Moderne Verschleißerscheinung

Gleichnis zum Thema Vergänglichkeit

von  Andalp

Eine Frau nach Schluss der Arbeit
heimwärts fuhr zur Hauptverkehrszeit
Da geschah’s, dass sich nicht auftat,
auf der Autobahn der Großstadt

eine Lücke im Verkehr,
andre Autos drängten sehr,
und erst, als sie, heftig blinkend,
ihren Wagen seitwärts lenkend,

ihrer Absicht Nachdruck gab,
zeichnet sich’ne Schlüppe ab
doch geschah es, durch Spurrinnen,
dass das Fahrzeug, statt nach innen,

mit ganz ungewohnter Tücke,
und am höchsten Punkt der Brücke,
nach auswärts von der Straße hetzte
und über das Geländer setzte.

Eh das Auto ganz entfleuchte,
fasste eine Peitschenleuchte
unterm Splittern eines Scheibchens
mit der Leuchte spitzer Peitsche

seitlich in des Wagens Dach,
stoppte vor der dunklen Nacht
Autos Schwung, und so bewahrt
vor unerwünschter Abwärtsfahrt.

Von denen, die vorübergehen,
hat keiner was Verkehrt’s gesehen,
und die, die’s sahn, hat’s nicht berührt,
solange man nicht drüberfährt.
(es gibt einen Kommentar dazu von Doris Knecht im Kurier vom 7. Januar 2009**)

Seitab von des Verkehres Brausen
mit entsetztem Ohrensausen
wagt die Arme kaum zu schnaufen,
lässt die Augen rückwärts laufen,

sieht dort an des Mastes Spitze,
Flämmchen züngeln in der Hitze,
aus der Leuchte, die gebrochen,
nackte Drähte vorgekrochen,

zwischen denen im Gezitter
vom Haken am Auto, ein Gewitter,
Funken sprühen, Blitze zischen:
Unsre Frau kann nicht entwischen.

Wollt sie sich nach oben flüchten,
würden Stromstöße sie richten.
Und unten dräut der offne Rachen
von einem vorgestellten Drachen,

dunkler Schlund vom starken Fluss
bereit für einen Todeskuss.
Und wagte sie’s und spränge,
der Fluss sie gleich verschlänge.

So schwebend zwischen zwei Extremen
will ihr ein Drittes gleich die Nerven nehmen:
Der Peitschenleuchtenmast
schwankt unter seiner Zusatzlast

Auf jedes Lichtscheinwerfertasten
von Autos die vorüberhasten,
bei jedem Ruckeln auf der Brücke
spürt sie, wie sie vornüber rücke.

Der Stahl der Leuchte ist nicht schwach,
gibt immer nur ein Stückchen nach,
doch ist die Zeit schon abzusehn,
dann wird’s ins Maul des Flusses gehn.
;
Und wie das Auto, kraftbedingt,
immer mehr kopfüber schwingt,
fällt in den Schoß der Steurerin
vom Rücksitz eine Schachtel hin.

Bonbons sind drin enthalten
die Brombeerduft entfalten.
Im Vorgefühl vom Vollgenusse
fahrn die Hände jener Tusse

in das Brombeerbonbontütchen
und man sieht das schwache Mädchen
verzückt sich auf die Zunge reihen
süße Kullern, zwei und dreien.

Versunken ist des Wagens Schaukeln,
ungehört des Flusses Rauschen,
ungesehn Verkehres Lichter,
unbemerkt das Abwärtszuckeln,
unter Mastes stetem Ruckeln
an dem Peitschenleuchtenhaken,
der als feiner seidner Faden
ganz der Frau ihr Schicksal trägt.
;
Du fragst wer diese Frau wohl sei,
die so ganz unbeirrbar frei
statt Todesangst oder Gebet
der Panik eine Nase dreht?,

Verstehe Schwester, das bist du,
vernimm die Deutung auch dazu:

Der Verkehr, den du gekreuzt hast,
das ist der Stress täglicher Unrast,
dem du ausgesetzt hienieden,
niemand lebt ganz abgeschieden.

Die Autolichter, Brückenruckeln
sind Tage, die vorüberzuckeln,
Tag auf Tage, Nacht auf Nacht
wirst du dem Tode näher ´bracht;

der ist die Strömung tief im Fluss.
Der Kabel drohender Kurzschluss
sind Sorge, Knappheit und Bedrängnis
in deines Lebens Klein-Gefängnis.

So musst du, in der Welt zu leben,
zwischen Angst und Nöten schweben.
Im Flackern vom täglichen Scheinwerferlicht
in lichtloser Nächte Innensicht

Durch all den Graus und irren Schein
dringt Duft und Süße in dich ein,
zu stillen deiner Sinne Lust,
dir mancher Lockung wirst bewusst,

dass du nicht siehst Fluss Todes Mund,
dass dich nicht anficht Lebens Kabelbund,
dass Lichterruckeln Tag und Nacht
du ganz vergisst, auf nichts hast Acht,

naschst du von guten Sinnen-Dingen,
die sich in deiner Nähe fingen.

...

Doch wie alles heutzutag
hat die Story guten Nachtrag:
Der Frau, in allerhöchster Pein
fiel ihr Mobiltelefon ein,

griffbereit. Sie zückte es
und funkte sogleich SMS.
Löschzug, Polente, Sanitäter,
keine halbe Stunde später,

befreiten sie, hübsch nach Gesetz.
-- na, was sagst du jetzt?;
Ist Leben eine tolle Hetz
mit Rückrufaktionen und Sicherheitsnetz?


Anmerkung von Andalp:

Das Original gibts bei Friedrich Rückert.

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