Ächzend sackte Stefan zusammen. Es ging einfach nicht - nichts passte zusammen, gar nichts. Die Idee? Weg war sie. Er konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern. Die Handlung? Langweilig, vorhersehbar... sofern man das wirre Hin und Her überhaupt noch als Handlung bezeichnen konnte. Missmutig schaute er weg von dem großen Wandposter mit herbstlichen Ostseedünen auf den Stapel eng beschriebener Zettel, schob sie mit der linken Hand quer über den Tisch. Ich mache das mit links, dachte er, wie passend. Links. Linkisch. Gelinkt. Linkes Ding... Left hand, left hand side, lefty, left over. Übriggeblieben. Was bleibt denn übrig, wenn man sich so verausgabt hat, dachte er bitter, Buchstabenabfall, Tintenverschwendung, Stiftmissbrauch. Alles, nur keine Story. Ist ja auch kein Wunder, wenn man nicht mal die eigenen Gedanken disziplinieren kann. Dis und Zip und linieren, liniertes Papier, so ein Müll, gezippter. Leftover. Eben.
Er schaute auf, blickte nach links, zum Fenster, wo sich hinter von Mutterhand geradegezupften Gardinen ein Sonnenuntergang um seine Aufmerksamkeit bemühte. Ich bin ein Klischee, schien er zu rufen, aber ich funktioniere! Genau das, was Stefan jetzt brauchte: ein wenig Hohn und Spott, von oben herab... Tiefrot eingefärbte Himmelslinien, wie altes, verlaufenes Blut, das sich am Rand einer Pfütze mit brackigem Restregenwasser mischt - der Kran hinter dem Nachbarhaus wie eine tote Hand, abgespreizte Finger, erstarrt und noch unentdeckt. Der aufkommende böige Wind hatte eine Ecke der Plane aufgedeckt, unter der die Leiche lag; der knochige Arm steckte in einem gestrickten Pulloverärmel, der genau so dreckig und blutig aussah wie der Beutel, auf dem er lag. Die Pfütze schien den Toten auszusaugen, ließ ihn würdelos aussehen, wie zufällig hingeworfen und hastig zugedeckt.
Aufmerksam ließ er seinen Blick über den leblosen, unförmigen Haufen und die darüber geworfene Plane schweifen. Jeder andere hätte an dieser Stelle erst einmal nach einem Motiv gesucht, einer Antwort auf die Fragen "Warum gerade er?", "Warum gerade hier?", "Warum jetzt?" - aber nichts lag ihm in diesem Moment ferner; es war sein Moment, der einzige, den er mit ihm alleine haben würde, bevor Gerichtsmediziner, Spurensicherung und Presse anrücken würden. Er spürte eine auf gewisse Weise geradezu intime Verbundenheit mit dem Toten, eine melancholische Zweisamkeit - und Spannung, Neugier auf das fremde, tote Gesicht, das zu dieser ausgebluteten Hand gehörte. Gesichter hatten es ihm angetan; tote Gesichter, die er in Ruhe studieren konnte, ohne Blicken ausweichen zu müssen: Blicken, die Nervosität ausstrahlten, Gehetztheit, Spott, Klage, Vorwürfe und Schuld. Gesichter konnten so viel erzählen, wenn man sie in Ruhe betrachten konnte, wenn sie still hielten, nicht ständig zuckten und sich wegdrehten. Tote Gesichter waren auf ihre Art manchmal viel lebendiger.
Vorsichtig hob er mit einer behandschuhten Hand die Plane leicht an und klappte sie zur gegenüberliegenden Seite auf. Auf den ersten Blick schien alles wie erwartet zu sein - Ärmel, Pullover, helle Hose mit hochgerutschten Hosenbeinen, aus denen Beine hervorschauten, die ebenso dürr zu sein schienen wie der in die Pfütze ragende Arm. Strümpfe, Schuhe. Mütze. Nur der Kopf fehlte - oder, besser gesagt, das Gesicht. Die Ohren konnte man noch erkennen, links und rechts von der blutigen Masse, die einst ein menschlicher Kopf gewesen war - bevor jemand dessen vorderen Teil sauber abgesägt hatte. "Sauber" war natürlich angesichts dieser blutigen Restmenge Mensch nicht ganz der passende Begriff, dachte er, aber die vordere Hälfte des Kopfes war einfach weg, wie abgeschnitten. Das Gesicht - natürlich, eben genau das Gesicht, nach dem er gesucht hatte, aus dem er Kraft zu schöpfen hoffte. Wie erstarrt hielt er die Ecke der Plane fest; alles in ihm drängte danach, sie wieder zuzuschlagen, den Moment noch einmal neu beginnen lassen, mit Gesicht, nicht mit diesem... diesem Loch.
Irgendjemand hatte dies absichtlich getan - hatte mutwillig das Gesicht entfernt, um ihm diesen Moment der Erkenntnis zu versagen, diesen Moment, der für ihn jedes Mal den Höhepunkt darstellte. Den Moment, auf den er hinarbeitete, den er sich selbst erschuf, wenn er einen neuen Toten bestellte. Er pflegte seinen Auftragnehmern in vielen Dingen die Wahl zu lassen - es war ihm egal, wie und wo die Menschen starben. Er wollte nur einen Platz genannt bekommen und ein paar Minuten, bestenfalls sogar Stunden, mit den unversehrten Gesichtern alleine sein, sich ihre Geschichten anhören, sie betrachten. Diese Leiche jedoch verhöhnte ihn - er fühlte sich verraten, lächerlich gemacht. Dieses Gefühl tiefer Ohnmacht und plötzlicher Verzweiflung schockierte ihn; er konnte sich nicht bewegen, den Blick nicht abwenden von dieser Ungestalt.
Der stärker werdende Wind zog ihm die Plane aus der Hand; mit einem Klatschen fiel sie in die größer gewordene Pfütze, deckte den Körper wieder zu - bis auf den Kopf, am dessen oberem Teil sich ein paar halblange, dunkle Haare im Wind bewegten; wie abendliches Strandgras aus regennassen Dünen standen sie empor. Ächzend sackte Stefan zusammen. Es ging einfach nicht - nichts passte zusammen, gar nichts.