KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Dienstag, 03. November 2009, 10:29
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herzkomatös – LunAe (Malinia). Marla. II. Lyrik (6)

LunAe, Mondin mit dem kleinen Satelliten e, wurde 1981 geboren und stammt aus Thüringen. Sie befindet sich in der Ausbildung, bezeichnet sich als „Kindfrau, natürlich aus Belieben … am liebsten würde ich mein herz neben deines legen.“ – und dieser Gedanke spricht aus vielen ihrer Texte mit innovierten Form-Ideen. Ihre lyrischen und dramatisch-monologischen Verse, Worte und Reden fallen leicht im weiten Bogen in die Tiefe der Seele. Ich lese sie gern:

[cutting]
Groteske zum Thema vergangene Liebe

am Frühstückstisch nahm er
das Messer in die Rechte
und schnitt die Kopfhaut
sich vom Schädel
sie sollte ihn in Unschuld malen

Rückblende

auf Knien ist sie ihm gefolgt
dabei hatte er sie doch
nicht mal in Gedanken

Frage:

befindet sich
das schlechte Gewissen
in dem Hirnbereich,
welcher auch für
die Gefühle zuständig
ist, oder eher...

Gegenwart

das kalte Messer liegt gut
an ihrer Zunge an, und schneidet
langsam, mit Genuß
wendet sich ihm nicht
teilt seinen Blick
mit einem Lächeln schluckt sie

sich

Das ist ein subtiles Gedicht - mir gefällt die Schärfe des Skalpells, das die Bilder, Fragen und Ellipsen einer Überschneidung zu zweit in die Hirnhaut des Lesers ritzt.
LunAe nennt das Gedicht über das Scheitern einer ungleichen Liebe eine Groteske, damit meint sie ihre absichtlich übertreibenden Erkenntnis-Bilder, die Situationen in der schmerzlichen Beziehung sind reale Erlebnisse des lyrischen Ichs. Schon zu Beginn steht der Zweifel der liebenden Frau: Er demonstriert Unschuld, indem er ihr seine unverhüllten Gedanken zeigt, seine Worte – nicht aber sein Herz, was in der dritten Strophe („Frage“) deutlicher wird: Sie verdächtigt ihn der Untreue („das schlechte Gewissen“) und wirft ihm vor, er trenne seine Lust von Herz und Verstand – während sie sich ihm unterwerfend hingab: „… auf Knien ist sie ihm gefolgt“, obwohl er sie schon nicht mehr „in Gedanken“ hatte.
Die letzte Strophe („Gegenwart“) knüpft mit dem Messerbild an die erste an und demonstriert die schmerzliche (vielleicht wirklich groteske) Konsequenz ihrer unbedingten Liebe: Sie (hier schon elliptisch!) „wendet sich ihm nicht / teilt seinen Blick“, lässt zu, dass er ihr die Zunge abschneidet, die Sprache nimmt, die Gegenwehr. Sie ist kaum noch da, während sie ihn anschaut und wissend in seinem Blick vergeht: „mit einem Lächeln schluckt sie / sich“ – sie muss ‚schlucken’, sie kann nicht anders, sie liebt den, der sie nicht mit dem Herzen liebt. Der Schluss ist ambivalent: Das liebende lyrische Ich vergeht hier körperlich und verliert sich in einem doppelten Sinn: In bewusstloser Lust und gewusstem Schmerz.


