KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Montag, 23. Juli 2012, 20:08
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dxiii

311. Kolumne

Die documenta überraschte mich wieder einmal, zumal ich vorher nichts darüber las und sah, im Fridericianum mit einem leeren Foyer und zwei leeren großen Räumen – bis ich leibhaftig den Wind verspürte, der das Kunstereignis sein sollte. Blasmaschinen im Keller sorgten für stillen, aber heftigen Durchzug. Im Erdgeschoss Mitte hatte die Leiterin der dxiii, Carolyn Christov-Bakargiev, ihr „Brain“, eine Art Vorbereitung auf das Ganze, Morandi-Gemälde, also ältere Kunst, Fotos von Hitlers Badewanne, die Lee Miller Juli 1945 in der Münchner Wohnung des Führers aufnahm, Steine auf dem Fußboden, weiß umgrenzt, Faltspiele, wie wir sie in Museumsshops kaufen können usw. CCB wollte zeigen, wie weit, wie offen ihr Kunstbegriff ist.

Bemerkenswert fand ich: Charlotte Salomons Gouachen (die ich seit den 90er Jahren kenne). Eine tote Fliege unter Glas. Zwei wunderbare Dalì-Gemälde aus Rotterdam. Ca. 50 Schmetterlingspuppen als Textzeile im weißen Nichts einer Glasvitrine. Ein 9-Zylinder-Motor in Bewegung. Scheibenwischer – an der Wand. Riesengemälde: Ein Flugzeug, aus kleinen Flugzeugen gemalt, die im Flugzeug immer wieder Flugzeuge ergeben. Nebenbei das Foucaultsche Pendel im Naturkundemuseum der Orangerie, das nicht zur dxiii gehörte. Und vor allem William Kentridge, der mich überzeugte. Seine an Lagerhallenmauern projizierten Videos, meist schwarzweiß, hatten es in sich, Zeichnung und bearbeitete Filmaufnahmen waren zusammen mit der Musik eine Art Gesamtkunstwerk mit starker emotionaler Wirkung, aber auch mit Witz und Humor. Insgesamt: Die documenta war so gut und so schlecht wie die beiden letzten vorangegangenen, sehenswert in jedem Fall.

Mein Freund Detlev Günzel schrieb mir: „Mit einem zu weit gefaßten Kunstbegriff tue ich mich schwer, Kunst wird dann im Extremfall ubiquitär, ist immer und überall (was sie aber nicht ist). Wo bleibt dann der spezifische Kunstgehalt von Kunst (die differentia specifica)? Kunst muß sich m. E. auch im Werk selbst manifestieren. Kunst wird nicht durch das betrachtende Subjekt produziert. Ein voluntaristischer Kunstbegriff gerät in die Nähe der werbestrategie, die x-beliebigen Gebrauchsgegenständen qua Zuschreibung zusätzliche Qualitäten (die sog. sozialen und emotionalen ‚Zusatznutzen’) wie Attraktivität, Jugendlichkeit, Geborgenheit, Zufriedenheit usw. aufmodulieren will.“

Ja gut, aber der Prozess der Akkreditierung von Kunst, zumal neuester, kann gar nicht anders stattfinden als durch die Urteile betrachtender Subjekte, die mehr oder weniger fachlich gebildet sind, teils auch völlig ahnungslos sind. Mit Kriterien, die sich sowieso in einem steten Wandel befinden (müssen) und eben immer nur rückwärts gewandt sind, kommen wir dem Problem der Beliebigkeit und Nützlichkeit von Kunst nicht bei.


(Mein ausführlicher und differenzierterer Essay - mit Bildern - ist zu lesen bei www.poetenladen.de)

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 loslosch (27.07.12)
ich vermisse die abgrenzung zum affen. hier:  Ein Anstrich für ein Gemälde.

