildet hatte.
Was sei denn letztlich die Gier und was sei letztlich das Gold, oder was seien letztlich all die weisen Worte? Schließlich ist alles was man meint, dass sich ein König mit seinen Hofstaat und ein Volk teilt, eine einzige Vorstellung, die mit unzähligen Armen und Fingern um sich greift.
Der Junge fragte die Jäger, was denn wohl sei, wenn er jetzt auf der Stelle ginge und sein Arm dort liegen lasse. Sie zuckten daraufhin mit den Schultern und so ging der Junge davon.“
Die Dame endete ihrer Erzählung und schaute Quent mit ernster Miene an.
„Und wie alt ist diese Geschichte?“, fragte sie.
Quent war verdutzt.
„Keine Ahnung, ich bin nicht sehr gut im Schätzen“, meinte er.
„Na, wenn Sie schätzen, nicht sehr gut im Schätzen zu sein und diese Einschätzung, ihrer Schätzung nach zutrifft, dann schätzen sie sich doch richtig. Ist richtig etwa nicht gut?“
Quent lächelte. Die alte Dame hatte ihn aufs Korn genommen, was in Anbetracht seines Zustandes nur den Gegebenheiten entsprechen musste. Die Dame war in ihrem Betreiben ganz anderer Art, als die Äußerlichkeiten es gemeinhin vermuten ließen, und er fand sich, in seinem sich täuschenden Zustand, nur noch gewisser. Erkennend, dass sein Zustand davon geprägt war, Belehrungen zu erhalten, statt sie zu geben, oder über sie hinaus gehen zu können, erahnte er die Gefahr darin, sich den Belehrungen nicht anzuvertrauen und zu meinen, er wisse doch etwas besser.
„Und? Wie alt ist die Geschichte?“, fragte die Dame erneut.
„Keine Zeit dafür.“ Antwortete er abweisend.
Die alte Dame lächelte wieder, schob ihren Rollator an und wiederholte seine Worte ein paar Mal. Nach ein paar Schritten blieb sie aber stehen.
„Die Geschichte hat sich aber auch ohne Zeit nicht zu Ende erzählt. Mag der Herr wissen wie sie weitergeht?“
Quent zuckte gleichgültig die Schultern und die Dame begann noch einmal:
„Nachdem der Junge mit seinem einem Arm nun des Weges weiterzog, traf er auf den Vetter des Königs, der mit angesehen hatte, was zuvor geschah. Er meinte zum Jungen, wenn, wie er sage, alles eins sei, dann sei alles eine gemeinsame Geschichte und ein jeder trägt Teile dazu bei. Der König mag sich krankhaft zeigen, aber läge dies nicht im Wesen, eines, für Gesundheit- sorgenden Staatstreibenden? Ferner, sorge er für die Erheiterung des Volkes und versuche den Wünschen zu genügen, er ließe sich in Zeiten der Klagen für die Dinge schelten und als krank beschimpfen, er nimmt nur wieder jene Dinge auf sich, die er in anderen Zeiten gibt.
Er spielt den Teil des Gönners und den Teil des Missgönnens, stets auf eine Weise wie man es wünscht. In Zeiten des Überflusses höre man keine Klagen und die Dinge gehen dahin, sie verweben sich miteinander und fügen sich zum Guten und zum Schlechten; doch wird der Überfluss erst einmal überflüssig und kehrt sich in sein Gegenteil, so blicken ihn die Dinge, mitsamt seines Reichtums, an und erfinden allerlei Geschichten. Es ist die Gesamtheit die sich abbildet und der Verlust deines Armes ist nicht mehr als ein weiterer Standpunkt zum König selbst. Der Junge hörte zu und fragte was es zu ändern vermöge, an dem wie es sei, woraufhin der Vetter antwortete: ´Nichts.´
Daraufhin sagte der Junge, es sei an jedem selbst, zu glauben was er vermöge, doch am Zopf der Gemeinheit zöge sich stets ein gemeinsamer Satz entlang; meine man den König auch noch so gütlich und edelmütig im Tragen einer Last, oder einer Aufnahme von Verfehlungen seiner Schützlinge im Staat, so basiere dieses Verständnis auch nur darauf, dass jeder ihm ergeben sei. Die Trennung seines Armes spräche für sich… als etwas Widerstrebendes.“
So endete die Frau ihre Erzählung und fragte Quent, was er wohl meine, was im Anschluss der Begegnung, zwischen dem Jungen und dem Vetter des Königs, geschehen sei. Der Mann fand keine Antwort und gestikulierte mit einer ahnungslosen Gebärde, die seine Hände anhob, dabei leere Handflächen zeigte, während sein Gesicht, regungslos, mit halbgeschlossenen Augen, zu der Frau blickte.