wohl so
Gedanke zum Thema Augenblick

erzähl mir von den tagen höre es
hing nur noch ein ahnen lieb versuche

im gehen zu kommen mit den augen
spiele blindsein auf dem boden kein moos

mehr übrig für ein ohr mittag gab es
eingelegtes von gestern liegt dein rest

schwer sagt man kamille sei wohltuend
dein zucken geht vorbei mit dem nächsten


Auch in diesem Gedicht reflektiert ein weibliches lyrisches Ich über die Liebe. Der Titel verrät zwei Dinge: Es ist gut so – es ist aber nur vielleicht so… Sie beschwört das geliebte Du, vielleicht in einem Selbstgespräch: Erzähl mir deine Liebe, höre auf dein Inneres! Höre es! „es / hing nur noch ein ahnen, lieb“ oder: „…von den tagen … hing nur noch ein ahnen…“ – unsere Liebe verblasst. „lieb, versuche / im gehen zu kommen mit den augen / spiele blindsein…“ – Komm im Gehen, komm mit den Augen, vergeh! verschmilz mit mir! Sie will seelische und körperliche Vereinigung. Lass dich fallen, sei blind, verlier dich und die Realität, damit wir umso inniger zusammen sind. Dann ist es egal, dass „auf dem boden kein moos“ ist zum Liegen. Das auffälligste Stilmittel dieses Gedichts ist neben den Ellipsen die grammatische und semantische Überschneidung von Worten in dicht ineinander gehakten Versen.
Die zweite Gedichthälfte beginnt offensichtlich elliptisch, vielleicht ergänzt der Leser so: habe „mehr übrig für ein ohr“ – hör mir zu! Erwidere meine Liebe! Ich habe nur „eingelegtes von gestern“, nur meine Erinnerung an dich, ein Restessen, „dein rest“ macht mich nicht satt. So wenig wie Kamille, ein zu mildes Mittel. Wenn die Liebende sagt: „dein zucken geht vorbei mit dem nächsten“, will sie die ganze Liebe des Geliebten – allerdings provoziert die Formulierung, dass das lyrische Ich hier vielleicht auch an die Erregungen eines anderen Geliebten denkt: Ja, „… am liebsten würde ich mein herz neben deines legen.“ Damit schließt sich der Kreis.

* * *

Marla wurde 1983 geboren. Sie nennt sich „verspielt“ und „Sockendiebin“. Ihre aphoristische Selbstbeschreibung ist ein Gedicht: „Ich stehe über. / Feile mich.“
Ich denke, sie will in liebender Ergänzung verlieren, was stört, vielleicht ihre Wildheit, ungebändigte Kraft; sie will sich formen, auch als Lyrikerin.


Die äußerste Perversion [Ego a go go]

Das Grübchen, da, wo dein Hals
zur Schulter wird, da möcht ich mir
eine Bank hinstellen und die Aussicht
auf dein Ohr genießen.

Hey, okay,
eigentlich würd es mir reichen,
dort meine Nase reinzustecken.
Ich will dich nur riechen.

Aber sag doch,
wird sie deinen Kindern eine gute Mutter sein?
Wird sie gut für dich kochen und deine Socken falten?

Weil, wenn ja:
Dann soll sie das Grübchen haben.
Aber ich bin sicher,
dass sie es nicht mal bemerken wird.

Welche Perversion meint der Titel? Das Gedicht beginnt mit einer Zartheit, mit der die seelische Nähe von Liebenden beschrieben wird. Der Liebende will die Geliebte immer anschauen, er mag sie, und will ihr dann noch näher kommen. Wenn er seine Nase in ihr Ohr stecken will, will er sie ganz – aber offenbar will er zunächst nur ihren Körper: „Ich will dich nur riechen.“
Denn er fragt sich – wird sie nach älteren Maßstäben eine gute Mutter sein, eine gute Ehefrau?
Sie ist sich ihrer Schönheit und ihrer Wirkung auf das liebende lyrische Ich gar nicht bewusst – und in dieser Selbstlosigkeit gefällt ihm die Geliebte. Diese Idylle wirkt schön pervers. Die Perversion liegt weniger im Auseinanderfallen von Rolle (Mutter, Ehefrau) und Sein (fraglose Liebe), sondern vielmehr darin, wie dieses egoistische Ich denkt und dass es von der vollkommen gedachten Geliebten alles will, einseitige Befriedigung in Pflicht und Neigung – Ego a go go.


Ohne

Bleib doch,

wenn ich einsame.

Und sag, was bleibt,

wenn ich einsame und mir
Wolken um die Finger spinne.

Es friert, und was bleibt mir -

Für der Nacht Verweilen
hab ich die guten Ohrringe
gesteckt und mich lackiert.

Was bleibt, was bleibt -

Das Blauviolett meiner Finger
werde ich den Wolken regnen.
Dann sollen sie sehen,
was sie davon haben.

Was bleibt;

Nach all dem und
vor allem und
nach dem, was kommt
bin ich noch
herzkomatös.


