KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Mittwoch, 25. März 2009, 16:18
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Aztekisch? - I. Prosa. Mitternachtslöwe (6)

Mitternachtslöwe wurde 1982 geboren und kommt aus Bayern (Deutschland). Über sich selbst schreibt er:

„Wer die eigene Geburt in Frage stellt, dem zerplatzen alle Autoritäten und Obrigkeiten, dem verflüssigt sich alles Feste. Die Religionen, die Moralen, die Gesetze erweisen sich dann als Pfuschwerk, als Gestammel von Schauspielern, denen man keinen Text gegeben hat. Die Respektspersonen werden zu traurigen Clowns, die immer wieder dieselben schlechten Witze reißen müssen. Die Ruhmeshalle der Geschichte verwandelt sich in ein Panoptikum von debilen Königen, tobsüchtigen Generälen, hurenden Päpsten, epileptischen Dichtern, perversen Heiligen. Die Welt wird zum Narrenhaus, in dem die Wärter verrückter sind als die Patienten." (Adolf Holl, "Simon Magus und das Monster"; zitiert aus Sloterdijk/Macho, Weltrevolution der Seele II, S.658 f.)

"Falls Freiheit überhaupt irgend etwas bedeutet, dann bedeutet sie das Recht darauf, den Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen." George Orwell

Frank, der Mitternachtslöwe, schrieb eine Prosaminiatur, die mir schon vor Wochen auffiel, und zum Glück kopierte ich mir den Text, bevor ihn Frank wieder löschte. Als ich ihm schrieb, wie gut ich sein Diptychon fand, veröffentlichte er es wieder. Manchmal brauchen die Dichter die Ermutigung der Leser.



Schlegugaltecht
Text zum Thema Anpassung

(...{-w.e.g-}...)
Es ist eine Kunst, Spatzen zu füttern, eine mühsame, leidige Übung, und Spatzen lieben sie. Spatzen fressen ausgesprochen gerne, selbst im Winter, und zwar unabhängig davon, ob sie gefüttert werden oder nicht. Sie ernähren sich winters vom grünen Salz der Tannen und von den kleinen Dingen, die das Leben erst lebenswert machen. Während Spatzen speisen, fallen sie bewusst durch sonderbares Verhalten auf. Sie hüpfen auf einem Bein, putzen sich mit dem anderen den Schnabel so zärtlich wie die Katze mit der Pfote den Schnurrbart des Nachbarn, der allabendlich Katzengift auslegt, sie jubilieren mit unversehrten Schnäbeln, breiten ihre Flügel aus und fliegen eine 8. Anschließend beobachten sie Menschen - jeden amüsiert, der hoffnungsfroh knusprige Brotbröckchen und süße Kuchenkrümel fallen lässt. Das Lachen der Spatzen gleicht dem Zwitschern erschöpfter Sperlinge, ihr Kichern dem Ruf eines erkälteten Muezzins. Sie verlachen jeden Menschen, denn die Kunst, Spatzen zu füttern, besteht - da das grüne Salz der Tannen und die kleinen Dinge, die das Leben erst lebenswert machen, häufig sind - gerade darin, ihnen weder Brotbröckchen und Kuchenkrümel zu-, noch ihre prinzipielle Selbstständigkeit vorzuwerfen. Es ist eine Kunst, Spatzen zu füttern, und kein aufmerksamer Mensch hat sie je gemeistert.

(...{-z.i.e.l-}...)
Darum konzentriere ich mich darauf, verschneite Waldböden mit trockenen Kastanien zu übersähen, denn ich bin kein Künstler und es ist keine Kunst, später wohlschmeckende Rehe zu füttern. Mit einer Hand verstreue ich Kastanien, in der anderen halte ich eine mit Spinnweben und Mandalas verzierte Gießkanne. Darin pflege ich das kostbare, algige Wasser sommerlicher Waldwegränder aufzubewahren, bis ich den schönsten Baumstumpf finde, den es in der näheren Umgebung gibt. Unter diesem nämlich lebt der kaninchenäugige Kobold Grumpf, der - allzeit durstig - jeden Winter damit verbringt, undefinierbare Hieroglyphen in den Schnee zu pinkeln. Niemand außer mir weiß heute noch von seiner Existenz, denn die Zeiten sind dunkel und die Bildschirme hell, und die alten Sagen vergessen, und die mit Spinnweben und Mandalas verzierten Gießkannen importiert, und das kostbare, algige Wasser sommerlicher Waldwegränder weitgehend exportiert. Einst rettete der kaninchenäugige Kobold Grumpf die Welt vor der sicheren Vernichtung, indem er so manche große Tat vollbrachte. Seitdem versucht seine liebe Frau täglich, ihn zu ermorden. Sie mag keine Rehe, doch mein Dank kennt keine Grenzen. Immer wenn ich winters in den Wald gehe, trage ich nicht nur eine Gießkanne und jede Menge Kastanien, sondern auch feste Stiefel. Damit werde ich sie zertreten, sobald sie mir über den Weg läuft. Der kaninchenäugige Kobold Grumpf nämlich hat nicht nur die Welt gerettet, sondern auch mich. Aber das ist eine andere Geschichte.