Diese meinte, den letzten Teil der Geschichte zu erzählen, wenn Quent einen kurzen Weg mit ihr ginge, denn der Ort an dem ihre Erzählung zu enden hatte, befand sich einige hundert Meter weiter. Quent begleitete die Dame und während sie eine orientalische Melodie pfiff, die ihm in gewisser Art und Weise bekannt vorkam, ohne dass er sich genau zu erinnern verstand. Der Weg führte sie durch eine Allee voller japanischer Kirschbäume, deren rosa Blütenpracht, in großen Ästen, fortführte. Die Frau zeigte auf einen Teich, der sich nicht unweit des Weges befand, meinte, hier hätte es schließlich begonnen oder geendet, wie man es nun auch verstehen mochte, und er solle nun zuhören.
Die alte Dame schwieg.
„Und?“, fragte Quent nach einiger Zeit.
„Und was?“, fragte die Frau.
„Wie ging es weiter? Wie hat es angefangen?“
„Gar nicht, oder?“
Die Frau ging regungslos fort. Quent schüttelte mit dem Kopf und fragte sich, ob er verrückt geworden war. Nach einer Weile schaute er gedankenverloren in den Himmel und machte sich auf den Weg zurück zu seinem Zimmer.
Auf dem Weg nach oben
Quent war auf dem Flur zu seinem Zimmer angekommen, als der behandelnde Arzt ihn ansprach und meinte, Quent könne eben einmal zu dem Therapeuten der Station hinauf gehen und ein Gespräch führen, man würde ihn erwarten. Der Arzt gab ihm daraufhin Zimmernummer und Durchwahl seines Kollegen und meinte, er solle den Therapeuten doch zumindest kurz anrufen, falls es ihm gerade nicht passe.
Quent empfand, das er gerade wenig zu tun hatte und entschied daraufhin, dass ihm das Gespräch wohl guttun könne, oder zumindest nicht schaden würde. Er dankte dem Arzt höflich und machte sich auf den Weg in die oberen Stockwerke des Gebäudes, in dem der Therapeut sein Arbeitszimmer haben sollte.
Quent nahm den Fahrstuhl und gelangte schließlich an die Tür des Zimmers, welche der Arzt ihn gewiesen hatte. Der Mann klopfte und wurde umgehend mit einem „Herein“ zum Eintritt gebeten. Im Zimmer erblickte er eine beleibte Gestalt mit Bart, die freundlich blickte und den Gast umgehend anbot, einen Sitzplatz einzunehmen, während sie sich im nahezu selben Atemzug, darin versicherte, ob es sich denn um jenen Patienten, mit Vornamen Quent, handele, von dem man ihn berichtet hatte.
Quent bestätigte seine Person und setze sich auf einen freien Stuhl.
„Mein Name ist Sojo. Lassen wir ruhig das duzen zu“, sagte der Therapeut. Quent nickte.
„Also ich habe schon Einiges aus der Patientenakte. Wie fühlst Du dich hier und jetzt?“
Quent dachte nicht lange nach:
„Körperlich schlapp und müde; der Kopf oft schwer. Ein wenig in der Luft hängend, irgendwie heimatlos, umgeben von unzähligen Eindrücken und ohne einen Ort, an dem man bei sich einkehren kann. Die Gedanken rasen oftmals in irgendwelche Richtungen.“
„Sonst nichts?“, fragte der Therapeut.
Quent überlegt, schüttelte den Kopf und wollte gerade ansetzen, etwas zu sagen, als sein Gegenüber ihm zuvorkam:
„Na, dann kannst Du wieder gehen.“
Verdutzt schaute der vermeintliche Patient drein. Es hatte ihm die Sprache verschlagen.
Sojo stand auf und machte sich an einem Wandkalender zu schaffen. Nach einigen Augenblicken drehte er sich abermals zu Quent, der wie angewachsen dasaß und fragte, ob alles in Ordnung wäre. Quent bejahte, stand auf und ging aus der Tür.
