Frau M.

Erzählung zum Thema Krankheit/ Heilung

von  engelsgleich

Sie stand alleine am Bahnhof. Wie ich es vermutet hatte. Sie hatte ihren Wintermantel an, obwohl es warm war. Ihre grauen Haare hingen in dünnen Strähnen hinunter.
Da stand sie mit ihrem großen Koffer.
Die Frau, die ich kannte, seit ich ein kleines Kind war.
Sie war unsere Obermieterin. Und sie gab mir immer Bonbons. Kirschbonbons, weil sie wusste, dass ich die am Liebsten mochte.
Aber inzwischen war ich kein Kind mehr.
Ein Zug rollte in den Bahnhof. Unsere Blicke trafen sich, doch in ihren Augen konnte ich keinen Ausdruck des Wiedererkennens finden. Sie schaute durch mich hindurch, als hätte sie mich noch nie gesehen.                       
„Frau M.“, sagte ich und ging langsam auf sie zu. Sie erschrak. „Frau M., wo wollen sie denn hin?“
Verunsichert schaute sie mich an: „ Nach Chemnitz, nach Hause,“ sie lächelte, „zu meinem Mann.“
Ich schluckte. Ihr Mann war tot. Und das schon seit 30 Jahren.
Der Zug hielt an, ein paar Leute stiegen aus.
„Frau M., ihre Tochter wartet auf sie, ich soll sie holen.. es gibt Kuchen!“
Stille. Sie schien nicht zu wissen, wovon ich sprach. „Meine Tochter?“ fragte sie leise. „ja, ihre Tochter,“ sagte ich, „kommen sie doch mit!“
Sie zögerte. Warum sollte sie auch mit jemandem mitgehen, den sie „nicht kannte“? Warum sollte sie mit einer „Fremden“ mitgehen?
Ich nahm sie vorsichtig an der Hand. „Bitte..“.
Der Zug fuhr an.
Langsam folgte sie mir.

Die Krankheit kam in kleinen Schritten, schlich sich an, so dass man lange nicht verstand.
Sie verlegte ab und zu ihren Schlüssel, sie verwechselte die Wochentage und manchmal wirkte sie abwesend. Aber das passiert jedem mal und sie wurde alt.
Niemand ahnte etwas.
Doch als sie den Herd mehrmals nicht ausschaltete, als sie ihren Geburtstag vergaß und mich einmal für ihre Tochter hielt, konnte niemand mehr übersehen, dass etwas mit ihr nicht stimmte.
Frau M. hatte Alzheimer.

Wir gingen die Straße hinunter, zu dem Haus, in dem wir wohnten.
„Schön ist es hier!“, sagte sie und lächelte versonnen.
Ich starrte auf den Boden und nickte. Seit 20 Jahren lebte sie nun hier. Und erkannte nichts wieder.
„Wohnst du hier?“, fragte sie mich und schaute mich aufmerksam an.
Ich nickte abermals.
„Dann hast du’s aber gut!“, antwortete sie.

Und ich konnte einfach nicht mehr anders.
Ich fing an zu weinen.
Und sie tröstete mich.
Ohne zu wissen wer ich war und warum ich weinte.


Anmerkung von engelsgleich:

Ein Augenblick, an den ich mich wohl immer erinnern werde.
Vielleicht, weil mir in dem Moment erst bewusst wurde, was es mit dieser Krankheit auf sich hat.
Und dass sie nie wieder der Mensch sein würde, der sie mal war.

Frau M. ist inzwischen 84 Jahre alt und lebt in einem Heim. Sie ist ein absoluter Pflegefall und erkennt ihre eigene Tochter nicht mehr.
Die Ärzte sagen, dass es für die Angehörigen schlimmer ist, als für die Betroffenen selbst.
Frau M. würde es gut gehen, in "ihrer Welt".

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Kommentare zu diesem Text


 Sternenpferd (02.08.06)
finde ich sehr gut geschrieben:)
weniger gut finde ich die krankheit an sich :(

alles liebe
*sternenpferd*

 engelsgleich meinte dazu am 02.08.06:
Danke für das Lob und deine Empfehlung! :)

Nein, die Krankheit ist nicht gut, ganz und gar nicht... :(
Einzigartig (42)
(03.08.06)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 engelsgleich antwortete darauf am 03.08.06:
Danke! :)

Ich denke das Schlimmste ist einfach, dass die Personen sich so verändern, dass sie nie wieder sind was sie einmal waren und auf die Angehörigen auch teilweise aggressiv reagieren, da sie diese eben nicht mehr erkennen.

Ich wünsch dir auch noch einen schönen Abend!
Liebe Grüße zurück!

 Secretgardener (24.08.06)
Weicher, einfühlsamer Text. Gefällt mir, wie Du Dir Gedanken über Sie machst.
Ich habe eine Tante, ich weiß nicht, was Sie genau hat, aber es geht auch in die Richtung Alzheimer/Demenz. Es kam recht plötzlich. Meine Oma entdeckte Sie, wie Sie auf der Fensterbank saß. Früher, wenn ich da war habe ich meine Ohren etwas auf Durchzug gestellt, heute ist kaum was aus Ihr rauszubekommen; da wünsche ich mir die Zeiten zurück...
Liebe Grüße, Angelo.

 engelsgleich schrieb daraufhin am 24.08.06:
Ja, das ist das Schlimmste - dass die Leute einfach nie mehr so werden, wie sie einmal waren.. das wird einem plötzlich so bewusst!

Danke für deinen Kommentar und deine Empfehlung! :)

Lg, engelsgleich
Ines (62) äußerte darauf am 26.02.11:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 engelsgleich ergänzte dazu am 03.03.11:
Vielen Dank.

 Dieter_Rotmund (17.10.19)
Ist das autobiographisch?

Anyway, der Schluss ist einfach zu ktischig formuliert. Angesichts des sehr gut geschriebenen ersten 50% lohnt sich hier aber eine Überarbeitung auf jeden Fall!

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 06.07.20:
Ja, finde ich noch immer.
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