KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Sonntag, 31. Mai 2015, 23:50
(bisher 1.266x aufgerufen)

Qingdao - eine neue Welt (1/11)

452. Kolumne


Qingdao – eine neue Welt
und drei chinesische Parabeln


„... hättest Du Interesse, in Tsingtau (Qingdao, China) als Senior zu unterrichten? Unterricht auf Deutsch, Unterkunft umsonst, Flüge werden gezahlt, und Honorar ... Die Uni ist sehr schön, die Luft gut, Qingdao ist am Meer überwältigend. Herzlichst Dein K., heute wieder aus Peking.“

K. = Wolfgang Kubin, emeritierter Sinologe der Bonner Universität, Schriftstellerkollege, Vorsitzender der Bonner Gruppe im Schriftstellerverband (VS), Übersetzer, Lyriker, Essayist, Erzähler, Organisator, Radfahrer bei Wind und Wetter, Fußballer, Träger des chinesischen Staatspreises und zugleich Kritiker politischer Zustände in China. Ich kenne K. seit zehn Jahren, wir begegneten uns in den Sitzungen des Schriftstellerverbands, aber auch bei Gartenlesungen, die Doris Distelmaier-Haas veranstaltet, und Literaturabenden bei Monika Lamers im Westerwald.

Ich war begeistert von der Möglichkeit, mich in China für die deutsche Literatur zu engagieren. Meine erste Annäherung an das kalkulierte Abenteuer des Geistes war ein weit überzogener Plan, den ich an Qi Dongdong schickte, die mit der Abwicklung beauftragte Geschäftsführerin der Deutschen Abteilung an der Ocean University of China.

Seit Januar 2014 lerne ich zusammen mit meiner Frau Chinesisch, wenigstens die elementarsten Sätze wollen wir sprechen und die wichtigsten Zeichen lesen und schreiben können. Wir engagierten Li Min, eine in Bonn studierende Chinesin aus Shanghai, die gerade ihre Magisterarbeit über die Probleme der Übersetzung des chinesischen Romans „Der Traum der Roten Kammer“ schrieb. Wir lernten viel in kurzer Zeit und freundeten uns an. Nach etwa zwei Monaten sollten wir ein kleines Gedicht von Li Bai übersetzen, das im Chinesisch-Lehrbuch steht, es ist der berühmte Vierzeiler jìng yè si (Nachtgedanken). Seit dieser Zeit vertiefe ich mich in die Dichtung aus der Zeit der Tang-Dynastie und übersetze Gedichte von Du Fu, Meng Haoran, Luo Binwang, Wang Zhihuan, He Zhizhang ... Als ich in Bonn eine Lesung mit dem Lyriker Yang Lian erlebte, hatte ich den Mut, ein Gedicht von ihm zu übersetzen.

Im August kam ein Fernsehteam aus Qingdao nach Bonn und zeichnete eine zweistündige Diskussion auf – über deutsch-chinesische Literatur-Beziehungen samt Einzelinterviews mit mir, dem Bonner Lyriker Ludwig Verbeek und der Übersetzerin, Lyrikerin und Erzählerin Doris Distelmaier-Haas, mit der ich einen Band altchinesischer Gedichte herausgeben werde, den sie illustriert. K. schreibt das Nachwort.

An einem Freitag in den letzten August-Tagen beginnt die Reise nach China. Sie dauert 18 Stunden, bis wir die Wohnung auf dem Fushan-Campus in Qingdao erreichen. Gegen Mitternacht startet die Lufthansa-Maschine in Frankfurt, vor uns liegen 8250 km, etwa 12 Stunden Flugdauer. Wir haben Glück, wir erhalten Plätze in der business class, ein Geschenk aus heiterem Himmel. Die Sitze kann man in die Waagrechte bewegen, bis sie zu kleinen Betten werden. Hausschuhe stehen bereit, warme Socken, eine Decke für die Nacht. Exquisites Essen wird serviert, Wasser und Wein ...

In der Nacht denke ich über meine Aufgabe in Qingdao nach. „Chinesen sind Spontis“, schrieb Kubin, „es geschieht alles aus dem Moment. Absprachen gelten nur bedingt. Man kann immer alles ändern! Das Niveau der Studis ist hoch, egal in welchem Semester. Du solltest einfach auch Sponti werden und alles von der angenehmen Seite sehen. Die Studis sind wiss-begierig. Du wirst Deine Freude haben.“ Mein Vorgänger im letzten Jahr, Hans Christoph Buch, formulierte das vorsichtiger. Ich spürte, an Büchners Woyzeck oder Heiner Müllers Hamletmaschine war nicht zu denken. An Thomas Mann erst recht nicht. Frau Qi schrieb mir lange vor der Reise: „Kürzere Lektüren sind geeigneter für unsere Studenten, denn manche sind ganz am Anfang der Beschäftigung mit Literatur. Das Sommersemester umfasst vier Wochen. Jede Woche treffen Sie sich zweimal mit den Studenten, jeweils für 4 Stunden, Ihr Seminar hat insgesamt 32 Stunden. Jedes Mal könnten Sie die zu behandelnden Stoffe Ihren Assistentinnen geben und vor dem Unterricht ausdrucken und verteilen lassen.“ Das Sprachniveau der Studenten liegt bei B2, das heißt, sie verstehen ungefähr alles, was ich sage. Ich darf meine Erwartungen aber nicht zu hoch schrauben ... Ich schlafe ein und träume eine Geschichte, die der Philosoph Odo Marquardt einmal erzählte, um die Lage der heutigen Philosophie zu illustrieren ...


