Schönau, Peter:

Schimären

SCHIMÄREN
 
Es war der letzte Sonntag vor den Wahlen. Ich hatte meine Predigt unter das Motto der Sintflut gestellt.“
 
AUS „SCHIMÄREN“ – EIN POSTAPOKALYPTISCHER ROMAN VON PETER SCHÖNAU – GESCHRIEBEN VOR DEN WAHLEN ZUM BUNDESTAG
 
„Heute war mein wöchentliches Stelldichein mit Louise vorgesehen. Hätte sich daran etwas geändert, würde sie mich informiert haben. Also nahm ich kurz bevor ich das Haus verließ, noch ein Bad, salbte mich mit wohlriechenden Tinkturen und ging zu Louise. Zu Fuß, denn es war nur ein kurzer Weg von nicht mehr als gut zehn Minuten. Louise bewohnte eine Doppelhaushälfte am Rande des Zentrums. Die andere Hälfte bewohnte eine alte Frau, die ich schon unter den Teilnehmern meiner Gottesdienste erkannt hatte. Sie war schwerhörig und setzte sich deswegen immer in eine der vorderen Bankreihen. Sie ging früh zu Bett, und auch heute Abend waren die Fenster ihrer Wohnung bereits nicht mehr erleuchtet. Louise öffnete auf mein Klingeln. Im Wohnzimmer hatte sie schon alles vorbreitet. Etwas Gebäck stand in einer Schale auf dem Tisch, flankiert von zwei Weingläsern und einer Flasche Nero d’Avola.
Wir küssten uns auf den Mund. Louise trug schon ihren Schlafrock, der auf einen normalen Besucher sicher zu offenherzig gewirkt hätte. Aber ich war diesen Anblick gewohnt, konnte mich jedoch immer noch am Anblick ihrer spitzen Brüste und der Schenkel, den die gerade dort ansetzenden keilförmigen Einschnitte ihres Schlafrocks freigaben, ergötzen.
Louise schenkte die Gläser voll.
„Ich werde per Brief wählen,“ sagte sie unvermittelt.
„Und darf ich fragen wen?“
„Du darfst, aber das fällt unter das Wahlgeheimnis.“
„Ich dachte, wir hätten keine Geheimnisse voreinander.“
„Alle Menschen haben voreinander Geheimnisse. Nur nicht vor Gott.“
„Dann schlage ich vor, du kommst zu mir in den Beichtstuhl und befreist dich von dieser Last.“
Sie lachte.
„Soweit muss es nicht kommen. Ich werde die Kandidaten vom „Volksbund“ wählen.“
„Das dachte ich mir“, sagte ich.
Wir stießen mit unseren Gläsern an.
„Das ist doch in deinem Sinne,“ sagte sie als sie ihr Glas absetzte.
„Das stimmt, aber deswegen musst du nicht den „Volksbund“ wählen.“
„Oh doch, denn ich tue es auch aus Überzeugung.“
„Umso besser“, entgegnete ich trocken.
„So wie ich auch aus Überzeugung mit einem Priester ins Bett gehe.“
„Ich bin nur ein Priester und kein Hohepriester“, konterte ich. Da gelten andere Maßstäbe.“
„Für das Vertrauen der Bevölkerung in die Religion und die Kirche will ich das hoffen.“
Der Abend verlief wie alle derartigen Abende vorher. Wir fielen auf das Bett, verkeilten uns ineinander, entwirrten uns, massierten unsere empfindlichsten Stellen und tranken nach dem Abklingen der ersten Erregung die Flasche Wein leer.
 
Es war der letzte Sonntag vor den Wahlen. Ich hatte meine Predigt unter das Motto der Sintflut gestellt.“
In meiner Predigt erklärte ich den Zusammenhang zwischen der Arche Noah, mit der Gott das Überleben der Menschheit ermöglichte, und deren heutiger Situation mit folgenden Worten: „Es gibt keine Arche Noah mehr – Wir sitzen alle im gleichen Boot. Was will ich damit sagen?
Irgendwann taten die Menschen Gott leid. In der Bibel steht dazu:
Da dachte Gott an Noah und an alles wilde Getier und an alles Vieh, das mit ihm in der Arche war, und Gott ließ Wind auf Erden kommen, und die Wasser fielen. Und die Brunnen der Tiefe wurden verstopft samt den Fenstern des Himmels, und dem Regen vom Himmel wurde gewehrt. Da verliefen sich die Wasser von der Erde und nahmen immer mehr ab nach hundertfünfzig Tagen. Am siebzehnten Tag des siebenten Monats setzte die Arche auf dem Gebirge Ararat auf.“
Dieses menschelnde Mitgefühl Gottes fehlt uns heute. Wir werden keine zweite Chance erhalten. Wir müssen uns, wie Münchhausen, am eigenen Zopf aus dem Sumpf ziehen. Unser Überleben hängt von unseren eigenen Bemühungen ab. Gott wird uns dabei höchstens wohlwollend zusehen. Mehr können wir von ihm nicht erwarten. Die Wahlen des nächsten Wochenendes werden in diesem Sinne eine Weichenstellung sein. Ob sie zum Überleben der Menschheit ihren Beitrag leisten, wird nicht so sehr von ihrem Ausgang abhängen, sondern vom Willen der Gewinner und Verlierer, als Komplementäre des gleichen Ziels zu wirken: Den Fortbestand einer Welt wie wir sie kennen.
 
