Die letzten Gaben
Als seine Mutter starb, war Daniel neun Jahre alt. Seit ein paar Wochen stand Sabines Sterbebett im Wohnzimmer, so dass sie in den Garten schauen konnte. Als ich den hellen Raum betrat, war es später Nachmittag. Die Sterbende war wach und Daniel, ihr kleiner Sohn, kauerte mit seiner Stoffkatze regungslos am Fußende des Bettes. Ich sagte ein paar freundliche Worte, aber die Sterbende bewegte nur ein wenig ihre Lippen. Ich setzte mich zu ihr und schwieg. Auch Daniel war still und litt. Ich spürte seine große Angst vor der geliebten Mutter Tod, eines Ereignisses, das für ein Kind unfassbar ist.
Eine Stunde mochte wohl vergangen sein, vielleicht auch zwei - Zeit ist am Ende eines Lebens nicht mehr wichtig -, als Daniel auf einmal tief aufseufzte. Sabine reagierte fast unmerklich; nur ihre Augenlider flatterten leicht wie Insektenflügel. Eine Kraft senkte sich auf uns herab; das Kind hatte sie zuerst bemerkt. Die untere Gesichtshälfte der jungen Sterbenden verdunkelte sich. Ein Schatten malte die Linien zwischen den Nasenflügeln und dem Kinn aus. Ich strich der Sterbenden über die trockene Stirn, um ihr zu zeigen, dass ich da bin. Mir schien, als wollte sie wissend nicken. Schnell huschte ich zum Telefon, um ihren Mann zu rufen.
„Hab jetzt keine Angst, Sabine,“ beruhigte ich die Sterbende, nach der die Hand des Todes griff. „Versuche, den lichten Punkt zu schauen, durch den du gehen wirst. Es ist sehr schön und sehr erlösend. Hab keine Angst, liebe Sabine, deine Liebe bleibt in uns. Daniel ist hier.“
Meinen sanften Händedruck konnte die Sterbende nicht mehr erwidern. Sabine lag schon tief in ihrem Kissen, aber sie wartete auf ihren Mann.
Als er kam, legte er Rosen auf ihr Bett und küsste ergriffen ihre Stirn, die jetzt schon feucht war. Noch einmal gingen ihre Augen auf; ihr Leuchten war so innig, dass mir war, als hätte es für länger als nur einen Augenblick den ganzen Raum erhellt. Und ihre Lippen, die seit Tagen schon lautlos verschlossen waren, formten sich zum letzten Wort: sie sagte leise, aber klar verständlich: „Daniel,“ den Namen ihres Kindes.
„Ich werde immer für ihn sorgen; wir beide werden dich nie vergessen,“ antwortete ihr Mann, wobei ihm längst die Tränen in den Augen standen. Er sah, dass der Moment des Todes nah war. Wir saßen bei ihr, sprachen nicht mehr viel und draußen wurde es allmählich dunkel. Von uns fast unbemerkt verging die Zeit. Ich zündete die Kerzen an. Völlig erstarrt und wie gebannt verfolgte Daniel, was dann geschah: die Augen der Sterbenden weiteten sich, sie schaute das Licht und dabei sank ihr Kopf, leicht geneigt, noch tiefer in das Kissen. „Wir sind bei dir und wir begleiten dich, so weit wir mit dir gehen können,“ sagte ich. Der Mann schwieg und bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen. Daniel starrte in das Antlitz seiner Mutter, als ob er noch auf etwas warte.
Ich hob den Jungen sanft vom Bett und stellte ihn auf seine Füße: „Du, Daniel, darfst deiner Mutter jetzt die Augen schließen, denn du bist doch ihr geliebtes Kind.“ Behutsam führte sein Vater ihm den Arm, der leise zuckte, ehe der Junge es wagte, die tote Mutter zu berühren. Dann schob er ihr mit höchster Achtsamkeit die Lider über die erloschenen Augen, als könnte er sie noch verletzen. So leise wie nur irgend möglich habe ich dieses Bild aufgenommen. Es ist die letzte Fotographie von Sabine mit ihrem kleinen Daniel.
