KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
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Der Tag von Manhattan
162. Kolumne
Über Terror und Ästhetik
Der Terroranschlag auf New York und Washington ist ein Symptom. Ich bezweifle, dass der Einsturz der beiden Türme des World Trade Centers am 11.9.2001 ein so bedeutender historischer Wendepunkt ist, wie manche Deuter der Zeit das behaupten. Ich halte dagegen: Auschwitz. Die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Die Bombardierung Dresdens. Der Vietnamkrieg. Das sind unterschiedliche Fälle, jeder Fall hat seine eigenen historischen und moralischen Kategorien - aber alle diese Ereignisse waren schrecklicher und bedeutender als der Tag von Manhattan.
Die ästhetischen Kategorien sind in allen Fällen denkbar, sogar bei Auschwitz, aber wir verbieten sie uns im öffentlichen Denken. Die Ästhetisierung von Auschwitz ist tabu. Adorno sagte, nach Auschwitz könne kein Gedicht mehr geschrieben werden. Aber Celan schrieb die „Todesfuge“, ein Gedicht über die Vernichtung der Juden: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“. Er stellte das Leid in den Mittelpunkt, kunstvoll gefugt, eine Musik in Worten, aber die Kunst steht hier im Dienst der Lebens und der Menschenwürde.
Spielen wir den Gedanken durch, das Bersten der Gebäude in Hiroshima wäre live gefilmt worden - fragen wir uns, ob die Ermordung von Millionen Menschen durch das NS-Regime ästhetisch denkbar und darstellbar ist wie das Einstürzen der hohen Türme des World Trade Centers. Warum kam Stockhausen nicht auf den Gedanken, die systematische Vernichtung der Juden im zweiten Weltkrieg mit einem Kunstwerk zu vergleichen oder als Kunstwerk zu bezeichnen? Weil er im Terrorakt von Manhattan nicht nur die handwerkliche Vollkommenheit sah, sondern die Unbedingtheit eines Willens auf dem Fundament einer unbedingten Moral, die der Haltung des Künstlers entspricht, der alle bisherigen Regeln und Formen sprengt.
Das ästhetische Gefühl, das wir im Bild des zusammenstürzenden World Trade Centers empfinden, erfüllt aber nicht hinreichend die Kategorien, die ein Kunstwerk hat. Kunstwerke sind kosmisch, die Dichte und die Vernetzung der Ereignisse und involvierten Probleme einschließlich der Irrationalismen verführen zu dem Gedanken, die politische Tat der Terroristen als ein Kunstwerk zu sehen - aber es fehlt am Ende die widerspruchsfreie ethische Grundlegung.
Kunst ohne Moral ist menschenfeindlich und erniedrigt den Menschen als Geistwesen, das sich im Leben transzendiert. Wir müssten als Terroristen der Kunst die geltende Moral, die so ein fragendes, spielendes Denken erschwert, in uns totschlagen - dann stünden wir weit unter den Tieren oder weit über ihnen. Wir wären ein einziges kollektives Über-Tier des absoluten Hasses gegen die bestehende Welt, der sich am Ende gegen sich selbst richten muss, weil dann mein Feind vernichtet ist und nur ich selbst mich noch zum Feind machen kann.
Das Faszinierende am Einsturz der New Yorker Wolkenkratzer war das Geschehen des Unerwarteten, Unerlaubten, das Noch-nie-Gewesene, das extreme Ausmaß der Wirkungen, eine eigentlich technische Faszination, das perfekte Zusammenwirken amoralischer Kräfte, das auch als moralistisches Extremum (je nach Perspektive) gesehen werden kann - in jedem Fall aber menschenverachtend. Das Faszinosum ist aus der Sicht unserer offenen, also revidierbaren und weiterzuentwickelnden Kultur und Weltanschauung, ein grandioser Formalismus, der uns für eine Weile stärker vorkommt als unsere weniger auffällige Lebens-Kunst in einer Welt, in der Individualismus nützt und stört. Die Fundamentalisten, die New York angriffen und ihr Leben für ihre gegen die Toleranz, Menschlichkeit im Miteinander, gerichtete Idee opferten, um ihre Lebens-Vorstellung der Welt aufzuzwingen, erinnern zwar an die kühne Idee, die Joseph Beuys an die Politik herantrug: Dass Politik zum Kunstwerk werden müsse - aber die selbstmörderischen Mörder erschaffen kein kosmisches Kunstwerk, keinen Gottesstaat, der Gott gefallen könnte, keinen Menschenstaat, der den Menschen gefallen könnte, kein Lebenskunstwerk.
Es bleibt die Frage, inwieweit Zerstörung immer auch zugleich eine konstruktive Seite hat: Genauere Erkenntnis der Vergangenheit und damit bessere Rekonstruktion von Gegenwart. Zwar war das nicht von den Terroristen beabsichtigt, aber in der Tat können wir alle weltweit durch Selbstkritik lernen und am Kunstwerk einer Welt, deren Moral das Miteinander und nicht das Gegeneinander ist, besser weiterarbeiten als vor dem Tag von Manhattan.
Wenn wir die Angst vor uns selbst abbauen, verringern wir den Terror gegen uns.