 Matthias_B (27.07.12)
"Mit einem zu weit gefa[ss]ten Kunstbegriff tue ich mich schwer, Kunst wird dann im Extremfall ubiquitär, ist immer und überall (was sie aber nicht ist). Wo bleibt dann der spezifische Kunstgehalt von Kunst (die differentia specifica)? Kunst muß sich m. E. auch im Werk selbst manifestieren. Kunst wird nicht durch das betrachtende Subjekt produziert. Ein voluntaristischer Kunstbegriff gerät in die Nähe der [ W]erbestrategie, die x-beliebigen Gebrauchsgegenständen qua Zuschreibung zusätzliche Qualitäten [...] aufmodulieren will."
Vorerst: Ich stimme dem inhaltlich voll und ganz zu. Mich stört (enerviert) nur ein bisschen (in strukturell offener Nuanciertheit), wie er den Eigenwert der Kunst (Kunst als res signifikans) schon etwas ausschmückend (ornativ, non, un moment: ornierend) beschreibt. Das hat ein bisschen (s.o.) den Anschein, von der Gabe der wohlfeilen Rede Gebrauch zu machen (bene dicendi scientia), als mit den gewählt klingenden Begriffen (halben Topoi) die Kunst an sich wie es ihr stilistisch (hier: stilus sublimus) angemessen sei (aptum), zu würdigen. Gut, das war jetzt wieder eine nicht zu beachtende Blödelei meinerseits (wie gesagt, inhaltlich sind wir komplett auf einer Linie); 's Folgende jedoch soll ernsthaft diskutiert werden:
Ja gut, aber der Prozess der Akkreditierung von Kunst, zumal neuester, kann gar nicht anders stattfinden als durch die Urteile betrachtender Subjekte, die mehr oder weniger fachlich gebildet sind, teils auch völlig ahnungslos sind.
Ich habe in einem Artikel der kostenlosen (weil sie sonst niemand lesen würde?) "Kunst-Zeitung" gelesen, dass besagte Carolyn Christov-Barkargiev die Nackthupfdohlen von "Femen" in ihren "[aufbereiteten] aktuellen akademischen Nischendiskurs für ein Massenpublikum", und zwar "die ökofeministische Spielart posthumanistischer Theoriebildung", als Kunst einordnet. Exhibitionismusveredelung, kurz gesagt. Vielleicht wollten die "Onkels" mit dem weiten Mantel auf den Spielplätzen auch bloß ein Zeichen postblablaistischer Deo-rembildung im gesellschaftspolitisch integrativen Diskurs für kritisch-analytische Studien zum ausbleibenden Kindeswohl setzen. Im Ernst: Schillernde Vokabeln, sonst wenig (pessimistischer gesehen: nichts) - was mittlerweile so langsam die Runde macht. Vielleicht wird in Bälde jedes Gähnen auf der Straße photographiert und hinsichtlich irgendwelcher "strukturfunktionaler" und "sozialkonstruktivistischer" Wahrheiten von mehrmonatiger Halbwertszeit endlos "diskursiv" eingerahmt. Ich zitiere weiter aus dem erwähnten Beitrag von di Blasi[ert?]: "Die Künstler der neofeministischen [? - war sie das?] documenta transformieren Müllberge zu Miniaturlandschaften, schaffen Schmetterlingskolonien und Parcours für Hunde. Zwischen Frauen, Hunden und Tomaten besteht für die documenta- Leiterin nach eigener Aussage kein prinzipieller Unterschied." Vielleicht sollte jene dann lieber mit den Tomaten darüber reden, als mit den JournalistInnen, (und eventuell lieber doch zumindest ansatzweise konkrete Gütekriterien anstelle des "[so] weit[en] [...] Kunstbegriff[es ]" ins Auge fassen, damit die "documenta" nicht lediglich als Jet-set-Luftpumpe für eh schon reichlich aufgeblasene Heißluftflöhe, pardon "Künstler", betrachtet wird).
Immer, wenn ich so etwas lese, hege ich schon die Befürchtung, dass die berühmte 'gepflegte Beliebigkeit' längst zum bedeutenden Bestandteil der zeitgenössischen 'art' geworden ist. Aktuell besehen lobt man seinen vage umherfleuchenden (und modegebundenen) Wust an Zuschreibungen "zum Hereinlesen" (kürzer: seinen eigenen Horizont?), wenn man etwas als "Kunstwerk" (ein)schätzt. Insofern kann man das auch bleiben lassen (und wir müssten ja nicht unbedingt den vorgenannten auszustellenden bzw. schon ausgestellten Flachsinn auch noch (in hohem Maße) mittels diesen Exkrementenexzelleninitiativen ideell wie finanziell subventionieren).

 Matthias_B (27.07.12)
Nachtrag: Die Erdbeeren wurden bei der Zitierung vergessen. Die machen die "[Kreativität]" wohl noch "[ k]osmos"-kosmopolitischer.

 Matthias_B (27.07.12)
Nachtrag(2): Beim Einfügen hat es wohl eine Zeile 'gefressen'; der Satz muss natürlich "dass besagte Carolyn Christov-Barkargiev bestimmte schwammige 'Kriterien' liefert, mittels diesen man laut Verfasserin di [Helium?-]Blasi ausgerechnet die Nackthupfdohlen von "Femen" in ihren "[aufbereiteten] aktuellen akademischen Nischendiskurs für ein Massenpublikum", und zwar "die ökofeministische Spielart posthumanistischer Theoriebildung", als Kunst einordnet" heißen.
die Quelle (bevor jene anzugeben Nachtrag(3) zu werden droht) :
http://www.lindinger-schmid.de/documents/KUNSTZEITUNG_Juli-Ausgabe_Titelseite.pdf

 Lala (27.07.12)
So,nein, es geht nicht mehr. Das muss jetzt raus: seit zehn Stunden lese ich: Klo-mummne und Dixii. Scheiße. Aber nun ist es raus.

 Bergmann (28.07.12)
Mit viel Empathie: Manche mögen Scheiß. Haben Durchfall im Hirn angesichts begrenzter Assoziationshorizonte. Dann Presswehen und Afterwundbrand beim Kacken verhärteter Worte. Ach. es scheißt der Meister seinen Kleister so viel leichter mit Klistier.

 Matthias_B (28.07.12)
Mit viel Empathie: Manche mögen Scheiß. Haben Durchfall im Hirn angesichts begrenzter Assoziationshorizonte. Dann Presswehen und Afterwundbrand beim Kacken verhärteter Worte. Ach. es scheißt der Meister seinen Kleister so viel leichter mit Klistier.
das nenne ich mal eine viel treffendere Kolumne über besagte "documenta" und die dorten ausgestellten 'Werke' :D

 Bergmann (28.07.12)
Tja, so vieles im Leben ist ambivalent ...

 Matthias_B (28.07.12)
..aber hoffentlich wird nicht noch mehr davon ausgestellt.

 loslosch (28.07.12)
die biennale hatte mal ein werk über das vergängliche: bezauberndes bouquet aus blütenblättern. nur der erste besucher hatte den vollen genuss: durchzug beim öffnen der tür mit folgen fürs oeuvre.
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