Kreßner, Martina:

Lebenssplitter

Eine Rezension von  Rudolf
veröffentlicht am 09.04.10

Der Einstieg in die in Form einer Ich-Erzählung geschriebenen Geschichte wird dem Leser nicht leicht gemacht. Die Hauptfigur mischt sachliche Beschreibungen ihres Alltags als Hausfrau unvermittelt mit inneren Monologen, ihren nächtlichen Träumen, Wachträumen und Erinnerungen. Ein weiterer Erzählstrang öffnet sich, als sie die Tagebücher ihrer Mutter und ihrer Großmutter findet. Die Tagebucheinträge sind allerdings klar mit Datum gekennzeichnet und wenn die Hauptfigur alte Briefe liest, sind sie mit Eingangs- und Grußformel versehen, sodass der Leser sich orientieren kann. Hat der Leser die Struktur der Geschichte einmal erfasst, besteht ein Reiz beim Lesen darin, sich an den Bruchstellen zu fragen, wo die Erzählung weitergeht, bei der Großmutter, der Mutter oder der Ich-Erzählerin?“

Der Titel des Romans „Lebenssplitter“ ist Programm. Dem Leser werden Momentaufnahmen, Fragmente eben Splitter von drei Frauenleben präsentiert, die die Umrisse der ganzen Leben erkennen lassen, aber nun miteinander vermengt vor dem Leser ausgebreitet liegen. Immer wieder wechselt die Geschichte zwischen den Tagebucheinträgen der Großmutter, aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg, Erinnerungen an die Mutter, vom Beginn des zweiten Weltkrieges bis in die 1970er Jahre, und dem Erleben der Hauptfigur. Die Geschichte läuft parallel entlang dreier Zeitstränge ab. Kindheitserinnerungen, die erste Regelblutung, der erste Ball, der erste Mann, das erste Kind werden für jede der Frauen gegenübergestellt.

Den Rahmen bilden die Erlebnisse der Hauptfigur in der Jetztzeit. Sie hat für die Familie ihr Studium abgebrochen und schuftet nun am Rande ihrer Belastbarkeit als fürsorgliche Mutter von vier Kindern und Ehefrau eines erfolgreichen Politikers. Sie ist Ende dreißig, und versucht im Rückblick auf ihr bisheriges Leben zu verstehen, warum sie trotz des perfekt geführten Haushalts, trotz der mustergültig geordneten Familienverhältnisse unzufrieden ist. Sie sucht bei der Großmutter und der Mutter Anhaltspunkte, um zu begreifen, was in ihr ererbt ist, was ihr im Elternhaus anerzogen wurde, was ihr vom Mann aufgebürdet wird, was vom gesellschaftlichen Umfeld erwartet wird und was sie selbst entschieden hat.

Am Anfang der Geschichte weiß sie nur, dass Mutter und deren Mutter Selbstmord begingen. Und obwohl der Selbstmord der Mutter fast zwanzig Jahre zurückliegt geht sie noch einmal alle Erinnerungen durch und spricht mit Personen, die ihre Mutter noch kannten, um zu rekonstruieren, wie es zu dem Selbstmord kam, ob Großmutter, Mutter und letztlich sie selbst etwas gemeinsam haben, ob sie selbst suizidgefährdet ist.

Zwischen den Lebenssplittern der Protagonistin, ihrer Mutter und der Großmutter tauchen Splitter weiterer Menschenleben auf. Die Familienmitglieder der Großmutter und da besonders die Schwester, die als Frauenrechtlerin mit der Familie bricht, der alkoholkranke Vater der Hauptfigur, ihr Ehemann, der alle Klischees eines Machos erfüllt. Durch diese zusätzlichen Figuren werden unterschiedliche Weltanschauungen, Moden und Strömungen in die Geschichte eingeflochten wie etwa die Tugendhaftigkeit und Vaterlandsliebe vor dem ersten Weltkrieg, der Nationalsozialismus oder die Gesellschaftskritik der 68er.

Die Hauptfigur gleicht das, was sie über ihre Mutter und Großmutter herausfindet, mit ihren eigenen Erlebnissen ab. Parallelen treten zutage, wie etwa die Sehnsucht aller drei Frauen nach einer heilen Welt an der Seite eines liebevollen, treusorgenden Mannes, aber auch krasse Unterschiede, wie die bitteren Einschnitten, wenn geliebte Gatten oder Söhne nicht aus dem Krieg heimkehren.

Alle Erlebnisse werden aus der Sicht von Frauen dargestellt werden. Männer erscheinen nicht als selbst handelnde Personen sondern stets, wie sie von den Frauen in der Geschichte wahrgenommen werden. Ob das Buch auch oder gerade wegen dieser einseitigen Darstellungsweise an Männer gerichtet ist, bleibe als Frage stehen. In jedem Fall besteht die Gefahr, dass bei dem Leser wie der Leserin manche der Splitter unter die Haut gehen.

Der Roman ist keine bequeme Lektüre. Auf der Geschichte lastet die Unzufriedenheit der Hauptfigur, unglücklich, unentschlossen, eingesperrt in einem selbstgewollten und doch aufgezwungenen Käfig. Eindringlich wird die Zerrissenheit der Protagonistin dargestellt. Stolz räumt sie auf und putzt, um an anderer Stelle niedergeschlagen zu sein, weil sie wie eine Putzfrau behandelt wird. Liebevoll deckt sie den Tisch, schmiert Schnittchen für ihren Mann und die Kinder, um an anderer Stelle wütend zu sein, dass sie wie eine Küchenhilfe behandelt wird. Sie gibt immer nach und ist unzufrieden, dass sie immer nachgibt. Nur an wenigen Stellen blitzt auf, dass es sich überhaupt um eine selbstständige Frau handelt, wenn sie etwa ohne Mann und Kinder vom Rheinland in den real existierenden Sozialismus nach Ostberlin fährt, um eine Bekannte ihrer Mutter nach der Zeit vor ihrer Geburt zu fragen. Die äußere Zersplitterung der Geschichte setzt sich in der Person der Hauptfigur fort, ohne dass es ein erlösendes Ende gäbe.

Für alle, die das Thema Stellung der Frau in der Gesellschaft interessiert, ist der Roman eine empfehlenswerte Lektüre. Themen aus einhundert Jahren Frauenbewegung werden leicht verdaulich angerissen. Auch wenn der Band 1995 erschien, hat er nichts von seiner Aktualität verloren. Dass es mittlerweile normal ist, wenn Frauen in den Medien zu Wort kommen und wichtige Ämter in der Politik bekleiden, dass sie rechtlich gleichgestellt sind, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Frauen nach wie vor in den Vorständen der Konzerne unterrepräsentiert sind, dass sie nach wie vor nicht den gleichen Lohn für gleiche Arbeit bekommen. Darüber hinaus tastet sich die Autorin einfühlsam entlang der Grenze zwischen Frau und Mann, die sich in den vergangene einhundert Jahren nicht verschoben hat, die tief im Frau- und Mannsein verwurzelt ist und sich nicht einfach durch Gehaltsvergleiche, Sitzverteilung in Wirtschaft, Verwaltung oder Politik messen lässt.
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