Wie problematisch die Liebe sein kann, zeigt auch dieses Gedicht: „Ohne“ benennt fehlende Liebe, Einsamkeit. Das lyrische Ich trauert: „Und sag, was bleibt, / wenn ich einsame und mir / Wolken um die Finger spinne“ – es redet sich selbst an und erkennt, dass es den Verlust kompensiert mit einem Gespinst aus Erinnerungen und Träumen. Es macht sich nur für die Nacht schön – absurd. Die in der Einsamkeit blau gefrorenen Finger wird sie abweinen – in Zorn und Selbstmitleid. Die Verse gehen zuletzt über in Hoffnungslosigkeit: Das lyrische Ich kann nicht mehr, es sieht keine Zukunft, es sieht nur die Wiederkehr des Leids. Immer hämmert die Frage: „Was bleibt“… Der Schmerz des Verlusts! Das Herz ist gelähmt („herzkomatös“).

* * *

Ulrich Bergmann

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 AlmaMarieSchneider (23.02.07)
Ich muß einfach mal ein Lob und Danke hereinsetzen für die gelungenen Vorstellungen und Interpretationen. Ich lese sie immer, auch wenn ich nicht immer etwas dazu sage.

 Bergmann (23.02.07)
Dank! Ich stehe hinter jedem Gedicht in meiner Kolumne. Die Gedichte sind so gut, dass sie aus guten Büchern stammen könnten, ich finde, sie sind sehr geeignet für den Lyrikunterricht in den Klassen 11-13, und vielleicht mache ich das auch mal.

 Owald (24.02.07)
Ja, ich lese Deine Kolumne auch immer mit großem Interesse. Allerdings merke ich hier mal ganz vorsichtig an, daß ich "Die äußerste Perversion" völlig anders verstanden habe. Aber so richtig völlig anders.
Wie dem auch sei.
Liebe Grüße,
O.

 BrigitteG (24.02.07)
Ja, da kann ich mich Owald anschließen.

Bei der äußersten Perversion sehe ich das Lyrische Ich als eine Frau, die von ihrem Liebsten verlassen wurde wegen einer Anderen, ihn aber noch liebt. Deswegen die ersten beiden Strophen - ein Ausdruck großer Zuneigung und Zärtlichkeit dem Mann gegenüber. In der dritten wird deutlich, dass er nun von einer Anderen begleitet wird, und das Lyrische Ich sorgt sich darum, ob es dem Mann gut gehen wird in der neuen Beziehung, ob sich die Neue um ihn sorgt. In der vierten Strophe ist das Lyrische Ich bereit, ihren Ex loszulassen, wenn sie das Gefühl hat, er "wäre in guten Händen". Allerdings denkt sie trotzdem, dass diese neue Frau nie das Zauberhafte, was dieser Mann hat, würdigen können wird.

So, das war jetzt meine Interpretation.

 Bergmann (24.02.07)
Owald äußert sich unklar - trotzdem denke ich, er meint was anderes als du, Brigitte. Deine Interpretation baut auf eine zu konkrete Geschichte als Unterstellung. Vielleicht diese Art von Polyvalenz gegen das Gedicht von Marla. (Ich will übrigens gar nicht wissen, was sie sich bei ihrem Gedicht dachte.)

 Owald (25.02.07)
Meine Interpretation liegt - um die Unklarheit etwas zu lichten - durchaus ziemlich nah bei Brigittes, bei einigenkleineren Unterschieden: Daß das lyr. Ich wegen einer Anderen verlassen wurde, habe ich zum Beispiel nicht herausgelesen. Aber daß es, das Ich, weiblich ist und einen anderweitig "vergebenen" Mann liebt - das habe ich schon auch so verstanden.
Was Marla sich gedacht hat? Ich bin ja in der komfortablen Situation, sie jederzeit persönlich fragen zu können. Aber ich verrate nicht, was sie gesagt hat.
Liebe Grüße,
Owald.

 Bergmann (25.02.07)
Denkbar. Ja. Trotzdem gefällt mir das Gedicht mit dieser Interpretation nicht mehr so sehr. Egal, es ist wie es ist.
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