de Waal, Frans:
Primaten und Philosophen
Wie die Evolution die Moral hervorbrachte
Eine Rezension von JoBo72
Der Verhaltensforscher Frans de Waal beschäftigt sich mit Affen, genauer: mit Schimpansen und Bonobos. Auch er hat zahlreiche populärwissenschaftliche Bücher veröffentlicht, die in hervorstechender Weise die Ergebnisse seiner Primatologie vermarkten. Titel wie der „Der gute Affe“ (1997) und „Der Affe in uns“ (2006) sollen polarisieren und provozieren. In diese Reihe fügt sich Primaten und Philosophen. Wie die Evolution die Moral hervorbrachte nahtlos ein, trotz des verhältnismäßig sachlichen Titels. De Waal hat 2006 seinen Vortrag im Rahmen der „Tanner-Lectures on Human Values“ unter dem Titel „Primates and Philosophers. How Morality Evolved“ veröffentlicht, ergänzt um Kommentare namhafter Ethikerinnen und Ethiker aus dem angelsächsischen Raum. Nunmehr sind die Texte in deutscher Sprache verfügbar.
Obwohl als Soziobiologe grundsätzlich in der Spur des Evolutionismus, betrachtet de Waal in seiner Arbeit weniger sich ausbreitende Aggression als vielmehr vermeintliche Früh- und Vorformen echter Moralität, die er in den von ihm observierten Primatenkolonien entdeckt haben will. Dahinter bleibe es freilich beim (Gattungs-)Egoismus, doch die Natur neige trotzdem (oder gerade deshalb) zum Guten. Insoweit erhärtet die Verhaltensbiologie nur das, was ohnehin schon klar war und von kaum jemandem ernsthaft bestritten wird: der Mensch hat einen natürlichen Hang zum Guten.
Dennoch scheint es – und hier endet die Kompatibilität von biologischer Verhaltungsforschung und philosophischem Mainstream – Sphären der Moralität zu geben, die unmittelbar an Rationalität gebunden sind und die allein dem Menschen obliegen. Wie können sich diese aus dem beobachteten tierischen Sozialverhalten bzw. den daraus erschlossenen mutmaßlichen Verhaltensdispositionen unserer gemeinsamen Vorfahren entwickelt haben? Dies ist wohl nur denkbar, wenn die menschliche Moralität auf eine ebensolche Ebene von Instinkthandeln degradiert wird. Genau diesen Weg geht de Wall. Handeln Affen oder Menschen „gut“, dann tun sie dies genetisch prädisponiert und befördert durch den Selektionsdruck der Evolution, also „instinktiv“ und „artorientiert“. Damit befördern sie wiederum die moralische Evolution ihrer eigenen Art. De Waal spricht in diesem Sinne von „sozialen Instinkten“, wenn er menschliche Moralität im evolutionären Prozess verankern will.
Daraus erwächst ein erstes Problem: Handeln, das andere Arten und noch nicht lebende Artgenossen in die Maxime des Handelns einbezieht (etwas, dass im Zusammenhang mit einer dringend nötigen „Klima-Moralität“ eine große Rolle spielt), fiele dann als Ergebnis von Universalisierung und Abstraktion ebenso aus dem Rahmen wie die Möglichkeit, sich überhaupt anders verhalten zu können als die naturgegebenen Determinanten es verlangen. Denn es gilt als allgemein anerkannt, dass die Rede von „Moral“ im negativen Modus die Freiheit zu unmoralischem Verhalten voraussetzt, ebenso wie die Absicht, die Maxime des Handelns auf Verallgemeinerbarkeit zu prüfen, was wiederum an die Abstraktionsfähigkeit des Handelnden gebunden ist, die schließlich auf das gründet, was wir Vernunft nennen. Um sagen zu können, jemand handelt moralisch gut, müsste für diesen „Jemand“ die Möglichkeit vorausgesetzt werden zu erkennen, dass es wünschenswert ist, wenn alle so handelten und dass dieser Jemand deswegen aus einer Reihe von Handlungsmöglichkeiten diese eine frei ausgewählt hat. Bedingung dieser Möglichkeit ist die Vernunft, mit deren Hilfe die abstrakte Prüfung auf Verallgemeinerbarkeit eigener Vorstellungen geleistet wird. All dies ist dem Moralbegriff inhärent, von all dem kann aber bei Tieren nicht gesprochen werden.
Auf diesen Punkt weisen für die gute, alte Philosophie die Kommentatoren Kitcher, Korsgaard und Singer hin, um den Begriff der Moral für menschliche Wesen (bei Singer: „Wesen mit Interessen“) zu reservieren. Man könnte sagen: Nicht alles, was an Verhalten bei Tieren beobachtbar ist, das moralische Qualitäten zeigt (helfen, teilen, schützen) ist in diesem Sinne moralisches Verhalten. Kurz: Nicht jedes Handeln, das aussieht wie moralisches Handeln ist zugleich auch moralisch, gemessen am Anspruch, der mit Moralität verbunden ist (Einsicht in die Notwendigkeit der Verallgemeinerbarkeit der Handlungsmaxime, Freiheit zur Möglichkeit, sich [trotzdem!] anders zu entscheiden).
