Jean-Paul, Arthur Rimbaud und ich

Es war mir immer klar, dass ich ihn eines Tages treffen würde. Trotzdem hat es mich ziemlich merkwürdig berührt, dass es gerade jetzt passiert ist. Ausgerechnet in Frankreich. Und dass es dieser Jean-Paul sein musste. Sozusagen meine B-Seite.

Jean-Paul hat meine Leidenschaft für Sport. Natürlich Radsport. Daher die sehnige Figur. Bei 1,80m gerade mal 70 Kilo, braun gebrannt von Hunderten Kilometern im Sattel. Gesunder Lebensstil, das versteht sich, Nichtraucher, vernünftige Ernährung ohne sich zu kasteien. Überhaupt völlig unproblematisch in diesen Fragen von Essen, Trinken, Sich Fit Halten.

Denn Jean-Paul ist Selbstversorger, will sagen: Nicht liiert, Herr im Hause, und sein eigener Koch. Unabhängigkeit ist ihm besonders wichtig, und darin erkenne ich mich natürlich als erstes wieder, in dieser unspektakulären Art, sich seine Freiheit zu erhalten. Keine Etikette beim Essen; flexible Zeiten haben;  nutzen, was der Garten bietet oder was gerade in den Tagesplan passt, und gerne auch mal draußen speisen bei den Nachbarn oder mit Freunden von der Radsportgruppe.

Worin wir beide auch völlig übereinstimmen, das ist diese „bonne franquette“, das Gesellige und Sich gerne Einlassen auf Andere. Jean-Paul kann nicht durchs Dorf gehen ohne vier, fünf längere Pläuschchen . Er kennt sie alle, und im Zweifel hat er allen mal das Fahrrad geflickt oder bei der Gartenarbeit geholfen.  Die Leute nennen ihn hier „ un type bien“ – ja, mit dem kann man auskommen.

Dass mir ausgerechnet Jean-Paul dermaßen nah kommen würde, das bahnte sich schon über Monate an. So trafen wir uns auf den Flohmärkten der umliegenden Dörfer. Unabgesprochen. Ich merkte meist schon bei der Ankunft, dass er wieder einmal noch früher da war als ich. Sein alter Peugeot-Kombi parkte viel dichter am Geschehen als meiner, fast das gleiche Modell.  Und Jean-Paul kam mir entgegen mit exakt den Schnäppchen, die eigentlich ich mir erträumt hatte: Alles, was mit Fahrrädern zu tun hat, französische Vintage-Kinoplakate und - très important! - Chansons der 60er bis 90er Jahre, von Aznavour über Bécaud,  Brassens, Ferré, Piaf, Moustaki  bis Vian.

Die Chansons waren dann auch der Auslöser für unser Matching. Jean-Paul lud mich nach dem letzten Aufeinandertreffen spontan zu sich ein.  Wir waren uns bei Emmaus begegnet, einer Art Caritas-Station, wo man hier dienstags und samstags allerlei Gebrauchtes erstehen kann. Klar, dass mein Pendant wieder in der Abteilung „Disques“  auf der Jagd war. Und er hatte tatsächlich Serge Reggiani in der Hand, „Reggiani à l´Olympia“!

Was sollte ich tun? Es war mein Sänger, und die CD war genau die, auf der Reggiani „Le déserteur“ singt, und zwar mit dem Rimbaud-Vorspann „Le Dormeur du Val“.

Natürlich zeigte mir Jean-Paul besagte CD, und dann fragte er: “Und weißt du, was Reggiani vor dem Chanson „Le déserteur“ als Vorspann rezitiert – das ist einmalig, und nur auf dieser CD-Version noch dokumentiert?“

„Ja, klar,“ brauchte ich da nur sagen, fast lachend, „Le Dormeur du Val“, dieses wahnsinnige Rimbaud-Gedicht, wo er den schlafenden Soldaten beschreibt – fast romantisch – und die letzte Zeile sagt nur: Er hat zwei Löcher in der Brust…“

Zwei Löcher in der Brust, aber wir Zwei standen da höchst lebendig, und unsere Herzen schlugen. Im Einklang!
Verrückt, sagte ich mir nur, und: Wer hat da bloß Regie geführt? Denn ich habe da den getroffen, der auch ich geworden wäre! Ja, Jean-Paul, genau so.

Und hätte ich nicht mal vor knapp 40 Jahren geheiratet und damit meinem Leben ein ganz anderes Korsett gegeben -  ich wäre da glatt in den älteren der beiden Kombis gestiegen und wäre munter pfeifend in mein Junggesellen-Häuschen gefahren, stolzer Besitzer einer  Reggiani – CD mitsamt Rimbaud-Version.