KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
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Walpurgisnacht im Zauberberg
243. Kolumne
Zauberberg, immer wieder Zauberberg! Er lässt mich mein ganzes Leben lang nicht los. Nun habe ich Hans Castorp schon lange überlebt, musste nicht in den Krieg wie er, auch nicht nach Afghanistan (Gnade der späten und frühen Geburt...). Aber die Kräfte der Verführung und Selbstverführung, die im Leben Macht gewinnen, wenn wir nicht aktiv werden, spürte ich oft, vor allem in meiner Jugend.
Auch in der Liebe kann man leicht scheitern, wenn man sich selbst nicht genügend lieben kann, um andere zu lieben - das gilt für die private, sexuelle Liebe wie auch für das gesellschaftliche/berufliche Engagement.
Walpurgisnacht. Die Zusammenführung mit Hippe’s Bleistift - zwei Deutungen:
Castorp erreicht den Höhepunkt körperlicher Liebe mit Chauchat, indem und weil er NICHT körperlich liebt, sondern quasi kurz vor dem ‚Vollzug’ stehenbleibt und das Erleben ausdehnt, wie es körperlich nicht geht. Es ist gleichsam eine Art mystische Liebe, die körperlich wird als ein Gipfel von Verlangen, das ausgehalten wird und sich zum Nonplusultra steigert. Es ist die Vereinigung von Geist und Körper. Das Ganze allerdings einseitig: Nur Castorp liebt - und diesen Narzissmus (jetzt aber mit Frau - und jetzt auch gegenseitig) variiert Th. Mann im „Krull“ mit Madame Houpflé...
Der Bleistift (als Phallussymbol), mit dem am Ende der Szene Madame Chauchat Castorp einzuladen scheint, deutet auf die sinnliche Erfahrung hin, die Castorp nun machen darf. Aber es bleibt auch hier offen, ob Castorp dieser Aufforderung folgt, auch, ob die Aufforderung in Wirklichkeit eine Verhöhnung ist, wenigstens eine weitere Reizung. Castorp gibt Hippe den Bleistift zurück, der weder hier noch bei Madame Chauchat als Symbol für eine körperliche Liebeserfahrung steht.
So gesehen ist Hans Castorps Scheitern in der Liebe (mal abgesehen von der unterschwelligen homoerotischen Bedeutungsebene, die Thomas Mann bei Hippe mitschwingen lässt) ein persönliches Scheitern und ein allgemeines Scheitern an der Welt. Hans Castorp liebt Madame Chauchat nicht - er liebt nur alle seine Projektionen dieser Liebe, was sich auch im Bild des Röntgenbilds von Madame Chauchat zeigt: Lunge und Herz sind eingefroren im Moment der Aufnahme, die Zeit steht still, das Herz schlägt nicht, das Leben steht still, das eingefrorene Herz ist so kalt wie Castorps Herz - während es oben im Kopf glüht und zur seelischen Kernschmelze kommt. Eine grausamere Sublimierung der Liebe kenne ich nicht als Castorps Akt ohne Akt, eine rein geistige Selbstbefriedigung, die ins Nichts führt, in den Tod schon mitten im Leben.
Und doch ist das zugleich eine böse Karikatur auf die Schriftstellerkunst.
Thomas Manns „Zauberberg“ ist wie die „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ (bei dem es allerdings umgekehrt ist: Er liebt ohne zu lieben, er liebt sich nur selbst, wenn er liebt) auch eine Parabel auf das Verhältnis Autor / Welt. Ohne die narzisstischen Kräfte in der selbstgewählten solitudo scribendi ist das Schreiben unmöglich, das die eigene Sublimierung der erfahrenen Welt und der erlittenen Wunden spätestens im Leser umschreibt in eine allgemeinere Sublimierung, die (Selbst-)Aufklärung ermöglicht: Für Autor und Leser.
Die Walpurgisnacht zeigt also das Scheitern des Verhältnisses von Caritas und Amor (Agape und Eros), seelischer und körperlicher Liebe, privater und gesellschaftlicher Berufung. Hans Castorp bleibt der tumbe Parzival, unreif, blind und erkenntnislos. Da könnte sich so mancher Zeitgenosse von heute in Thomas Manns Parabeln wiedererkennen, wenn er sein verzerrtes Spiegelbild deuten wollte.
Ulrich Bergmann