Der Flur dieses Bereiches roch weniger steril als die unteren Bereiche des Gebäudes; und der Fußbodenbelag war noch nicht viel befahren oder begangen, was sich durch die spiegelnde Ebenheit erkennen ließ. Quent ging langsamen Schrittes zum Fahrstuhl, trat in diesen ein und betätigte den Knopf jener Ziffer, auf dessen zugehöriger Etage sich sein Krankenzimmer befand. Mit monotonen Geräuschen setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung und machte nach etwa drei weiteren Stockwerken halt, um seine Türen für zwei Krankenpfleger zu öffnen, die sich als solche anhand ihres Kittels und ihres daran befestigtes Kärtchen zu erkennen gaben.
Einer der Krankenpfleger war einen Kopf größer, er trug dunklen Vollbart, in welchen er sich räusperte, bevor er sich kurz umblickte, danach zu seinem Kollegen drehte und ein Gespräch begann.
„Hast Du heute Mittag schon was vor? Ich meine wollen wir was zusammen essen gehen?“
„Wenn wir uns beeilen, habe einen Termin kurz nach der Pause. Und wenn wir nicht vorbestellen, können wir es eh vergessen.“
Der bärtige Mann schwieg daraufhin und der andere, mit seinen langen blonden Haaren, blickte ihn danach eine Weile erwartungsvoll an, bevor er noch einmal nachzufragen begann.
„Und?“
„Und was?“
„Gehen wir?“
„Keine Ahnung, kann mich nicht entscheiden ob dein Drängen, anspornend oder hindernd ist, also lässt sich dazu eben nichts sagen.“
Die beiden schwiegen fürs Erste und der Bärtige fuhr erst nach einer gewissen Zeit fort:
„Entweder wir machen es einfach, um der Sache willen, weil wie es gemeinsam tun, oder eben nicht. Ich bin ein einfacher Mensch.“
„Ich habe doch nur gesagt was mir möglich ist. Ist doch normal oder nicht?“
„Was ist schon normal. Kann für dich ja normal sein, kann auch für mich normal sein. Muss aber nicht.“
„Und wie sollten wir uns sonst verständigen? Ich meine wir haben doch nur die Worte?“
„Wir verständigen uns doch.“
„Und um was soll es gehen?“
„Das fragst Du? Du hast doch die Frage gestellt? Wenn man eine Frage stellt und selbst nicht weiß worum es gehen soll, wie würdest du das nennen?“
„Sowas wie Verwirrung?“
„Da siehst Du, was klar ausgedrückt scheinende Worte eben mit der Sache machen um die es geht.“
„Aber worum geht es?“
„Es kann darum gehen gemeinsam etwas zu tun, Zeit zu verbringen, sie einfach laufen zu lassen, als gäbe es nur den Augenblick, als gäbe es nur uns, die Empfindung und den Geschmack des Augenblickes, oder es kann in der Verwirrung, darum gehen, möglichst schnell etwas zu tun, zu organisieren, etwas abzufrühstücken, etwas einzunehmen oder etwas zu erlangen und so weiter und sich dabei an unzählig viele Nebensächlichkeiten und Kleinigkeiten zu verlieren. Es gibt kein objektives richtig und falsch, aber es gibt etwas das zumindest niemals falsch sein kann.“
„Vielleicht kannst Du mir das ja noch einmal beim Mittagessen erklären? Also?“
„Na klar“, antwortete der Bärtige schließlich und beide lachten auf ähnliche Weise, indem sie ihre Schultern auf und ab bewegten und dabei nach Luft schnappten.
Einstieg und Ausstieg
Die Fahrt im Fahrstuhl dauerte derweil an, denn es ergab sich, dass auf nahezu jeder Etage des Gebäudes, Personen zustiegen oder sich zum Aussteigen bequemten. Es lag in der Gesetzmäßigkeit von Fahrstuhlfahrten, dass je mehr Menschen einstigen, desto mehr Menschen mussten auch wieder aussteigen. Die Fahrstuhlfahrt hatte ihren beständigen Charakter, eben in dem Durchgang und dem Befördern.