De Waal hat ein anderes Konzept von Moral als die Mehrheit der Philosophen, wenn er davon spricht, dass die „Evolution die Moral hervorbrachte“ und dies am Verhalten von Tieren erkennen will. Ursächlich ist dabei, dass er Funktionalität und Intentionalität gleichsetzt. Was in der Biologie möglich ist (wenn und soweit sie sich nicht-teleologisch versteht und daher von „Intention“ gar nicht die Rede sein kann), ist in der Philosophie ein schwerer Kategorienfehler. Wenn der Biologe sieht, dass Affen einander helfen, fragt der Philosoph: „Tun sie es mit Absicht?“ Das sind zwei verschiedene Ebenen, und erst bei letzterer beginnt sinnvoller Weise die Rede von „Moral“. Und selbst wenn eine Absicht vorliegt, so ist diese, darauf macht Kant aufmerksam, an und für sich zu beurteilen. Erst wenn nicht das Interesse, sondern die Pflicht handlungsleitend war, ist die Handlung moralisch gut zu nennen – eine feine Differenz zum Utilitarismus. Dies allerdings verlangt einen Grad an Abstraktion, der bei Tieren, wie bereits bemerkt, nicht vorhanden ist. Allein dem Menschen ist die Intellektualität zu eigen, aus der die Fähigkeit zur Einsicht in die Gültigkeit von Prinzipien erwächst, denen er beim moralischen Handeln „aus Pflicht“ folgt, obgleich er die grundsätzliche Freiheit zur Möglichkeit verspürt, dies nicht zu tun. Im Humanum der Moral erhebt sich mit Blick auf die Ursache Vernunft über Instinkt, auf die Folge Handlung über Reflex und auf die Bewertung Intention über Funktion.
Sowie man aber davon ausgeht, dass die Evolution alles hervorgebracht hat, hat sie freilich auch die Einsicht und mit der Einsicht die Freiheit und mit der Freiheit die Moral hervorgebracht. Doch zumindest diesen Umweg muss auch der Naturalist gehen. Der unmittelbare Nachweis „moralischen“ Verhaltens bei Tieren geht am Eigentlichen der Moralität vorbei. De Waal schafft also das Problem der Genealogie der Moral auch nicht aus der Welt und die „evolutionäre Ethik“ im Gewand von Sozio- und Verhaltensbiologie löst ihr Versprechen, reinen Tisch zu machen mit metaphysischen Annahmen und damit die Lösung für die Frage nach der Ursache von Moral naturalistisch zu erarbeiten, nur teilweise ein: die Metaphysik ist zwar weg, eine Lösung jedoch nicht da.
Obwohl als Soziobiologe grundsätzlich in der Spur des Evolutionismus, betrachtet de Waal in seiner Arbeit weniger sich ausbreitende Aggression als vielmehr vermeintliche Früh- und Vorformen echter Moralität, die er in den von ihm observierten Primatenkolonien entdeckt haben will. Dahinter bleibe es freilich beim (Gattungs-)Egoismus, doch die Natur neige trotzdem (oder gerade deshalb) zum Guten. Insoweit erhärtet die Verhaltensbiologie nur das, was ohnehin schon klar war und von kaum jemandem ernsthaft bestritten wird: der Mensch hat einen natürlichen Hang zum Guten.
Dennoch scheint es – und hier endet die Kompatibilität von biologischer Verhaltungsforschung und philosophischem Mainstream – Sphären der Moralität zu geben, die unmittelbar an Rationalität gebunden sind und die allein dem Menschen obliegen. Wie können sich diese aus dem beobachteten tierischen Sozialverhalten bzw. den daraus erschlossenen mutmaßlichen Verhaltensdispositionen unserer gemeinsamen Vorfahren entwickelt haben? Dies ist wohl nur denkbar, wenn die menschliche Moralität auf eine ebensolche Ebene von Instinkthandeln degradiert wird. Genau diesen Weg geht de Wall. Handeln Affen oder Menschen „gut“, dann tun sie dies genetisch prädisponiert und befördert durch den Selektionsdruck der Evolution, also „instinktiv“ und „artorientiert“. Damit befördern sie wiederum die moralische Evolution ihrer eigenen Art. De Waal spricht in diesem Sinne von „sozialen Instinkten“, wenn er menschliche Moralität im evolutionären Prozess verankern will.
