Hinter mir fiel die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss. Ich zog den Reißverschluss der Jacke bis ganz nach oben hinauf und marschierte verbissen auf das Wäldchen zu. Nein, das eben war wirklich eine Nummer zuviel gewesen. Erst mich nach meiner Meinung fragen und mich dann zum Schluss anbrüllen, dass ich alles besser wüsste - nicht mit mir! Irgendwo hat alles seine Grenzen. Ich kniff die Lippen zusammen und blickte den Waldweg hinab. Welch ein Glück, dass ausgerechnet die Gummistiefel der Tür am nächsten gestanden hatten.
Die erste Woche des Aprils war erstaunlich sonnig und warm gewesen und hatte den letzten Frost aus dem Boden vertrieben. Der ganze Weg war dadurch aufgeweicht und matschig, und irgendwie verschaffte es mir große Befriedigung, das dreckige Wasser der Pfützen hoch aufspritzen zu lassen.
Soll die alte Ziege doch allein mit ihrem Kram fertig werden, ich hab‘s nicht nötig, mit so jemandem zu diskutieren. Hab sie einfach stehen lassen. Ich war am Ende des Wäldchens angekommen. Vor mir lagen die Felder und Knicks, eine kahle Landschaft, die noch von den braunen, gelben und grauen Farben des letzten Herbstes geprägt war. Der blaue Himmel stand im krassen Gegensatz dazu.
Auf dem freien Gelände angekommen, fiel mir auf, wie kräftig der Wind doch war. Eine recht frische Brise, doch sie war überraschend angenehm und warm. Ich verlangsamte meinen Schritt, blieb stehen und atmete tief durch. Ja, man konnte es riechen, dass es jetzt wirklich Frühling wurde. Der Geruch von frischer Erde lag schwer in der Luft, und auch der schwache Duft von Blüten war wahrnehmbar. Jetzt fielen mir auch die ersten grünen Blätter und Halme am Wegrand und die grünen Knospen in den Knicks auf. Der Frühling war wirklich nicht zu übersehen.
Während ich so meine Umgebung betrachtete und die warme Sonne im Nacken genoss, merkte ich, dass ich allmählich ruhiger wurde, die erste Wut war verraucht. Trotzdem, Lena brauchte ja nicht zu glauben, dass ich wieder einmal gleich gut Wetter machen würde. Diesmal nicht. War ich etwa schuld, dass es wieder geknallt hatte? Diesmal war es an ihr, die Sache wieder ins Lot zu bringen. Aber irgendwie hatte ich gar keine große Lust, weiter über diesen blöden Streit nachzudenken, und ich setzte mich langsam wieder in Bewegung.
Einige hundert Meter von hier war eine Bank, die von einer Hecke vor dem Wind geschützt war, dort wollte ich mich hinsetzen und einfach ein wenig entspannen. Am Ziel angekommen, entdeckte ich, dass dieser Platz jedoch schon besetzt war. Eine junge Frau, die vielleicht nur wenig älter war als ich, saß mit geschlossenen Augen, das Gesicht der Sonne zugewandt, auf der Bank. Beim Näherkommen überlegte ich, ob ich Platz nehmen oder weitergehen sollte, und entschloss mich schließlich für das Erstere.
Als ich mich setzte, wandte mir die junge Frau das Gesicht zu, blinzelte mit einem Auge und nahm mit einem leichten Lächeln wieder ihre alte Position ein.
„Britta“, sagte sie wie als Feststellung. Verblüfft sah ich sie an, doch es folgte nichts weiter.
Ich schluckte und sagte schließlich: „Eva“. Mehr fiel mir nicht ein. Ich überlegte eine Weile, ob ich noch irgendetwas hinzufügen sollte, doch schließlich beschloss ich, mich dem Schweigen anzuschließen und lehnte mich entspannt zurück.
Als es plötzlich dunkler wurde, schreckte ich aus meiner Bewegungslosigkeit auf. Auch Britta hatte die Veränderung bemerkt und blickte aufmerksam zum Himmel. Dort hatten sich plötzlich dunkle Wolken vor die Sonne geschoben, die vorhin noch nicht sichtbar gewesen waren.
Britta deutete nach oben und grinste mich an: „Aprilwetter!“ Ich zuckte die Achseln und grinste zurück. „Und wohin jetzt, bevor es losgeht?“ Britta winkte mir zu folgen, und wir liefen quer über die Wiesen zu einem Holzverschlag, der mir bis zu dem Moment gar nicht aufgefallen war. Und das war keinen Moment zu früh, denn kaum standen wir unter dem morschen Holzdach, fielen auch schon die ersten schweren Tropfen und schnell umgab uns eine dichte Regenwand, die selbst die Bank vor unseren Blicken verbarg.
„Das war Rettung in letzter Sekunde“, sagte Britta und strich sich ihr Haar aus dem Gesicht. „Aber das kommt davon, wenn man sich rumtreibt, anstatt zu tun, was getan werden muss.“
Als sie meinen wohl etwas verständnislosen Blick sah, fügte sie hinzu: „Eigentlich liegt bei mir zuhause ein großer Stapel Wäsche, der darauf wartet, gebügelt und sortiert zu werden, und mein Mann wird, wenn er nach Hause kommt, sicherlich etwas zu essen haben wollen.“
Sie blickte auf ihre Uhr. „Wenn es so weiter gießt, wird er wohl eine Weile warten müssen. Aber weißt du -„, sie pausierte einen Augenblick, als suchte sie in ihrer Erinnerung, „weißt du, Eva, als heute die Sonne so herrlich geschienen hat, konnte ich nicht anders als spazieren gehen. Das Wetter war einfach zu schön!“ Sie hielt ihre Hand hinaus in den Regen und schüttelte dann die Tropfen ab. „Naja... - Und was hat dich in die Natur getrieben?“
Ich erzählte ihr von dem Streit mit meiner Schwester und wie ich zum Schluss einfach meine Jacke genommen hatte und hinausgerannt war. Am Ende meines Berichtes hörte ich ein Glucksen, das zu einem Kichern wurde und schließlich zu einem lauten Lachen anschwoll.
Ich blickte Britta völlig perplex an. Irgendwie hatte ich erwartet, dass sie Stellung beziehen würde, mir recht geben würde, aber das? Als sie mein verdutztes Gesicht sah, lachte sie nur noch mehr. Ich schüttelte den Kopf. Langsam beruhigte sich Britta und versuchte, sich mir mitzuteilen.
“'Tschuldigung, Eva!“, sagte sie schließlich, „aber ich finde es einfach zu komisch. Du haust ab, knallst mit der Tür, um deiner Schwester zu zeigen, dass sie sich daneben benommen hat. Und jetzt stehst du zur Strafe im Regen. Eigentlich hättest du besser sie vor die Tür gesetzt, oder? Aber das Leben hat wohl so seine eigene Gerechtigkeit! Ach, Eva, ich find‘s köstlich! Dein Schwester macht Mist, und du stehst im Regen!“ Sie fing wieder an zu lachen.
Auch ich musste grinsen. Irgendwie war schon eine Komik in der Situation, und eigentlich ... Ich fiel in Brittas Lachen ein, und schließlich hielten wir uns beide die schmerzenden Seiten und wischten uns die Tränen aus den Augen. Wir bemerkten zunächst gar nicht, dass der Regen nachgelassen hatte und sich zaghaft die ersten Sonnenstrahlen einen Weg durch die Wolken bahnten.