Zudem definierte sich die Position des Einstieges, oder aber des Ausstieges, immer nur relativ darüber, von woher sie kamen, beziehungsweise, wohin sie zu fahren gedachten. Es gab im Fahrstuhl keinerlei Beständigkeit als solche; außer eben dem Transport der Leiber, die sich mit Vorstellungen, Plänen, Vorhaben und derlei füllten. Im Fahrstuhl kamen die Dinge immer wieder an; aus ihm gingen die Dinge immer wieder heraus, beziehungsweise hervor; der Fahrstuhl war der verbindende und ermöglichende Mechanismus, mit denen sich Menschen im Gebäude verbanden.
Im Vergleich mit den Dingen der Welt, ob nun Unternehmen, Partnerschaften oder derlei, lag in jenem Verständnis des Fahrstuhles, auch die Erklärung dafür, dass sich Beständigkeit durch Nutzung der Unbeständigkeit eines Ein- und Ausstieges, sowie ihrer relativen Wege, ergab. Etwas, das sich im Leben aufbaute, baute sich eben nur auf, damit es sich für eine gewisse Zeit weiter aufbaue, beziehungsweise, sich relativ gesehen nach oben befördere, oder aber zurückbaue, beziehungsweise, relativ nach unten bewege, um sich entweder wieder aufzubauen, oder aber, inmitten der möglichen Etagen, sich zu etwas Neuen zu entwickeln. Die Einbildung, dass etwas zum Bestand geschaffen war und derart gelebt werden konnte, sei vielleicht nur aufrecht zu erhalten, indem man es verstehe, die richtigen Knöpfe drücken zu lassen und es relativ gesehen, nicht so betrachtet, als würde das Eine sich durch das Andere beenden.
Nach langem aus und ein, stieg Quent schließlich aus dem Fahrstuhl heraus und gelangte auf einen Flur, auf dem sich reges Treiben zeigte. Die Mittagszeit hatte sowohl die Patienten, als auch die Pfleger, vom ansonsten sehr unbewegten Alltag, in Geschäftigkeit versetzt und ließ sie über Gänge und durch Zimmer huschen. Es schien vergnüglich zuzugehen und man scherzte hier und dort miteinander, was den Eindruck des Treibens bekräftigte.
Die Worte und Töne befanden sich alle gemeinsam, auf einer Welle.
„Es ist alles nur ein Zustand des Bewusstseins“, schallte es nun aus einem Zimmer, dessen Tür offenstand.
„Alles ein Zustand des Bewusstseins“, wiederholte es sich.
„Hey Du, komm mal“, folgte es.
Quent blickt in das Zimmer und sah einen Mann, in einem Stuhl sitzend, der vor sich eine bunte Lektüre ausgebreitet hatte, in der er mit einer Hand hin und her blätterte, während er mit der anderen Hand in das Zimmer zu winkte.
„Ja…Du, komm mal her“, sagte er nun in direktem Augenkontakt zu Quent.
Quent blieb einen Moment auf der Türschwelle stehen, schaute in den Raum, beobachtete den Mann, wie er blätterte und fortan unablässig weiter winkte, als würde er Quent auf diese Weise physisch bewegen können.
Quent trat in das Zimmer ein. Ein Fenster des Raumes war geöffnete und ließ frische Luft hinein, die im Übrigen leicht von einem Parfüm geschwängert war.
„Setz Dich, komm schon“, bat der Mann, der nun einen leicht französischen Akzent in seiner Sprache verstehen ließ. Der Teint des Mannes zeigte sich dunkel, was den Eindruck seiner weißen Zähne und der weißen Lederhaut seines Auges nur hervorhob. Quent empfand für einen kurzen Moment, einen herzlichen Impuls, den er aber nicht vollumfänglich einzuordnen verstand und der beim Versuch des Verstehenwollens, schließlich wieder verschwand. Er setzte sich auf den Stuhl und blickte in die Zeitschrift.
„So viel Menschen auf den Bildern, schau mal wie glücklich. Das Königspaar hier ist frisch verheiratet und plant Nachwuchs, weißt Du?“
Quent lächelte und zuckte mit den Schultern.
„Hey komm schon, falls du einen Grund zur Freude brauchst,… das ist einer.“
Der Mann legte die Zeitschrift beiseite und holte eine Fotografie aus seiner Tasche und schob sie über den Tisch.
„Hier schau. Eine Frau.“
„Hübsch“, meinte Quent.