Daraus erwächst ein erstes Problem: Handeln, das andere Arten und noch nicht lebende Artgenossen in die Maxime des Handelns einbezieht (etwas, dass im Zusammenhang mit einer dringend nötigen „Klima-Moralität“ eine große Rolle spielt), fiele dann als Ergebnis von Universalisierung und Abstraktion ebenso aus dem Rahmen wie die Möglichkeit, sich überhaupt anders verhalten zu können als die naturgegebenen Determinanten es verlangen. Denn es gilt als allgemein anerkannt, dass die Rede von „Moral“ im negativen Modus die Freiheit zu unmoralischem Verhalten voraussetzt, ebenso wie die Absicht, die Maxime des Handelns auf Verallgemeinerbarkeit zu prüfen, was wiederum an die Abstraktionsfähigkeit des Handelnden gebunden ist, die schließlich auf das gründet, was wir Vernunft nennen. Um sagen zu können, jemand handelt moralisch gut, müsste für diesen „Jemand“ die Möglichkeit vorausgesetzt werden zu erkennen, dass es wünschenswert ist, wenn alle so handelten und dass dieser Jemand deswegen aus einer Reihe von Handlungsmöglichkeiten diese eine frei ausgewählt hat. Bedingung dieser Möglichkeit ist die Vernunft, mit deren Hilfe die abstrakte Prüfung auf Verallgemeinerbarkeit eigener Vorstellungen geleistet wird. All dies ist dem Moralbegriff inhärent, von all dem kann aber bei Tieren nicht gesprochen werden.
Auf diesen Punkt weisen für die gute, alte Philosophie die Kommentatoren Kitcher, Korsgaard und Singer hin, um den Begriff der Moral für menschliche Wesen (bei Singer: „Wesen mit Interessen“) zu reservieren. Man könnte sagen: Nicht alles, was an Verhalten bei Tieren beobachtbar ist, das moralische Qualitäten zeigt (helfen, teilen, schützen) ist in diesem Sinne moralisches Verhalten. Kurz: Nicht jedes Handeln, das aussieht wie moralisches Handeln ist zugleich auch moralisch, gemessen am Anspruch, der mit Moralität verbunden ist (Einsicht in die Notwendigkeit der Verallgemeinerbarkeit der Handlungsmaxime, Freiheit zur Möglichkeit, sich [trotzdem!] anders zu entscheiden).
De Waal hat ein anderes Konzept von Moral als die Mehrheit der Philosophen, wenn er davon spricht, dass die „Evolution die Moral hervorbrachte“ und dies am Verhalten von Tieren erkennen will. Ursächlich ist dabei, dass er Funktionalität und Intentionalität gleichsetzt. Was in der Biologie möglich ist (wenn und soweit sie sich nicht-teleologisch versteht und daher von „Intention“ gar nicht die Rede sein kann), ist in der Philosophie ein schwerer Kategorienfehler. Wenn der Biologe sieht, dass Affen einander helfen, fragt der Philosoph: „Tun sie es mit Absicht?“ Das sind zwei verschiedene Ebenen, und erst bei letzterer beginnt sinnvoller Weise die Rede von „Moral“. Und selbst wenn eine Absicht vorliegt, so ist diese, darauf macht Kant aufmerksam, an und für sich zu beurteilen. Erst wenn nicht das Interesse, sondern die Pflicht handlungsleitend war, ist die Handlung moralisch gut zu nennen – eine feine Differenz zum Utilitarismus. Dies allerdings verlangt einen Grad an Abstraktion, der bei Tieren, wie bereits bemerkt, nicht vorhanden ist. Allein dem Menschen ist die Intellektualität zu eigen, aus der die Fähigkeit zur Einsicht in die Gültigkeit von Prinzipien erwächst, denen er beim moralischen Handeln „aus Pflicht“ folgt, obgleich er die grundsätzliche Freiheit zur Möglichkeit verspürt, dies nicht zu tun. Im Humanum der Moral erhebt sich mit Blick auf die Ursache Vernunft über Instinkt, auf die Folge Handlung über Reflex und auf die Bewertung Intention über Funktion.
Sowie man aber davon ausgeht, dass die Evolution alles hervorgebracht hat, hat sie freilich auch die Einsicht und mit der Einsicht die Freiheit und mit der Freiheit die Moral hervorgebracht. Doch zumindest diesen Umweg muss auch der Naturalist gehen. Der unmittelbare Nachweis „moralischen“ Verhaltens bei Tieren geht am Eigentlichen der Moralität vorbei. De Waal schafft also das Problem der Genealogie der Moral auch nicht aus der Welt und die „evolutionäre Ethik“ im Gewand von Sozio- und Verhaltensbiologie löst ihr Versprechen, reinen Tisch zu machen mit metaphysischen Annahmen und damit die Lösung für die Frage nach der Ursache von Moral naturalistisch zu erarbeiten, nur teilweise ein: die Metaphysik ist zwar weg, eine Lösung jedoch nicht da.
Zurück zur Liste der Rezensionen von JoBo72 , zur Autorenseite von JoBo72, zur Liste aller Buchbesprechungen