KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
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Intelligente Musik der Kälte
423. Kolumne
– ich fand heute in einem Trödelladen eine Kassette mit 3 Schallplatten (für 3 €): Charles Ives, Kammermusik Vol. 1. Nicht schlecht. Er fing als Spätromantiker an und findet dann allmählich in der freitonalen Kälte ein warmes Plätzchen für sich. In den deutschen Konzerthallen findet Ives praktisch aber nicht mehr statt. Ich höre den eigenwilligen Komponisten jedoch gern. Er kann mithalten mit den Europäern der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Atonale Musik ist nicht Musik ohne Töne, sondern Tonfolgen (auf klassischen oder neueren Instrumenten) ohne jede Harmonie, anders gesagt: die Überwindung der Dissonanz in der der Harmonie entgegengesetzten Richtung. Schönberg ging in seiner (atonalen) 12-Ton-Musik so weit, dass sich in einer 12-Ton-Reihe kein einziger Ton wiederholen durfte, damit keine zufällige Harmonie entstehe oder auch nur so wahrgenommen werden könne.
Wenn du lange genug atonale Musik hörst, hörst du die Musik so, als wäre sie harmonisch, oder anders gesagt: Das Fehlen der Harmonie fällt dir dann kaum noch auf. Solche Werke sind: Schönbergs Variationen für Orchester.
Bei der freitonalen Musik dürfen oder können harmonische Partien oder Cluster oder Wirkungen entstehen, sie werden billigend in Kauf genommen, so etwa in Alban Bergs Oper Wozzeck.
In der elektronischen Musik (des frühen Stockhausen) wird die Tonalität immer nebensächlicher, ist aber stellen- oder phasenweise noch da, wie ja auch Geräusche, etwa fallendes Wasser oder fließendes im Bach im Bereich von D-Dur liegt. Bei Cage schließlich sind die Geräusche in der Tat so geartet, dass sich die Frage nach ihrer Tonalität nicht mehr stellt.
Allerdings nimmt jeder die Satzmelodie etwa eines Rheinländers in dem Satz „Häste dat jesinn?“ oder „Isch hann dat immer schon su jemaat“ die Melodie wahr und man könnte sie in Noten darstellen.
Im Prinzip hat Richard Wagner mit seiner Idee der Sprachmelodik und der ewigen Melodie (endgültige Auflösung der Nummernoper, also auch der Arien) die Grundlagen für Schönberg geschaffen. Erst wird’s chromatisch, das heißt, die Tonarten changieren wegen der vielen Halbtonschritte innerhalb einer Partitur so sehr, dass sie wie Farbvariationen wahrgenommen werden – so in der impressionistischen Musik und in der Spätromantik, schon bei Mahler.
Charles Ives geht diesen Weg in wenigen Werken, ließ aber Melodien weiterhin zu. Richard Strauss ging weiter als Wagner, wollte Melodie und Belcanto aber nicht aufgeben und fuhr zweigleisig und kehrte schließlich wieder ganz zur Harmonie zurück. Hindemith blieb strenger als Neutöner. Bartok fand eigene Wege, mischte. Strawinsky dito. Prokofiew blieb Spätromantiker, nahm aber die expressive Rhythmik dazu, ähnlich auch Schostakowitsch. Richtige Neuerer sind Ligeti, Penderecki, Stockhausen, ...
Sind Atonale und Freitonale Musik eine Sackgasse? Ich weiß es nicht. Das Massenpublikum steht auf Harmonie – so fast die gesamte Rock- und Pop-Musik, auch die Liebhaber der sogenannten Klassik oder E-Musik. Andererseits gibt es viele Filme, wo die Musik kühner ist, als dem Zuschauer bewusst wird – aber da geht es um Spiegelungen und Kommentierungen seelischer Zustände (Psycho-Thriller, Weltraum- oder Science-Fiction-Filme). 29.12.2012
Atonalisierung: Zerfall des Glaubens an Sinn, an Harmonie. Verzweiflung ist’s, wenn auch beherrschte, durchgestaltete, systematische Trauer mit dem Implantat Hoffnung. Hast recht mit deinem Argument: Die Atonalen mussten sich mit ihren Werken nicht auf dem Markt durchsetzen. Nur wenige Werke bekamen Markt- und Konzert- oder Operchancen, WOZZECK etwa. Schönberg hatte seine vor-atonalen Werke, die ganz gut aufgeführt wurden.
Zwischenbemerkung: Sind wir, die wir im Unterholz der Literatur mit dem Buschmesser uns durch den selbsterträumten Dschungel schreiben, nicht auch solche Atonaliker?
Mit Professur kannste alles malen. Mit Lehramt alles schreiben. Mit Filmmusik nebenher alles komponieren.
Ich sagte es ja schon: Es gibt freitonale bis atonale Filmmusik vom Besten, aber die Leute merken’s nicht, sie hören nur ihre eigenen Gefühle.
Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag
(25.09.14)