Wir wachten stehend bei der Toten, bis Daniel sich an seinen Vater wandte und ihn fragte: „Papa, ist Mama jetzt für immer tot?“
„Ja, Daniel,“ antwortete der Mann und brach in heftiges Weinen aus. Noch lauter schluchzte Daniel; so herzerschütternd habe ich noch kein Kind weinen sehen. Er warf sich an seinen Vater, weil er sich nicht mehr auf seinen eigenen Beinen halten konnte. Der umschlang ihn und drückte ihn ganz fest an sich. Der Junge schrie und strampelte. Sein Schmerz war über-übergroß. Doch auch der Vater brauchte lange, bis er sich etwas beruhigte. In Sabines Sterbezimmer war es nach ihrem Tod somit nicht still, denn ihr Sohn verabschiedete sich von seiner Mutter auf seine kindgemäße Weise: er tobte. Schließlich war Daniel völlig erschöpft. Er hörte zu brüllen auf und schlief auf der Stelle ein. Es war sehr spät, ich glaube, schon nach Mitternacht.
Sein Vater trug ihn hinauf ins Bett; gemeinsam zogen wir ihn aus, deckten ihn zu und löschten das Licht. Dann kehrten wir zu Sabine zurück. Wir rückten die schweren Sessel an ihr Bett und hielten Totenwache. Im tiefen Schweigen fühlten wir uns mit der Verstorbenen auf das Innigste verbunden. Ihr Frieden erfüllte den ganzen Raum. Ab und zu schlief einer von uns beiden ein. Wir sprachen kein Wort, denn wir teilten in dieser Nacht das Unsägliche.
Im Morgengrauen geschah es, dass Daniel mit zerdrücktem Schopf und verschlafenen Gesicht herunterkam. „Daniel, wir wachen bei Mama,“ sagte ich leise, damit er nicht erschrak. Doch er schien mich nicht zu hören. Er kletterte auf das Totenbett und rollte sich wie ein verlassenes junges Kätzchen, das endlich wieder heimgefunden hat, zu Füßen seiner Mutter ein. Wir deckten ihn warm zu und er schlief weiter; ich glaube, er war gar nicht richtig wach gewesen.
Am Tag der Beerdigung war Daniel wirklich sehr tapfer. An der Hand seines Vaters folgte er dem Sarg und schaufelte mit großem Ernst, genauso wie sein Vater, Sand in die Grube und entnahm der ihm gereichten Schale rote Blüten. „Für dich, Mama,“ sagte er und warf sie ihr mit liebender Gebärde zu. Und dann tat er noch etwas, was gar nicht vorgesehen war: Daniel zog sein Stoffkätzchen hervor und warf auch dies in Mamas Grab. Dann aber umklammerte er fest mit seinen kleinen, heißen Händen des Vaters Hand, an dessen Ärmel er sein Gesicht verbarg und gotterbärmlich weinte.
Ich besuchte ihn zwei Tage später. Er kletterte auf meinen Schoß und ich konnte ihn gar nicht richtig halten, so verkrampft war er. Er verstand nicht, warum seine Mama so früh von ihm gegangen war. Er haderte mit seinem Schicksal und versuchte, sich jene Sphäre vorzustellen, in der seine Mama jetzt wohl war. Aber den Himmel bekam man ja nie zu Gesicht! Wer weiß, wo Mama wirklich war: natürlich auf dem Friedhof, in ihrem Sarg unter den vielen Blumen! Die Tränen blieben Daniel im Halse stecken. Er würgte und schluchzte trocken. Bei der Vorstellung, dass seine Mama in der regennassen, eiskalten Erde lag und verweste, schauderte ihm grauenvoll.
Da konnte man ihm viel erzählen vom Weg, den alles Leben geht. Seinetwegen konnte doch alles Leben gehen, wohin es gerade wollte! Er wollte gerne mit ihm gehen: zu seiner Mama! Warum ausgerechnet Mama? Hätte sie nicht noch warten und - ihm zuliebe - wieder gesund werden können? - Nein, Mama konnte nichts dafür. Niemand konnte etwas dafür, das war ja das Schlimme. Niemand war mehr für ihn da. Daniel dachte kurz an Papa, aber der war ja ganz genauso traurig; der konnte ihm nicht helfen.
So hockte der verstörte kleine Kerl auf meinem Schoß. Dunkle Gedanken quälten ihn und er wollte nicht weinen, sondern stark sein, und er mochte sich auch nicht anschmiegen, weil ich nicht seine Mama war. Er musste jetzt verstehen lernen, dass die Liebe seiner Mutter mit der Liebe Gottes eins geworden war und jeder Mensch, solang er lebt, an dieser großen Liebe teilhat; auch er, der kleine Daniel. Es ist nicht schwer, dies einem Kind zu geben. Ich sagte zu ihm: „weine, du geliebtes Kind.“