„Hübsch? Nicht so reserviert mein Freund… mir kannst du dich mitteilen.“
„Mitteilen?“, fragte Quent.
„Ja, Mitteilen. Miteinander etwas teilen. Nicht bloß palavern. Wir beide, du und ich…wir sind jetzt Dandy mein Freund. Spürst Du es?“
Quent empfand ein Antrieb im Ausdruck des Mannes, der ihn zu etwas zu bewegen, Bestrebung verschaffte. Er verstand nicht genau was, wohin oder wie und ließ für das Erste auch von weiteren Gedanken diesbezüglich ab und blickte erneut auf die vor ihm liegende Fotografie. Die dort abgebildete Frau trug eine rosafarbene Rosenblüte in ihrem langen braunen Haar und blickte geradewegs aus dem Bild heraus und auf den Betrachter. Ihr Mund war von vollen Lippen umgeben, die natürlich gebildet, eine ein wenig geöffnete Form beschrieben und den Eindruck vermittelten, dass sie entspannt sei.
„Ihre Frau?“, fragte Quent.
„Ach, mein Freund, wie kann man behaupten, das so etwas Schönes einem gehöre? Lass die Fragerei von deins und meins. Nimm dir von der Welt was du meinst, dass es wert sei und für dein Leben bestimmt und mach es wahr. Nimm es Dir mir aller Kraft und im Auftrieb der Dinge die dir entgegenwehen. Lass alles andere Beiseite und richte einen Fokus auf jenes, ohne dabei das Umfassende aus dem Wesen zu verlieren, ohne dich in der Weite des Umfassenden aufzulösen. Dann bilden sich zwischen dem Fokus und dem Umfassenden, alle möglichen Farben, ohne das du dich hier oder dort verlierst.“
„Und dann habe ich auch so ein Foto?“, fragte Quent.
„Dann hast du alles was Du magst.“
„Etwas zu bewahren ist eine Sache, aber wie die Kraft aufbringen, es auch zu wirken?“
„Alles beginnt im Bewusstsein mein Freund. Dort findest Du Zustände, die sich einkehren und auskehren, sich umschlingen, sich niederdrücken und sich hochhalten. Auch dort gilt wohl, etwaige widerstrebende Teile zu kennen verhindert ihnen zu unterliegen und man lernt durch glückliche Umstände und Fügungen, denen man fortwährend verbunden bleibt, oder durch eine hinreichend lange Zeit an Niederlagen. Egal wie du es lernst, las dich nicht abbringen - die Fähigkeit zu bewahren hilft Dir dabei- und so getan, entwickelt sich daraus schließlich die Kraft zum Wirken. Und dort angekommen, vergisst Du hoffentlich alle gegangenen Wege und lebst dort wo du stehst.“
Wenn Du magst, erzähle ich dir vier kurze Eindrücke, die alles verschiedene Begebenheiten zu sein scheinen, die aber doch eine Gemeinsamkeit aufweisen, die Du mir bitte versuchst zu beantworten, nachdem ich sie dir geschildert habe. Einverstanden?
Quent nickte zögernd.
„Also, die erste Impression ist, dass eine Dame in einem Kornfeld steht, während die Ähren ihre Oberschenkel im Wind sanft streifen, die Ähren sind teils hellgrün und an manchen Stellen bereits goldgelb. Sie steht dort barfuß auf der Erde und hat all ihre Kleidern von sich geworfen, die nun durch den Wind verstreut, auf dem gesamten Feld verteilt sind. Sie kümmert sich nicht darum sie wiederzufinden und lauscht nur wie der Wind durch das Feld fährt. Ihr Freund steht neben ihr und nimmt Gipsabdrücke von ihrem Körper. Er ist Künstler und versucht, dass was ihm am liebsten und Bedeutsamsten in der Welt ist, an die Welt zurückzugeben. Vor ihm befindet sich eine Schale mit Wasser, welches sich in der Sonne aufgewärmt hat und er taucht Binde für Binde ein und legt sie auf den Körper seiner Freundin auf. Brüste und Taille sind wohlgeformt und die warmen Gipsbinden schmiegen sich um ihren Leib, während ihr Atem den Körper sanft bewegt. Ihre Arme sind weit ausgebreitet und ihr Kopf liegt seitlich, auf einem ihrer Schultern auf und neigt sich ein wenig schräg, in Richtung ihrer Brust.