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Schlegugaltecht hat leisen Witz und dringt laut ins Gehirn. Der Titel klingt aztekisch, aber der Autor schrieb: „… um ehrlich zu sein, hat der Titel keine Bedeutung. Was ich schreibe, betitele ich meist gar nicht. Am liebsten hätte ich auch diesem Text gar keinen gegeben, aber irgendwas musste ja darüber stehen. So koppelte ich einfach die Wörter ‚schlecht’, ‚egal’ und ‚gut’“. Trotzdem bleibt in meiner Deutung das Aztekische erhalten, als das Fremde, das Ferne, dessen Klang uns reizt.

„Weg“ und „Ziel“ heißen die beiden Teile, die dialektisch zusammengehören. Sofort assoziiere ich „Der Weg ist das Ziel“. Andererseits evoziert die Struktur des Textes mein philosophisches Reflektieren. Beide Male sind die Begriffe Weg und Ziel doppelt und dreifach eingeklammert (einschließlich der Parenthese-Striche), durch Punkte unterbrochen und von ‚Pünktchen’ der Unbestimmtheit umgeben: Unendlich ist der Kontext von Weg, unendlich auch der von „Ziel“. Weg und Ziel, Fixsterne unseres Lebens, stehen wie Oasen in der Wortwüste. Gehen wir hinein in diese Wüsten:

(…{-w.e.g-}…)
Der Weg der fabelhaften Spatzen ist eine 8. Sie fliegen nirgendhin, ihr Weg ruht in sich selbst, symmetrisch, schön, unendlich, wiederholbar, l’art pour l’art - das ist Freiheit! Spatzen füttern bedeutet hier, die Freiheit der Künstler zu verstehen. Belohne sie nicht aus (Selbst-) Mitleid (ich sehe hier einen Anklang an Nietzsche, „Also sprach Zarathustra“), sondern achte sie für ihre Kunst und ihre Unabhängigkeit! Wir sehen: Die Weg-Wüste ist in Wahrheit eine Oase der verständnisvollen Begegnung für Künstler und Kunstbetrachter - oder die Synthese von Lebenskunst und Reflexion. Selbstfindung gelingt im freien Flug des Lebens. Eine Wüste? Nein. Aber eine Utopie? Ja und nein. Eine indirekte Antwort gibt der zweite Teil:

(…{-z.i.e.l-}…)
Der Autor bringt sich ins Spiel und behauptet, er sei kein solcher Künstler wie die Spatzen. Aber er träumt sich in eine koboldliche Welt, er wird Teil eines comic-art-igen Märchenlands, das es natürlich nie und nirgends gibt (Utopie), das wir aber wenigstens entwerfen können als Kopfgeburt; vielleicht gelingt uns partiell die Umsetzung in die gesellschaftliche Realität, die uns umgibt, die uns einzuklammern scheint, in der wir uns immer wieder weglos zu verlieren drohen, „denn die Zeiten sind dunkel und die Bildschirme hell“: Der Matrix-Aspekt kommt noch als eine weitere Gefahr hinzu, auch unseren eigenen Träumen und Sehnsüchten können wir erliegen und an ihrem Gift untergehen - es ist also schwer, vielleicht unmöglich, die Leichtigkeit der Spatzen zu erlernen, zumal dann, wenn wir ihre (Lebens-)Kunst nicht beachten.

So gehören die beiden Texte - Weg und Ziel - zusammen wie Plan und Realität, Wünschen und Traumscheitern. Der erste Teil handelt von der Notwendigkeit der Reflexion und der Notwendigkeit des Gegenteils, er ist also schon in sich selbst dialektisch: Ohne den Willen zur Kunst entsteht keine Kunst, ohne Arbeit kein Werk, ohne Flügel und ohne Luft kein Flug, ohne Widerstände keine Leichtigkeit usw.
Der zweite Teil handelt von der Notwendigkeit, bei der Umsetzung des Plans ein ganzes oder wenigstens ein partielles Scheitern hinzunehmen. Auch dieser Text ist wieder in sich selbst dialektisch: Ohne Traum und ohne Fiktion kann ich die mich umgebende und zu einem guten Teil nicht gewollte und mir nicht angenehme Wirklichkeit nicht aushalten - ohne diese Wirklichkeit aber verlören meine Fiktionen ihren Sinn. Der Autor sagt zu Recht, dass Grumpf, der komische Held seiner Märchenwelt, nicht nur die Welt rettet, sondern auch ihn selbst. Schreiben heißt eine Welt erfinden, in der ich leben kann. Nur wer zuviel träumt, kommt darin um. Wer gar nicht träumt, lebt nicht wirklich…
Wenn wir einst sterben müssen, hören wir auf zu träumen. Aber das ist eine noch ganz andere Geschichte.

Ulrich Bergmann





In der nächsten Kolumne: Katrin Stange,
in der übernächsten: Munnin



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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 DanceWith1Life (27.06.08)
das hat mir Spaß gemacht zu lesen.

 AlmaMarieSchneider (27.06.08)
Bergmann, es macht einfach Spaß Deine Texte zu lesen.
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