Der neue Mensch: Die Affe-Mensch-Chimären – wer ihn mit einem Nasenspray zu verhindern sucht und Im Ergebnis die Selbstzerstörung der Menschheit hervorruft.
Wir sind im Leben auf der Suche, oft jagen wir dabei Schimären nach. Aber manchmal verwandelt sich eine Schimäre in etwas Reales.
 
Die Erzählung hat zwei Protagonisten: Ich und Er, die einen (Fern)dialog führen.
 
Niemand konnte genau sagen, wann die Pandemie begonnen hatte, aber allen erschien sie endlos zu sein. Jeder bisher verwendete Impfstoff war früher oder später von immer neuen Virusmutanten eingeholt worden, die die Impfstoffe irgendwann wirkungslos machten. Deswegen hatte die Wissenschaft beschlossen, das Übel an der Wurzel zu packen und einen neuen Menschen zu erschaffen. Welches Gewicht hatten ethische Bedenken dagegen, wenn es um das Überleben der Rasse ging?
 
Die Lösung: Affe-Mensch-Chimären
In Labors wurden einige Tage nach der Befruchtung einer Affenleihmutter menschliche Stammzellen in Blastozysten, frühe Stadien der Affenembryos, injiziert, um so lebende Wesen zu zeugen. Nach vielen Rückschlägen wurden diese Stammzellen in von den Affenembryos angenommen. Es gab eindeutige Hinweise auf Interaktionen der menschlichen und der Affenzellen miteinander. Das Ergebnis war die Geburt eines Mischwesens, das äußerlich menschliche und tierische Merkmale vereinte, aber im Wesentlichen dem Homo Sapiens glich, abgesehen von seinen extrem breiten Schultern und seinem stark gewölbten Brustkorb. Auch das Gesicht, Haaransatz, Ohren, Backenknochen, Nase und Augenpartie hatte eine nicht zu übersehende Ähnlichkeit mit seiner leiblichen Mutter, einem Chimpansenweibchen
 
Bisher war die Evolution als Entwicklungsfortschritt per se interpretiert worden. Dass Evolution auch Rückschritt bedeuten konnte, war niemand jemals in den Sinn gekommen oder auch nur als vorstellbar erschienen.
Dieses ungeschriebene Gesetz hatte sich als Trugschluss erwiesen. Die Evolution hatte den Rückwärtsgang eingelegt. Nach einer Reihe erfolgreich verlaufener Feldversuche und der Geburt einer wissenschaftlich signifikanten Anzahl Affe-Mensch-Chimären vergingen einige Jahre, in denen die so gezüchteten Nachkommen der Affenleihmütter unter strenger Geheimhaltung ihres Entstehungsprozesses wie normale Homo Sapiens-Zeugungen in die Gesellschaft integriert wurden: vom Kindergarten in die Schule und später sogar in das Berufsleben. Was sich jedoch als der Schlüssel für ihre Verbreitung erwies, war ihre von Wissenschaftlern festgestellte Immunität gegen jede bisher aufgetretene Form des Virus, das den Planeten seit einer Reihe von Jahren heimsuchte, ohne dass es gelungen war, es wirksam zu bekämpfen geschweige denn endgültig zu besiegen. Worin lag das Geheimnis der Pandemieresistenz der neuen Rasse? Testergebnisse kamen zu dem Schluss, dass ihre Vertreter keine Aerosole einatmeten. Die Zusammensetzung ihres Nasenhöhlensekrets verhinderte ihr Eindringen in die Atemwege.
 
Versuchsreihen mit Exemplaren junger Erwachsener des neuen Typus Mensch hatten zwar seine unterdurchschnittlichen kognitiven Fähigkeiten bestätigt, diese jedoch gleichzeitig als entwicklungsfähig ausgewiesen.
 
Je nachdem wie sie von der Pandemie betroffen waren, markierte eine Weltkarte die verschiedenen Regionen durch unterschiedliche Farbe. Hellere Farben wiesen eine geringere Inzidenz aus, dunklere eine stärkere. Schon seit Monaten überzog die Karte eine einheitlich dunkelrote Farbe. Aufhellungen gab es nur punktuell und kurzzeitig.
In der Erläuterung zur aktuellen Pandemiesituation wurden auch die verschiedenen Mutanten der Pandemie aufgeführt, von denen die einzelnen Regionen betroffen waren. Mittlerweile wurden, verbreitet über den Globus, über hundert Mutanten gezählt. Und die Anzahl der Virusstämme, denen die Wissenschaftler durch Abstimmung untereinander ironischerweise die Namen großer Philosophen gegeben hatten, hatte sich innerhalb eines Jahres von sechs auf zwölf verdoppelt. Die bisher Auserwählten waren: Seneca, Plato, Heidegger, Spinoza, Sartre, Sokrates, Descartes, Nietzsche, Wittgenstein, Aristoteles, Schopenhauer, Kant.


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