KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Freitag, 14. Juni 2013, 10:56
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Die Wahrheit trägt immer neue Kleider. Wedekind (Stücke 10)

357. Kolumne

„Frühlingserwachen“ von Frank Wedekind

Das Stück, das in der Darstellung elterlicher und schulischer Autorität, auch in seiner alltäglichen Lebenswirklichkeit von der Zeit überholt schien, enthält soviel Wahrheit wie eh und je, wenn man nur richtig hinsieht, und zwar nicht nur auf den Text des Dramas, sondern auf unsere Wirklichkeit heute. Klar, heute ist beinahe jeder Siebtklässler sexuell aufgeklärter als Wedekinds Jugendliche, die an der Prüderie der Erwachsenen und den damit zusammenhängenden Autoritätszwängen bei ihren ersten Liebesversuchen scheitern mussten. Andererseits klaffen auch heute Verstand und Gefühl auseinander wie damals. Was einer gelernt hat, hat er nicht unbedingt schon begriffen, und kann, was er weiß, nicht automatisch im Leben umsetzen. Liebe bleibt auch in Zeiten der Toleranz und Schamlosigkeit ein immer wieder neu zu bestehendes Problem, zumal die Antagonie von gesellschaftlichen Normen und sexueller Selbstbestimmung bestehen bleibt. Wann und wie ein Mädchen oder ein Junge seine Sexualität lebt, ist auch bei fehlender Repression kein leichter Akt.

Wenn die 14-jährige Wendla von ihrer Mutter Aufklärung verlangt, weil sie nicht mehr an den Storch glauben kann, erscheint das heute angesichts der Medien und des Internets unverständlich, ja grotesk. Zumal wenn die Mutter antwortet:
„Um ein Kind zu bekommen – muß man den Mann – mit dem man verheiratet ist ... lieben – lieben sag ich dir – wie man nur einen Mann lieben kann! Man muß ihn so sehr von ganzem Herzen lieben, Wendla, wie – wie sich’s nicht sagen läßt! Man muß ihn lieben, Wendla, wie du in deinen Jahren noch gar nicht lieben kannst ... Jetzt weißt du’s.“ Das Mädchen versteht die allzu verkniffenen und versteckten Anspielungen auf die körperliche Seite der Liebe nicht und glaubt an die zeugende Kraft der reinen seelischen Liebe.

Der Zuschauer wird die Verlogenheit der erwachsenen Mutter erkennen, auch die Naivität der Tochter; er wird sich fragen, wie solche Naivität entstehen konnte und auch heute entstehen kann – die Irrtümer, die Gefühle, die Sehnsüchte tragen immer wieder neue Kleider, sind aber im Kern dieselben. Die Liebesszene, die zu Wendlas Schwängerung führt, zeigt in der vergewaltigenden Animalität, wie unerheblich die seelische Übereinstimmung für den Zeugungsakt sein kann, und das decouvriert die Verlogenheit der Mutter und die Leichtgläubigkeit ihrer falsch behüteten Tochter.

Trotz aller Aufklärung und Toleranz gibt es auch heute eherne Grenzen der Moral. Fehlverhalten wird zunehmend medizinischem Personal zur Behandlung (Korrektur) anvertraut. Die groteske Lehrerkonferenz weist darauf hin, dass moralische Gebote und Verbote, auch wenn sie heute leiser, manchmal fast unsichtbar auftreten, nach wie vor bestehen. Hier schließt sich der Kreis: Der sexuellen Unaufgeklärtheit (Wendla) steht heute die politische Unreife vieler Menschen gegenüber. Mangelndes Rückgrat, Kleinkariertheit und Denken in Schablonen zeigt sich auch in heutigen Lehrerkonferenzen.

Das Stück endet mit der großartigen surrealen Friedhofsszene am Grab Wendlas. Max trägt sich mit Selbstmordgedanken – er begegnet seinem Freund Moritz. Max ist von Selbstzweifeln getrieben und vom Leben enttäuscht und zerbricht an dem persönlichen Unglück, in das er verstrickt war. Sein Gewissen, das in Gestalt eines Vermummten Herrn auftritt, treibt ihn ins Leben zurück. Eine gespenstische Szene, die in aller Einfachheit den Ernst des Stückes noch einmal unterstreicht.


[Meine Ausführungen beziehen sich nur auf das Stück und die darin enthaltenen Regieanweisungen, nicht auf eine bestimmte Inszenierung.
Vgl. jedoch auch meine 271. Kolumne vom 10.10.2011]

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 loslosch (14.06.13)
die 14-jährige wendla trägt einen interessanten familiennamen ...

aus arthur schnitzer, zeitgenosse und geistesverwandter von wedekind, der reigen, unvergessen die passage aus dem wiener milieu: vater zum heranwachsenden sohn, etwa: was soll das lange reden, wir gehen jetzt gemeinsam in den puff.

vllt. solltest du den autor/ regisseur der modernen inszenierung nachreichen. (oder es ist in einer vorgänger-kolumne angegeben.)
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