KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Montag, 21. Januar 2013, 00:51
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Schnodderton (Benn)

343. Kolumne


Gottfried Benn

Restaurant

Der Herr drüben bestellt sich noch ein Bier,
das ist mir angenehm, dann brauche ich mir keinen Vorwurf zu machen,
daß ich auch gelegentlich einen zische.
Man denkt immer gleich, man ist süchtig,
in einer amerikanischen Zeitschrift las ich sogar,
jede Zigarette verkürze das Leben um sechsunddreißig Minuten,
das glaube ich nicht, vermutlich steht die Coca-Cola-Industrie
oder eine Kaugummifabrik hinter dem Artikel.

Ein normales Leben, ein normaler Tod
das ist auch nichts. Auch ein normales Leben
führt zu einem kranken Tod. Überhaupt hat der Tod
mit Gesundheit und Krankheit nichts zu tun,
er bedient sich ihrer zu seinem Zwecke.

Wie meinen Sie das: der Tod hat mit Krankheit nichts zu tun?
Ich meine das so: viele erkranken, ohne zu sterben,
also liegt hier noch etwas anderes vor,
ein Fragwürdigkeitsfragment,
ein Unsicherheitsfaktor,
er ist nicht so klar umrissen,
hat auch keine Hippe,
beobachtet, sieht um die Ecke, hält sich sogar zurück
und ist musikalisch in einer anderen Melodie.



Kommentar (Ulrich Bergmann):

Als Schüler schon war ich verknallt in diese Sprache, in diesen eleganten Schnodderton, der überzeugte, weil er so direkt, so dialogisch zupackte, und zugleich arrogant monologisch blieb. Wie modern schlenzen die Worte, biegen die Argumente um die Kurve, auch jetzt im Zeitalter der Pflegestufen und Börsenblasen. Und der Tod pfeift immer noch nicht aus dem letzten Loch. Er schlägt härter zu, genauer und unberechenbarer als irgendein Konzern und singt seinen eigenen Blues.

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag

MelodieDesWindes (36)
(08.03.13)
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 loslosch (08.03.13)
benn wirkte auf mich immer schon schwer zugänglich. bis ich dieses einzige fernsehdokument - wenig wochen vor seinem tod aufgezeichnet - sah. die stelle, wo er sich über sich selbst wundert (das soll ich geschrieben haben?).

erstaunlich; denn er gehörte nicht zu diesen viel-schreibern.

 1956 mit koch als interviewer.

hippe deute ich als sense (hüllwort für todesbote).

 EkkehartMittelberg (08.03.13)
Lieber Uli,
du hast das Typische der Prosa Benns trefflich charakterisiert. Ich mochte ihn auch schon als Schüler. Damals waren es die leichter verständlichen, aber dennoch gelungenen Gedichte „Einsamer nie“- „Verlorenes Ich“ und „Astern“.
Ich hatte ihn schon zu einem meiner Lieblingsdichter gemacht, als ich von seiner Lebensphase erfuhr, in der er dem Nationalsozialismus nahe stand. Für mich hat er sich aber überzeugend distanziert und ich halte ihn für einen der bedeutendsten Dichter der Literarischen Moderne.
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