KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Samstag, 31. Mai 2014, 01:16
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Es ächzt im deutschen Seelenschelf

407. Kolumne


Sabine Bodes Buch „Die vergessene Generation“ ist ein weiteres unter vielen Büchern, die Folgen, Verletzungen, Verwerfungen des Krieges thematisieren.
Der kalte Krieg – ja, das Schweigen und das Lügen. Ich fand in meiner Familie, die gern redet, das Lügen so schlimm. Das Zurechtbiegen von NS-Karriere z. B. Oder die Geschichtsklitterung, die mangelnde Reflexion über das eigene Schicksal. (Ob ich ehrlicher und reflektierter gewesen wäre? Ich weiß es nicht.)
Wir Kinder des verlorenen Kriegs, in den Kahlschlag hinein geboren, können – aus größerer Distanz – die Verwerfungen besser erzählen als unsere Eltern, wenn auch nicht so wahr, wie diese sie hätten erzählen können. Mein Vater wollte, konnte aber dann doch nicht schriftlich erzählen. Mündlich kam viel Stückwerk über seine Lippen, viel Unbedachtes, Ungereimtes, viel Weggelassenes, Verschwiegenes – ich bin nicht sicher, ob ich das Wesentliche habe erfassen können.
Verlogen fand ich meine Eltern, den Vater im Westen, die Mutter im Osten, vor allem in ihrer Lebenswirklichkeit, die ich miterlebte. Ich meine ihr politisches Bewusstsein.
Ja, es ächzt im deutschen Seelenschelf, es geht ein Riss durchs Riff der Gedanken.


- - -


Hel Toussaint

Wir bauen städte wieder auf
die menschen heilt das nicht
Sie steigen aus den kellern auf
und stecken fest im licht

Hier mein planet da dein planet
gepropft ein kriechvulkan
Wenn jedes seiner wege geht
dann ist auch das getan

Jahrzehnte später bricht ein rest
im kind im enkel aus
Da steht es starr und hält nichts fest
Es führt kein weg hinaus

Für
Wolfgang Staudte
20.1.13


Jahrzehnte später – schrieb ich meinen Roman, und sehe, wie erleichtert meine Mutter mit ihren 88 Jahren ist, dass ich ihr Schicksal und meins und das meines Vaters verarbeitete, was ich schon als Jugendlicher vorhatte (der Plan, diese Geschichte in Romanform zu erzählen, geht in das Jahr 1969 zurück). Mir sagen und schreiben Leute, Bekannte, Verwandte meines Alters und im Alter meiner Mutter, dass sie weinten, als sie mein Buch lasen.

... bricht ein rest im kind im enkel aus – ja, es ist ein Rest und doch wieder das Ganze. Ich bin ja meiner Wege gegangen, und mir geht es ja auch gut, aber es bleiben trotzdem Wunden, Narben. Was da im Namen des deutschen Volkes und zum Ruhme einer zum Glück nie zu schreibenden Geschichte vom Sieg des Deutschen Reichs geschah gegen das eigene Volk, gegen Juden, Polen, Russen, Franzosen und viele andere, das trifft uns heute noch und setzt uns zu, auch die vermeintlich vollkommenen Unbetroffenen, in der Tat: „Bis ins siebte Glied“.

Doch bin ich nicht starr und ich halte mich fest an mir selbst und an der Geschichte, die mir glücklich zuteil wurde und die ich zunehmend gestalten konnte. Und an der Geschichte, die ich deutete, indem ich sie aufschrieb.

Trotzdem stimmt: „Es führt kein weg hinaus“ – schon gar nicht in und mit der Architektur der Nachkriegszeit und auch sowieso nicht. Ich muss mir mein Seelenhaus selbst bauen und immer wieder reparieren, umbauen, ausbauen.

... und stecke fest im licht – ich kann nicht widersprechen, das gilt für alle, denn jeder hat seine Verletzungen, Wunden, Narben, auch ohne den großen Krieg und die Unterdrückung und Verfolgung. Das alles kann im Kleinen auch passieren, im Elternhaus, in der Familie, im Beruf. Wunden entstehen auch durch verantwortungsloses Gewährenlassen (in der Erziehung etwa), durch die Leere, die jungen Menschen geboten wird in ihrer Kindheit, in der Schule, durch Zwänge und Ausbeutung in der Arbeitswelt.

(Auch ein nur-harmonisches Aufwachsen halte ich für problematisch. Aber das ist eine andere Geschichte.)

Staudtes Satz war mir unbekannt, sie hat offensichtlich mit seinem ersten Film nach dem Krieg in den Trümmern Berlins zu tun, „Die Mörder sind unter uns“, wo sich Optimismus und Pessimismus gegenüberstehen – Staudte schrieb ja das Drehbuch selbst.

Fresswelle, Reisewahn, Konsumneurose der Deutschen nennst du als Phänomene nichtverarbeiteter Wunden des Krieges, auch willfährige Amerikanisierung (bei gleichzeitigem Antiamerikanismus), also Verdrängung und Unfähigkeit zu trauern. Ja, das kann ich mir auch vorstellen. Ich denke auch an die Auswanderungslust wegen Unlust an Deutschland, mir fällt Bölls satirische Erzählung „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ ein, und die mangelnde nationale Identität, die jetzt seit der Fußball-WM nicht mehr so starr zu sein scheint. Selbstliebe ist die Voraussetzung für die Liebe zu anderen. Die konnte nur langsam wachsen. Da ist die Europa-Idee, in der Deutschland aufgehen soll, kein ausschließliches Heilmittel, auch nicht für die anderen Länder Europas. Sie sollen alle ihre Selbstübereinstimmung mit sich behalten, pflegen und weiter entwickeln innerhalb gegenseitiger Integration. [30.1.2013]

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