Alles stürzte ein. Mein so sorgfältig aufgebautes Gerüst, meine Burg, meine kleine, unsichtbare Mauer um meine Gesichtszüge brach in sich zusammen, als du vor meiner Tür standest.
Es ist Februar, es ist kalt und ich krank. Wobei ich mich nicht direkt krank fühle - ich will krank sein, will mich schlecht fühlen können. Meine schriftliche Arbeit, die zu erledigen ist, liegt noch zu über drei Vierteln vor mir und auch das T-Shirt, das ich trage, das nicht einmal mir gehört, sondern einem Menschen, mit dem ich innerlich schon lange abgeschlossen habe, fühlt sich krankmachend an.
Ich bin allerdings zu faul, um mich unter die Dusche zu stellen, noch zur dritten Stunde in die Schule zu gehen und den Mädchen aus der sechsten Klasse dabei zuzusehen, wie sie gegenseitig die an diesem Tag ausgeteilten Rosen, Liebesbriefchen und Herzen der jeweils anderen bestaunen. Ich würde weder Rosen noch Briefe bekommen, und ich weiß nicht, ob ich aus diesem Grund zuhause bleibe.
Ich sehe dem spärlichen Regen zu, wie er alle Viertelstunde an meine Scheibe klopft, und schließlich gegen halb zehn Uhr aufgibt. Meine Lethargie hat ihn wohl erschöpft. Ich erwische mich immer wieder dabei, wie ich fast verstohlen immer wieder auf mein Mobiltelefon sehe.
Wir haben uns damals noch nicht wirklich unterhalten - einmal hast du meine Nummer aus dem hiesigen Telefonbuch herausgesucht, und da es meinen Namen in dieser Ortschaft nur einmal gibt, hast du angerufen. Deine Stimme hat damals ein wenig gezittert, und du hast dich wiederholt. Ich hätte dich aus der Hörmuschel reißen und umarmen wollen, so berührt hast du mich, als du mich fragtest, ob es mir gut ginge. Niemand hat mich das je so gefragt, dass ich es ihm glaubte.
An diesem Morgen haben wir ein paar der obligatorischen Kurznachrichten ausgetauscht - wobei der Inhalt alles andere als obligatorisch ist; es nie gewesen ist.
Doch ich habe Angst, ich will mich krank fühlen, ich will schlechte Laune verbreiten, aber niemand ist da, um sie mit mir zu teilen.
Ich kann mich nicht auf Anhieb mit dem Gedanken anfreunden, dass mir etwas Gutes passiert; fast zwanghaft suche ich nach einem Haken, nach einem Haar in der Suppe. Die immer vorhandene Nadel im Heuhaufen allerdings, das, was man so lange sucht und nie zu finden glaubt - die übersehe ich zunächst. Ich neige dazu, Dinge, die ich will, suche, brauche, so dringend zum Lachen benötige, einfach zu übersehen - selbst wenn sie mir zu Füßen liegen.
Du lagst mir nicht zu Füßen, sondern auf Augenhöhe mit mir.
Das war eines der ersten Dinge, die ich feststellte, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe. Du gabst mir die Hand und sahst mir fest in die Augen. Wir haben damals schweigend eine Weinflasche geteilt, während wir andere beim Schlafen beobachteten und den Rest der "Baker Boys" ansahen. Damals brachtest du mein Innerstes zum Erbeben.
Danach haben wir uns für fast zwei Monate nicht mehr gesehen.
An diesem Februarmorgen, der mit der Zeit immer sonniger zu werden droht, schlage ich die Beine übereinander und wünsche mir, noch einmal einschlafen zu können. Auf die letzte Kurznachricht, in der ich dich gefragt habe, wann du eine Freistunde hast (du gingst damals noch zur Schule), hast du nicht mehr geantwortet, was mich nur in dem Gedanken bestätigt, ich sei wirklich krank. Ich bilde mir Halsschmerzen ein und koche mir einen Tee, der unangerührt neben dem Bett stehen bleibt.
Als ich gerade dabei bin, den Rechner hochzufahren, um ein paar Alibizeilen zu meiner schriftlichen Arbeit hinzuzufügen (um das Gefühl genießen zu können, etwas gearbeitet zu haben), klingelt es.
Und dann stehst du vor mir. Mit deinen wunderbaren blauen Augen hast du mich angesehen und scheu an dich gedrückt.
Mich, in einem T-Shirt, das nicht mir gehört, in einer Boxer- Short mit einem Comicdruck (zwei Kondome, jeweils männlichblau und weiblichrosa, und dem Spruch "Safe Sex!") hast du einfach umarmt.
Du gratulierst mir nicht zum Valentinstag, ich dir aber auch nicht.
Ich bitte dich auf die Couch, dusche in Rekordzeit und trete mit nassen Haaren, im Kuschelpulli und einer zerrissenen Jeans vor dich.
Du drückst mir eine CD in die Hand.
"Impressionen, weil mir kein anderer Titel einfiel."
Es sind über fünfzig Musikstücke; deine liebsten. Du hast sie zusammengestellt und mit mir gemeinsam angehört, an diesem Tag, auf der roten Couch meiner Eltern. Du versuchst, mich zu küssen, als ich meinen Kopf neben deinen lege. Doch so ganz trauen wir uns beide nicht.
Ich sehe dich an und kann das Lächeln nicht unterdrücken, als ich die Musik auflege. Ich weiß, dass alles gut ist.
Als es für dich Zeit ist, wieder in die Schule zu gehen, begleite ich dich zur Tür. Ich küsse dich auf die Wange, halte dich fest. Ich will dich nicht gehen lassen, aber du gehst trotzdem aus meiner Tür.
Drei Minuten später könnte ich mich dafür ohrfeigen, dass ich dich habe gehen lassen, drehe Bob Marley auf volle Lautstärke und überhöre so beinahe das erneute Läuten der Türklingel.
Da stehst du. Schön bist du, immer gewesen; so oft hab ich dich an mir vorbeigehen sehen, so oft hab ich an deinen Namen gedacht.
Du hast keine Lust auf Physik, sagst du. Mir fehlen die Worte, ich beginne zu stottern. Ich habe dich gesucht.
Und dann küsst du mich.