Die zweite Impression ist, dass eine Gruppe von Damen im Süßwarengeschäft verschiedene Törtchen und Biskuit- Spezialitäten probieren. Sie saugen und kauen jedes Streusel und jeden Krümel, als wäre er ein ganzer Kuchen und ihre Hände fassen mit ihren zarten und schlanken Fingern, das Gebäck mal hier mal dort und tanzen förmlich um die Form. Ein Dichter sitzt an einem Tisch in der Nähe und beobachtet das Geschehen, während sein Herz klopft und ihm eine Träne aus dem Auge rinnt, weil er den Anblick schön empfindet. Er spürt sich an der Stelle, wo die Finger der Damen die Törtchen befassen, fließt mit seinem Empfinden in Beides ein, ohne sich hier oder dort aufzuhalten und meint sich schließlich mit dem Geschmack zu verbinden, den die Damen mit ihren Zungen und ihren Gaumen sich zu verschaffen vermögen. Die Hände des Dichters sind zittrig und der Versuch Worte zu finden, vertriebe sein Gefühl und so legt er seinen Bleistift mit der Miene einfach nur auf das Papier auf und schaut zu.
Die dritte Impression besteht aus zwei Damen, die im Theater eine Szene darstellen. Ihre Gesichter und die dazugehörigen Mienen lassen etwas Geheimnisvolles erkennen und ihre Augen scheinen so tief wie das Universum. Ihre Körper sind zart und bewegen sich auf eine sehr behutsame Art und Weise, die als ebenso magisch zu beschreiben sei, wie das Wesen ihrer Gesichter ist. Die Fortbewegung ihrer Körper scheint sich irgendwo zwischen einem erhabenem Tanz und einem Schweben aufzuhalten. Ihre Körper scheinen fruchtbar und eine der Damen trägt einen runden Bauch mit sich, der auf eine Schwangerschaft hindeuten ließe. Die Gespielin der Schwangeren legt ihre Hände auf den Bauch auf und verharrt zu Knien, während sich einer ihrer Nasenflügel über den Bauch schmiegt und sich ihre Augen schließen. Ihre Hände kreisen um den Bauch auf und ab, vor und zurück und ihr Atem beschleunigt sich und bringt ein sinnliches Aufstöhnen hervor. Jene, dessen Bauch die Wölbung trägt, legt ihre Hände nun auf den Kopf der Knieenden auf und fährt ihr gleichmäßig, durch glänzend dunkelbraunen Haare, die lang und natürlich um ihrem Kopf, über ihren Hals hinweg, auf ihrem Rücken aufliegen.
Die vierte Impression beschreibt sich mit einem Paar, das durch die Gassen eines mediterranen Städtchens schlendert, während es von einer Dame und einem Mann beobachtet wird, die ihrerseits unabhängig voneinander auf der Dachterrasse ihrer Wohnung stehen und in den Abendhimmel blicken. Das Paar, das mit ihren Füßen auf den Straßen geht, erscheint den Beobachtern vom Erscheinungsbild her ungleich, wobei sich aber eine Verbindung der Beiden empfände, die weit und tief in etwas zurückreicht. So entsteht auch der Eindruck, als wäre einer der Beiden aus der Zeit gefallen, während der andere sich fortentwickelt hätte. Doch ungeachtet dieser zeitlichen Ungleichmäßigkeit, befinden sich beide zusammen und gemeinsam in einem Raum und auf einem Weg. Aus ihnen scheint ein Verlangen und ein Streben herauszuscheinen, die Zeit zu überbrücken, sie füreinander anzugleichen. Die beiden Beobachter, wie gesagt, eine Dame und ein Mann, sinken jeweils in den gleichgeschlechtlichen Teil jener Person aus dem beobachteten Paar ein, und verkörpern das Leben dieser als wäre es ihr eigenes. Und als das Paar schließlich in den Gängen der Gassen aus dem Sichtfeld gerät, haben beide Beobachter das Empfinden in der geschlossenen Verbindung fortzuexistieren und gehen in ihre Wohnung mit einem Empfinden von Geborgenheit zurück.“
„So das waren die vier Eindrücke, was meinst Du?“, fragte der Mann.