Ein chinesische Henkerwettstreit

Ein einziges Mal trafen sich die zwei besten Henker Chinas. Sie wollten wissen, wer die Kunst der Enthauptung besser beherrschte. Als Delinquenten, die bei dem Wettstreit der beiden Henker zu enthaupten waren, kamen nur Liebhaber der Wahrheit in Frage, welche die vollkommene Enthauptung nicht als Handwerk, sondern als absolute Kunst begriffen: Die Henker selbst. Die beiden Rivalen mussten sich also gleichzeitig köpfen. Das Ziel der Meister war die reine Enthauptung, bei der das Schwert den Kopf vom Rumpf trennt, ohne dass der Kopf fiel.
Die Henker schritten zum Richtplatz. Sie duldeten kein Publikum außer sich selbst. Sie schauten einander kühl lächelnd an, gaben sich die Hand, griffen dann zum Schwert, und auf ein gemeinsames lei-ses Nicken mit dem Kopf schwang jeder sein schweres Schwert mit der lang gekrümmten scharfen Klinge und führte den Hieb durch den Hals des anderen. Die Schwerter fielen zu Boden. Die geköpften Henker standen fest auf beiden Beinen. Sie spürten keinen Schmerz, so fein war der Schnitt. Sie hatten diesen Augenblick erwartet, aber nicht geahnt, dass er so lange dauert. Sie starrten sich sprachlos an.
Da spürten sie, dass ihre Herzen schlugen und ihr Leben die Kunst widerlegte. Als der eine endlich nickte (und sein Kopf nicht fiel), nickte auch der andere, und sie wussten nun, was sie immer schon wussten: An das Göttliche glauben die allein, die es selber sind.

Was träume ich da? Wächst mir die weite Reise über den Kopf? Oder spiegelt sich im Traum mein Unwissen über eine ganz andere Welt, meine Anspannung gegenüber der Fremde? Hat meine Lage Ähnlichkeit mit der Philosophie von heute, die nicht mehr weiter weiß, deren Kopf abgetrennt ist vom Rumpf des Realen, und die weder denken noch nicken kann, selbst wenn sie wollte? Ach was ... Ich bin froh, dass ich meine Frau nach Qingdao mitnehmen kann. Ich nenne sie, seit wir Chinesisch lernen, taitai, das heißt Ehefrau. Zu zweit werden wir uns besser in einem so fremden Land behaupten. Nun schlafen wir in den nächsten Tag hinein, da ist in China schon der Nachmittag angebrochen.

Zwischenlandung und Wechsel der Crew in Shenyang, nach einer Stunde Weiterflug nach Qingdao: Da stehen mit einem Schild unsere Assistentinnen Margrit und Dawn, Studentinnen der Ocean University of China am Ausgang und holen uns ab! Das Taxi fährt in der Abenddämmerung über eine halbe Stunde durch die vielen Vororte nach Qingdao. Wir treffen in unserer Wohnung auf dem Fushan-Campus ein, der im Osten der Stadt am Meer liegt. Fushan – der über allem schwebende Berg; fu, ein buddhistischer Ausdruck, bedeutet „enthoben der Wirklichkeit“, in den Bergen erkannten die Buddhisten Buddha. Das kleine Felsenmassiv liegt nur einige hundert Meter hinter dem Meer. In der untersten Wohnung befindet sich das Hausmeister-Büro. Die Frau ist freundlich. Am nächsten Tag fragt sie, ob wir mit Trinkwasser versorgt sind. Ja, der 5-Gallonen-Behälter in der Küche ist gefüllt. Erschöpft gehen wir zu Bett und schlafen in den späten Morgen hinein.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag

Graeculus (69)
(10.04.15)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 FRP (10.04.15)
Respekt, Bewunderung, Anerkennung, Glückwunsch und Neid!
Am schönsten ist es, wenn die Chinesen "Reis" im Deutschen sagen: Ein phonetischer Brüller: "Lei".

 loslosch (10.04.15)
@frp: der frisch geborene chinese spricht schon deutsch: "ich bin laus und du bist floh."

 EkkehartMittelberg (10.04.15)
Die Parabel vom Henkerwettstreit hat es mir angetan. Eine Deutungs möglichkeit enthält der Schlusssatz.
Eine andere wäre die, dass das Überleben der Henker sie zur Erkenntnis ihrer Eitelkeit führen kann.
Lassen Sinologen mehrere unterschiedliche Deutungen zu?

 Bergmann (11.04.15)
Dank für Hinweis auf die Silbentrennungen, die ich beseitigt habe.
Die chinesischen Parabeln in diesem Text sind von mir, allerdings ist die erste zu einem guten Teil von dem Philosophen Odo Marquard angeregt.

 Melodia (11.04.15)
Eine Geschichte die genau meinen Geschmack trifft. Zugegeben, bin ich auch etwas voreingenommen. Hut ab für die Parabeln. Gerade der "Henker"-Absatz klingt klassisch chinesisch.

LG
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram