Der Ruf des Bewahrers

Kurzgeschichte zum Thema Andere Welten

von  Sturmhexe

Medra strich sich erschöpft die Haare aus der Stirn und trug das Sandhuhn zurück in das Gehege, während ihre beiden Enkel schon wieder lachend miteinander in Richtung Dorfplatz rannten. Einige ruhige Worte, ein freundlicher, forschender Blick, die Entfernung des Streitobjektes und das Problem war aus der Welt.
Medra lächelte vor sich hin. So war es eigentlich schon immer gewesen. Ob sich ihre Geschwister gestritten hatte, oder später ihre Kinder, immer war sie es, zu der sie kamen, um ihren Streit geschlichtet zu bekommen. Selbst das Gesinde auf dem Hof bat eher sie im Stillen um Hilfe, als dass es sich an den Ältestenrat wandte. Seit ihr Mann Taedru zum Rat gehörte, war sie jedoch sehr zurückhaltend geworden, solche Streitigkeiten zu schlichten, denn er wies sie regelmäßig darauf hin, dass die Rechtsprechung Männersache sei und dem Rat vorbehalten.
Medra seufzte bei diesem Gedanken. Wie schwerfällig waren oft die Entscheidungen der Ältesten. Sicher, sie waren gerecht, daran bestand kein Zweifel; doch wie lange brauchten sie, um zu einem Urteil zu kommen, und wie kompliziert war oft ihre Argumentation. Dabei lag die Lösung doch meist so nahe. Wie oft schon hatte Medra nachts nach den Gerichtssitzungen mit ihrem Mann geredet und gestritten, um am Ende nur von Taedru gesagt zu bekommen, dass es sich für eine Frau nicht gehöre, den Rat zu kritisieren.
Sie schloss das Tor des Hühnergeheges und wandte sich dem Vorratshaus zu. Das Getreide war reif und würde in den nächsten Tagen eingebracht werden. Medra ging noch ein letztes Mal durch die Räume. Die Knechte hatten in den letzten Tage Dach und Wände abgedichtet und morsche Bretter ersetzt, und alle Räume waren gefegt und vorbereitet. Das Korn konnte kommen. Im Haupthaus kontrollierte die Frau ihres ältesten Sohnes die Kornsäcke und wies die Mägde an, neue zu nähen. Überall war ein geschäftiges Treiben im Gange, jeder wusste, was zu tun war.
Medra stützte sich am Zaun ab und blickte über die Felder. Die Erntezeit war für Medra schon immer die schönste Zeit im Jahreskreis gewesen. Die gemeinsame Arbeit auf den Feldern, die Ausgelassenheit beim Beladen der Karren, das Einlagern des Korns und schließlich die Feier des Dorfes zu Ehren der Großen Mutter. Jeder Jahr wurde das große Rad gewunden mit dem das Feuer entzündet wurden, an dem die neuen jungen Paare sich Treue schworen und an dem die Dorfältesten bestätigt wurden. Kein anderes Fest wurde mit so viel Begeisterung gefeiert und keiner anderen Gottheit so freudig gedacht.
Dies Jahr würde ihre jüngste Tochter Marsa an das Feuerrad treten und mit dem Sohn des Dorfobersten ihren Schwur sprechen. Damit hatten alle Kinder ihren Platz im Leben gefunden. Ihre Söhne waren gute Mitglieder der Dorfgemeinschaft und ihre andere Tochter lebte schon seit vielen Jahren im Tempel des Heilergottes.
Ein Lebensabschnitt ging zu Ende. Medra fragte sich, wann ihr Ältester den Hof übernehmen und sie und Taedru aufs Altenteil schicken würde. Alt! Medra fühlte sich nicht alt. Sicher, im Winter taten die Gelenke manchmal weh, und die ersten grauen Strähnen ließen sich nicht leugnen, doch eigentlich fühlte sie sich nicht anders als in dem Sommer, als sie selbst mit Taedru den Schwur am Rad gesprochen hatte. Sie schüttelte den Kopf, als wolle sie sich von den Jahren befreien.
Plötzlich wurde ihr die Stille um sie herum bewusst. Das Gelächter und Singen aus dem Haupthaus war verstummt, die Kinder tobten nicht mehr auf dem Dorfplatz und selbst die Tiere schienen ihre Stimmen verloren zu haben. Langsam drehte sie sich um. Im Tor standen zwei verhüllte Reiter, gekleidet in das Nachtblau des Bewahrers. Am Zügel führten sie ein drittes Pferd, gesattelt und bereit, einen weiteren Reiter zu tragen.
Hinter ihnen, in sicherer Entfernung, stand schweigend das ganze Dorf. Auch auf dem Hof war jeder auf den freien Platz gekommen und betrachtete ehrfürchtig und ängstlich die Ankömmlinge. Jeder wusste, was nun geschehen würde - aber wen würde es treffen? Meist waren es junge, kräftige Männer, manchmal auch intelligente, hübsche junge Frauen, die den blauen Reitmantel überreicht bekamen. Sorgenvoll blickte Medra über die Menschen auf dem Hof. Janna hatte erst vor wenigen Wochen ihr zweites Kind bekommen – hoffentlich waren es nicht sie oder ihr Mann, die erwählt waren. Oder Marsa? Wie tragisch wäre es, wenn sie es wäre, so kurz vor ihrem Schwur.
Die blauen Reiter wählten aus, ohne Rücksicht auf Bindungen und Verpflichtungen zu nehmen. Es war eine Ehre, dem Bewahrer zu dienen, und niemand stellte die Berufung in Frage. Und trotzdem, es war, als ob der Erwählte an dem Tag starb, denn keiner der Erwählten besuchte jemals wieder sein Dorf; erst zu seinem Begräbnis würde er, ebenfalls von blauen Reitern begleitet, in sein Dorf zurückkehren.
Langsam setzte Murmeln ein, als die Reiter noch immer unbeweglich im Torbogen verharrten, doch keiner wagte laut zu sprechen oder die Reiter zu begrüßen, auch Medra nicht. Schließlich stieg einer der Reiter vom Pferd und zog aus der Packtasche einen weitgeschnittenen, blauen Mantel. Ein lautes Seufzen ging durch die Menge und wich atemloser Stille. Ruhig betrat der Reiter den Hof und blickte sich ringsum. Trotz der Kapuze, die das Gesicht des Reiters verbarg, spürte Medra, dass der Blick an ihr hängenblieb.
Verzweifelt schaute sie sich um, doch niemand anders stand dicht bei ihr, der gemeint sein konnte. Panik stieg in ihr auf - sicher, es gab Geschichten, dass früher bereits Frauen wie sie zum Bewahrer gerufen worden waren, nicht oft, aber es war schon geschehen. Völlig erstarrt ließ sie sich den Mantel um die Schultern legen. Der Reiter wandte sich um, ging zu den Pferden zurück und blieb dort in erwartender Haltung stehen.
Jetzt brach der Bann, und als erstes stürmte ihre Tochter zu ihr und fiel ihr weinend um den Hals. Schweigend strich Medra ihr über das Haar. Auch die anderen Frauen und Kinder drängten sich um sie, berührten sie. Aufgeregt begannen alle, auf sie ein zu reden, doch sie wusste nichts zu antworten, erstmals in ihrem Leben fehlten ihr die Worte. Wortlos drückte sie einen nach dem anderen an sich. Vor dem Tor wurde die Menge unruhig, als sich Taedru hindurch drängte.
„Medra!“ Er stürmte über den Platz, ohne die Reiter oder Pferde auch nur eines Blickes zu würdigen und riss sie in seine Arme. Medra schmiegte sich an ihn, verzweifelt und doch schon weit entfernt. Es war ein Schock für sie zu spüren, wie der kräftige Brustkorb ihres Mannes bebte und Feuchtigkeit dort zu fühlen, wo sein Gesicht ihr Haar berührte. Sie hatte Taedru noch nie weinen sehen. Zärtlich strich sie über sein Gesicht, seine Schultern und löste sich aus seiner Umarmung.
„Ich muss gehen. Bitte gib mich frei, bevor es noch mehr schmerzt“, bat sie ihn leise.
Langsam richtete er sich auf.
„So geh, frei von Schwur und allen Banden“, sprach er die rituellen Worte. „Und mit meiner Liebe“, setzte er leise und nur für sie hörbar hinzu.
„Die Mutter sei mit dir“, antwortete sie und wandte sich ab.
Ohne einen weiteren Blick auf die Menschen um sie herum ging sie zu den wartenden Reitern und bestieg das mitgeführte Pferd. Die Dorfbewohner öffneten eine Gasse und die drei Pferdes setzten sich langsam in Bewegung. Ein letztes Mal blickte Medra über das Dorf hinweg und dann nur noch geradeaus. Tränen verschleierten ihre Sicht.
Schweigend ritt sie Stunden um Stunden neben ihren Begleitern her, bis schließlich einer der beiden Reiter sie ansprach.
„Es wird Zeit für eine Rast, die Pferde ermüden und außerdem müsst Ihr Eure Kleidung wechseln.“
Medra war erstaunt, eine Frauenstimme zu hören und blickte zur Sprecherin hinüber. Diese hatte die Kapuze ihres Umhanges zurückgeworfen, und blitzend blaue Augen unter einem kurzen Haarschopf lachten über Medras überraschtes Gesicht. Medra fasste sich.
„Ich dachte, es seien immer Männer, die kommen, um die Erwählten aus den Dörfern zu holen! Wer bist du?“
Die junge Frau wurde auf einmal ernst.
„Ihr habt recht, doch in dieser Situation war es notwendig, dass eine Frau gesandt wurde. Verzeiht, dass wir uns noch nicht vorgestellt haben. Das dort ist Karnu.“
Auch der zweite Reiter schlug seine Kapuze zurück und neigte sein Haupt zum Gruß. „Und ich bin Lenna; wir beide sind Eure künftige Leibwache und persönlichen Bediensteten.“
Medra blickte Lenna verwirrt an.
„Bedienstete? Ich dachte, ich bin erwählt worden, dem Bewahrer zu dienen? Wie wollt ihr dann mir dienen?“
Karnu und Lenna sahen sich verblüfft an, und Lenna fing glockenhell an zu lachen. Dann jedoch blickte sie Medra ernst an und beugte ihr Knie:
„Wisst Ihr es denn nicht, Medra? Ihr seid die Bewahrerin!“


Anmerkung von Sturmhexe:

eindeutig Fantasy

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