Quent musste sich ahnungslos zeigen; zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung. Hat alles etwas mit Hingabe zu tun.“
„Und Liebe“, sagte der Mann nun und es ließ sich nun deutlicher eine französische Nuance in der Sprache vernehmen.
„Liebe und Dankbarkeit sei die Grundlage jeder Empfindung. So ist es die erste und einzige Sache, die grundlegende Liebe und die Dankbarkeit zu verstehen, sie von den fremden wesenlosen Orten abzuschneiden und in der eigenen Muttererde zu erhalten, auf das sich die Dinge natürlich fortergeben; und dafür hätte man alles was sich im Bewusstsein und im Leben widerstrebend erweise zu klären und abzulegen. Alles was sich nicht aus jener Erde zu erhalten und zu erwachsen fähig scheint, wäre loszulassen, selbst wenn es nun Besitz, Familie und vermeintliche Heimat oder sonstige Vorstellung eines Lebens sei. Der Weg zurück zu den wirklichen Wurzeln kann lange dauern und auf dem Weg zahlt man jedes Ding, welches einem einst auf jenem Weg nur fortzuhelfen oder fortzudrücken verstand mit den restlichen, vermeintlichen Blüten zurück.“
Der Mann räusperte sich.
„Warum sagen Sie mir das?“, fragte Quent.
„Warum fragst Du mich das? Bleib bei Dir selbst und mache dein Selbst nicht zur Suche nach Dir selbst.“
Quent blickte den Mann verwundert an.
So und jetzt entschuldige mich bitte, ich habe noch einige Postkarten zu schreiben. Komm doch einmal wieder, wenn Du magst.“
Der Mann holte nun eine Tüte hervor, nahm daraus eine Postkarte und begann zu schreiben. Quent blieb noch einen Augenblick sitzen, erhob sich und verließ den Raum in Richtung des Zimmers, in dem sich sein Bett befand. Seit seinem morgendlichen Aufwachen hatte er nun schon viele Dinge gehört und vernommen und ihm konnte sehr wohl nach Schlaf sein. Die letzte Begegnung hatte ihm sprichwörtlich <den Rest gegeben>. In seinem Zimmer angekommen, zog er die Vorhänge zusammen, legte sich auf das Bett und es vergingen kaum einige Minuten, bis er sich schlafend fand.
Ruhe ruhig
Quent fand sich in einem Traum wieder und sah, wie seine Schwester, mit einer Freundin in natürlicher Umgebung saß und sich unterhielt. Die beiden lachten und weinten, sie lagen sich in den Armen und tanzten. Durch Rapsfelder und an Kirschbäumen vorbei, durchquerte seine Schwester die Natur. Durch Städte und Dörfer, vorbei an Felder und Wälder sah er, sie fahren. Er sah seine Mutter etwas verbrennen und Tränen. Schließlich stand seine Schwester auf einer Brücke und schaute nach unten in einen Fluss. Sein Traum verschwamm im Wasser unter ihr und ein Licht kam ihm näher. Im verblassenden Umriss seines Traumes sah er, wie Min das Krankenhaus, und schließlich eines der Zimmer betrat. Eine Krankenschwester stand ihr bei. Da lag Quent, regungslos, aufgebahrt in einem der Betten.
„Wie geht es ihm?“, fragte Min die Krankenschwester.
„Seit gestern liegt er im Koma. Wann, und ob er wieder aufwacht, wissen die Ärzte nicht.“
„Aber…“
„Es tut mir leid.“
Aus der Ecke trat ein junger Mann hervor. Min nahm ihn zuerst nur beiläufig wahr, empfand nach einigen Sekunden jedoch stärkere Verwunderung darüber, was diese Gestalt, im Krankenzimmer ihres Bruders mache. Jener kam nun auf sie zu.
„Hallo Min. Ich bin Adam…dein… Halbbruder…“
„Aber…“
Ende
Anmerkung von S4SCH4:
Kurzbeschreibung:
Ein Familiengeschehen. Zwei Freundinnen fahren zu einem verunglückten Bruder. Sie treffen Leute die ihnen Geschichten erzählen, erzählen selbst welche und träumen. Ein fortwährender Zwist der Gemüter, welchen man versucht zu entrinnen; ist es möglich oder bleibt dies nur ein Traum? Die Geschichte wirft viele Fragen auf und zeigt nicht immer passende Wege. Ist man zu zweit vollkommender als allein?