KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
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dxiii
311. Kolumne
Die documenta überraschte mich wieder einmal, zumal ich vorher nichts darüber las und sah, im Fridericianum mit einem leeren Foyer und zwei leeren großen Räumen – bis ich leibhaftig den Wind verspürte, der das Kunstereignis sein sollte. Blasmaschinen im Keller sorgten für stillen, aber heftigen Durchzug. Im Erdgeschoss Mitte hatte die Leiterin der dxiii, Carolyn Christov-Bakargiev, ihr „Brain“, eine Art Vorbereitung auf das Ganze, Morandi-Gemälde, also ältere Kunst, Fotos von Hitlers Badewanne, die Lee Miller Juli 1945 in der Münchner Wohnung des Führers aufnahm, Steine auf dem Fußboden, weiß umgrenzt, Faltspiele, wie wir sie in Museumsshops kaufen können usw. CCB wollte zeigen, wie weit, wie offen ihr Kunstbegriff ist.
Bemerkenswert fand ich: Charlotte Salomons Gouachen (die ich seit den 90er Jahren kenne). Eine tote Fliege unter Glas. Zwei wunderbare Dalì-Gemälde aus Rotterdam. Ca. 50 Schmetterlingspuppen als Textzeile im weißen Nichts einer Glasvitrine. Ein 9-Zylinder-Motor in Bewegung. Scheibenwischer – an der Wand. Riesengemälde: Ein Flugzeug, aus kleinen Flugzeugen gemalt, die im Flugzeug immer wieder Flugzeuge ergeben. Nebenbei das Foucaultsche Pendel im Naturkundemuseum der Orangerie, das nicht zur dxiii gehörte. Und vor allem William Kentridge, der mich überzeugte. Seine an Lagerhallenmauern projizierten Videos, meist schwarzweiß, hatten es in sich, Zeichnung und bearbeitete Filmaufnahmen waren zusammen mit der Musik eine Art Gesamtkunstwerk mit starker emotionaler Wirkung, aber auch mit Witz und Humor. Insgesamt: Die documenta war so gut und so schlecht wie die beiden letzten vorangegangenen, sehenswert in jedem Fall.
Mein Freund Detlev Günzel schrieb mir: „Mit einem zu weit gefaßten Kunstbegriff tue ich mich schwer, Kunst wird dann im Extremfall ubiquitär, ist immer und überall (was sie aber nicht ist). Wo bleibt dann der spezifische Kunstgehalt von Kunst (die differentia specifica)? Kunst muß sich m. E. auch im Werk selbst manifestieren. Kunst wird nicht durch das betrachtende Subjekt produziert. Ein voluntaristischer Kunstbegriff gerät in die Nähe der werbestrategie, die x-beliebigen Gebrauchsgegenständen qua Zuschreibung zusätzliche Qualitäten (die sog. sozialen und emotionalen ‚Zusatznutzen’) wie Attraktivität, Jugendlichkeit, Geborgenheit, Zufriedenheit usw. aufmodulieren will.“
Ja gut, aber der Prozess der Akkreditierung von Kunst, zumal neuester, kann gar nicht anders stattfinden als durch die Urteile betrachtender Subjekte, die mehr oder weniger fachlich gebildet sind, teils auch völlig ahnungslos sind. Mit Kriterien, die sich sowieso in einem steten Wandel befinden (müssen) und eben immer nur rückwärts gewandt sind, kommen wir dem Problem der Beliebigkeit und Nützlichkeit von Kunst nicht bei.
(Mein ausführlicher und differenzierterer Essay - mit Bildern - ist zu lesen bei www.poetenladen.de)
Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag
Immer, wenn ich so etwas lese, hege ich schon die Befürchtung, dass die berühmte 'gepflegte Beliebigkeit' längst zum bedeutenden Bestandteil der zeitgenössischen 'art' geworden ist. Aktuell besehen lobt man seinen vage umherfleuchenden (und modegebundenen) Wust an Zuschreibungen "zum Hereinlesen" (kürzer: seinen eigenen Horizont?), wenn man etwas als "Kunstwerk" (ein)schätzt. Insofern kann man das auch bleiben lassen (und wir müssten ja nicht unbedingt den vorgenannten auszustellenden bzw. schon ausgestellten Flachsinn auch noch (in hohem Maße) mittels diesen Exkrementenexzelleninitiativen ideell wie finanziell subventionieren).
die Quelle (bevor jene anzugeben Nachtrag(3) zu werden droht) :
http://www.lindinger-schmid.de/documents/KUNSTZEITUNG_Juli-Ausgabe_Titelseite.pdf