KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Donnerstag, 02. Juni 2016, 22:51
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Ophelia sum ergo cogito (Heiner Müller, Hamletmaschine)

514. Kolumne


Ophelia sum ergo cogito

Heiner Müllers Hamletmaschine stützt sich auf die modern erscheinende Figur eines Hamlet, der trotz aller Entschlossenheit zu handeln - bei Shakespeare ist es die Rache an dem Mörder seines Vaters, bei Müller ist es die Revolution - nicht mehr handeln will, weil er erfahren hat, dass er sich selbst verriet, dass sich die Revolution immer selbst verrät. Müllers Hamlet ist ein verzweifelter Mensch, der sich wünscht, lieber eine Maschine zu sein, weil diese keine Schmerzen hat, kein Gewissen, keinen Seelenwahn, als ein Mensch, dessen Gedanken Wunden sind, noch bevor sie in die Tat umgesetzt werden. Aus diesem Denken spricht die Erkenntnis, dass das Leben, also die Geschichte, absurd ist, und dass selbst Sinnsetzung diese Absurdität nicht aufhebt, weil sich der Mensch selbst verrät. „Ich bin die Schreibmaschine…“ erinnert an die vom Schreibtisch aus angeordneten Morde in Auschwitz oder an Stalins Scheinprozesse und Archipel GULAG, aber an dieser Stelle des Textes ist noch nicht die Maschine gemeint, die dieser Hamlet werden will, sondern hier wird angespielt auf die unüberwindbare Animalität des Menschen, die Müllers Hamlet erkennt, ähnlich wie Shakespeares Hamlet das Leben durchschaut.
Müllers Idee, Hamlet in diesen wichtigen Passagen durch einen Hamletdarsteller zu ersetzen, ist mehrdeutig. Hamlet ist eine Variable, er ist nicht singulär, wir haben seine Nachfolge angetreten – der in seiner intellektuellen Identität gebrochene Mensch des 20. und 21. Jahrhunderts ist Hamlet. Andererseits wirkt die Besetzung Hamlets durch einen Darsteller auch reduzierend.
Ganz anders Ophelia. Müllers Ophelia, die den Hamletdarsteller mit ihren Worten einrahmt, wird Hamlet als ebenbürtige Intellektuelle zur Seite gestellt. Sie leidet wie er, aber sie resigniert nicht in gleicher Weise. Es ist die Revolution der Frau in der privaten Sphäre, sie beendet ihre bisherige Rolle als Frau, sie bricht ihr bisheriges Leben ab, gibt ihr Zuhause auf, das kein Zuhause war, sie nimmt die Wunde an, die ihr entstanden ist, und resigniert nicht: „Ich gehe auf die Straße, gekleidet in Blut.“ Ihr Herz, eine Uhr (Ordnung), reißt sie aus ihrer Brust, aber offen bleibt, ob ihr Widerstand gelingt, ob ihr ein Herz geblieben ist oder wieder wird. Diese Ophelia hat erkannt, dass der Krieg unmittelbar in den engen Beziehungen der Menschen herrscht, und nicht erst auf der abstrakteren Ebene größerer Gruppen. Müllers Ophelia nutzt ihre Erkenntnis zur Revolution ihrer selbst! – Welch ein Unterschied zu der Ophelia Shakespeares!
Müllers Ophelia ist auch in ihrer geschlechtlichen Rolle revolutionär. Sie bricht mit ihrer bisherigen Rolle und mit allen Männern, also auch mit Hamlet, den sie liebte, der ihre Liebe nicht erwiderte. Müllers Ophelia ist durch die herkömmliche Liebe nicht mehr erpressbar, sie kompromittiert sich selbst nicht mehr, sie überwindet sich und ihre traditionelle Frauen-Rolle.
Müller zeigt, wie die öffentliche Sphäre in der privaten ihr Fundament hat, und umgekehrt; es ist dies ein dialektisches Verhältnis beider Sphären.
In ihrer zweiten Erscheinung lässt sich Ophelia wie Christus deuten. Sie scheitert am Kreuz unseres Jahrhunderts. Auch ihr gelingt nicht die weltliche Freiheit, ihre Revolution scheitert, sie wird an den Rollstuhl genagelt. Nicht leicht ist die Deutung der Tiefsee. Möglicherweise eine Anspielung auf den Schuldbereich des Es, das Unterbewusste.
Ophelia gibt nicht auf. Sie ist wieder gefangen, aber sie nimmt ihre Erkenntnis nicht zurück. Sie identifiziert sich mit Elektra, mit den Opfern, aber sie kann die Revolution nicht fortsetzen, sie will, gottgleich als Gebärerin der Welt, die Welt sogar (strafend) zurücknehmen, und in dieser ‚Rache’ wird sie dem erkennenden Hamlet im Mittelteil der Szene ähnlich, sie wird wenigstens die ideologische Schwester von Bruder Hamlet. Die Besiegte sucht im Tod Befreiung, vielleicht noch konsequenter und ehrlicher als Hamlet, der Maschine werden will, aber sie scheint andererseits mit ihrem Erkenntnisleiden ein wenig in die Nähe Wagnerscher Erlösungsideen zu geraten. Aber wie dem auch sei - zu erkennen ist, dass Müllers Ophelia eine politisierte Weiterentwicklung der Shakespeareschen Enttäuschten und Verzweifelten ist, dass auch der gescheiterte Widerstand die Sinngebung unseres Seins ausmachen kann. Die Körper scheitern, der Geist scheitert, aber im Durchschauen unserer Verhältnisse liegt die Legitimierung unserer Existenz, und so gesehen ist auch die resignierende Sehnsucht Hamlets bei Müller noch Widerstand und Konstituierung unseres Menschseins.

Ulrich Bergmann

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