KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
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Poetry-Polis
481. Kolumne
Ein Gespräch mit Hıdır Eren Çelik
Ihr seid die Poeten, die ... formen und gestalten
Mit dem Rad fahre ich durchs Stockentor der Bonner Universität, dann über den Marktplatz, ich biege beim „Metropol“ in die Brüdergasse ein, am Lenker hängt meine kleine Tasche mit Hıdır Çeliks Gedichtband „Nomaden“, darin steckt mein Zettel mit den Fragen, die ich Hıdır stellen will. Mir war aufgefallen, dass in seinen Gedichten immer wieder vom Traum die Rede ist und von der Verschmelzung von Poesie und Politik. Das soll mein roter Faden sein im Gespräch mit Hıdır Çelik, dem Leiter des MIGRApolis-Hauses in der Brüdergasse – eine sprechende Adresse! Immer wenn ich mein Rad an das Geländer der Unterführung zur Oper anschließe, denke ich: eine bessere Adresse kann das Institut für Migrationsforschung und Interkulturelles Lernen (BIM) und die Evangelische Migrations- und Flüchtlingsarbeit Bonn kaum haben.
Im Treppenhaus stechen die Wandzettel ins Auge: „Das Haus der Vielfalt ist ein Haus des Lernens ... Dieses Haus sieht Vielfalt als Reichtum ... ist Zufluchtsort ... Die Bibel versteht Migration als Grundgegebenheit. Gottes Volk zieht aus der Knechtschaft. Gottes Sohn war Wanderprediger. Unsere Religion ist ‚nichtsesshaft’.“ Im ersten Stock befindet sich Çeliks Büro. Er schaut vom Schreibtisch zur Tür. Durchs Fenster hinter ihm sehe ich über die Klostermauer von St. Remigius hinweg in die ausschlagenden Bäume.
„Ein Mensch, der nicht träumt, | erreicht niemals die Küste ...“, schreibt Çelik in seinem neuen Gedichtband Nomaden (S. 43). Ja, sagt er, Träume sind der Kompass für unsere wesentlichen Ziele. Traum und Leben sind Zwillinge. Als Kind entwickeln wir unsere Phantasie in der Realität des Spiels, wir dürfen als Erwachsene das Träumen nicht verlieren. Ich bin ein politischer Dichter. Ich kritisiere das politische System, wenn es Menschenrechte verletzt und Menschenwürde nicht achtet. Mein Traum ist eine Welt ohne Krieg, ohne Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, ohne Ungerechtigkeit – ich will Gleichheit, Wohlstand und Frieden für alle, und „... es gibt keine Grenzen, die den Fluss der Herzen trennen.“ Das ist keine Utopie, meint Hıdır Çelik. „Ich erblicke meinen Traum der Zukunft in deinen Augen | und entdecke dich ...“ (S. 13)
Ein Menschenleben bewährt sich in seinem Werk, das ein Gedicht eines neuen Bewusstseins sein soll. In diesem Werk überleben wir den Tod: Als Abschied von einem falschen oder unvollkommenen Bewusstsein: „Poesie | ist der Tod, ein Abschied aus dieser Welt“ und in der Weitergabe unserer geläuterten Ideen: „Poesie | ist geschriebenes, gesagtes und gesungenes Lied“ (S. 17f.). Unser Tun wirkt über unseren Tod hinaus. Thomas Mann und Bert Brecht sind nicht tot. Das Gleiche gilt auch für einfache, namenlose Menschen.
„Poesie | ist Nichts und Alles“ (S. 18). Die Welt, Gottes Schöpfung, ist aus dem Nichts entstanden. Sie ist dynamisch wie Poesie. Traumstoff. Dieser Stoff schläft in jedem Menschen. Er kann ihn zum Reden bringen – in seiner Haltung, im Gespräch und im Handeln. Aus dem Nichts der Form entfaltet sich die Poesie der Tat. Vielleicht ist das die Seele. Ich kann sie nicht beweisen. Aber der Glaube daran beruhigt mich, gibt mir inneren Frieden, sagt Hıdır Çelik. Dieser Glaube ist mein Reichtum. Der Tod ist keine endgültige Lösung, sondern Übergang in einem ewigen Prozess von Traum und Leben.
Das erinnert an Richard Rortys Gedanken zur Politik, sage ich, von religiösen Aspekten mal abgesehen. Rorty postuliert in seinem Buch „Kontingenz, Ironie und Solidarität“ (1989) Freiheit statt Wahrheit, er ermuntert zur Selbsterschaffung der Einzelnen als mündige Gesellschafter einer staatlichen Gemeinschaft, Nietzsches Gedanken im Zarathustra aufgreifend. Ich denke auch an Josef Beuys’ Begriff der sozialen Plastik. – Ja, sagt Hıdır Çelik, Politik muss poetisch sein. Sie fängt im Einzelnen an. Jeder muss sich selbstkritisch erfahren, die ‚Migration in sich selbst’ bestehen, nur so kommt es zum Verständnis der Mitmenschen.
In der Kindheit erfahren wir, wenn wir Glück haben, eine unbeschädigte Heimat, sagt Hıdır Çelik. Unsere Kindheit tragen wir wie einen Sack Proviant durch unser Leben, davon zehren wir. Aber es gibt keine Heimat ohne Abschied, kein Leben ohne Abschiede von kindlichen Positionen, ohne Verluste kindlicher Harmonie. In meiner Kindheit habe ich mich nicht ethnisch orientiert. Ich empfand mich als Mensch wie jeder andere. Später stand ich einer ökologisch verletzten Natur gegenüber, ich erkannte die Zerrissenheit einer unpoetischen Welt. Ich trage die Bilder meiner Kindheit im Kopf, die Landschaft Dersim, die Berge von Hakkari, den Fluss Munzur, „der meine Tränen trägt“. Jetzt ist das Rheinland meine Heimat. Ich bin Kurde, Türke, Deutscher, Rheinländer. Ich habe Menschen zu Freunden. Ich weine nicht als Türke oder Kurde ..., sondern immer als Mensch. Das ist oft nicht einfach, ich weiß, viele Menschen stecken einen gern in ihre Schubladen.
Hıdır Çelik holt sein Buch „Der Fluss meiner Träume“ aus dem Regal und liest mir einige Passagen vor. Ich bin wie die Zugvögel, sagt er, auf der Reise nach der Heimat meiner Sehnsüchte. Ich wollte raus aus der Kleinheit der Dörfer, hinein in die Städte. Ich war neugierig. Ich wollte die Welt erforschen. Ich suchte auch andere Kulturen. Als meine Eltern schon in Deutschland waren, machte ich in der Türkei mein Abitur. Dann kam ich auch nach Deutschland und studierte Maschinenbau in Siegen. Während eines Praktikums bei Klöckner-Moeller in Bonn wurde ich Gewerkschaftler bei der IG Metall und vertrat fünf Jahre lang die Interessen der Arbeitnehmer. Dann studierte ich an der Bonner Universität Politikwissenschaft, Soziologie und Vergleichende Literaturwissenschaften, während ich weiter arbeiten ging. Ich schrieb meine Dissertation 1995 bei Professor Jacobsen über das Thema „Die Migrationspolitik bundesdeutscher Parteien und Gewerkschaften“. Nun bin ich seit zwanzig Jahren Leiter der Evangelischen Migrations- und Flüchtlingsarbeit.
Ich habe mich als Jugendlicher nie einer Religion zugehörig gefühlt, wenn auch meine Eltern Alewiten waren. Später in Deutschland fühlte ich eine gewisse Nähe zum Christentum. Dabei hat sicherlich meine alewitische Herkunft eine große Rolle gespielt. Für mich gehören Religionen und Sozialismus zusammen. Jesus Christus sehe ich als gewaltlosen Sozialrevolutionär, zumindest war er das in seiner Zeit. Er predigte gegen Ungerechtigkeit. Mir ist der Glaube wichtig, meine soziale Überzeugung und Verantwortung gegenüber Menschen. Über alle institutionellen Formen von Religionen muss man kritisch diskutieren. Glaube ist etwas anderes. Auch da finde ich Heimat.
Ich frage Hıdır, was ihm Lessings Ringparabel bedeutet. – Die Parabel betrifft die drei großen abrahamitischen Religionen. Im Dorf meiner Kindheit gab es einen Brunnen. Wenn wir Kinder Wasser holten, ging jedes seinen eigenen Weg. Ich denke, es ist egal, welchen Weg du zu Gott gehst, wenn du nur den Brunnen erreichst und das Wasser daraus schöpfst. Das Wasser ist der Glaube, das Leben, und überall ist Gott derselbe Gott. Es geht bei dieser Frage um das Ziel, es gibt viele Wege zu diesem Ziel.
Was ist dein Bonner Traum?, frage ich Hıdır Çelik. – Ein Haus voller Poesie, sagt er, für Poeten, Schriftsteller, Migranten ... für alle. Hier gilt wieder die Gleichung: Poesie ist Politik. Die Poesie ist eine besondere Sprache deiner Bewusstwerdung und der Bewusstmachung anderer. Poesie ist die Botschaft: Du darfst und du sollst träumen von einer besseren Welt. Sie ist machbar, wenn wir alle miteinander reden und uns nicht gegenseitig in unsere Schubladen stecken oder ausgrenzen.
Deshalb hat Hıdır Çelik 1998 auch den Free Pen Verlag gegründet. Dort erscheinen belletristische oder migrationsfachliche Bücher von Autoren mit Migrationshintergrund genauso wie Bücher deutscher Autoren aus Bonn und ganz Deutschland. Der Verlag ist mit dieser Doppelnatur einmalig in Deutschland. Die Edition „Klotho“, die der Bonner Schriftsteller Rainer Maria Gassen als Herausgeber und Lektor betreut, entstand auf Anregung des deutsch-griechischen Autors Giorgios Krommidas.
„Ein Mensch, der nicht träumt, wird niemals glücklich sein.“