Alle sehen wie Gespenster aus

Lyrischer Prosatext

von  youngShadow

Meine frühste Erinnerung, ist das Dunkel unseres Kellers.
Das weinen von Frauen und Kindern.
Schatten, die von einer Seite auf die andere huschen.
Leises Geflüster.
Ich spüre die Tränen meiner Mutter auf mein Gesicht fallen.

Der Boden vibriert. Mutter vergräbt mein Gesicht in ihrer Jacke. 
Ich bin ganz still.
Sie sind da.
Das Quietschen der gewaltigen, alles zermahlenden Ketten.
Dann höre ich Stimmen. Seltsame Laute, in einer unverständlichen Sprache.
Irgendwo explodiert etwas. Ich höre das Rattern eines Maschinengewehrs. Glas zerbricht.
Das Trampeln von Stiefeln über unseren Köpfen. Jemand kommt die Treppe herunter.
Dann ein Schrei.
Die Geräusche verklingen. Sie ziehen weiter.
Wir warten.

Durch die schmalen Fenster, scheint weißes Mondlicht.
Jetzt sehen alle wie Gespenster aus.
Meine Mutter küsst mich, bringt mich zu den anderen Kindern.
Sie wollen nachsehen, sagt sie. Als sie an der Treppe ist, dreht sie sich noch einmal um.
Der Mond erhellt ihr Gesicht. Es ist das letzte Mal das ich meine Mutter sehe.

Zurück bleibt ein Knäuel aus Kindern.
Zitternd und schluchzend.
Verängstigt und schutzlos.
Es riecht nach Urin.
Wir schlafen.

„Juri, Juri, wach auf.“
Ich öffne die Augen. Es ist noch immer dunkel.
Im Schatten an der Wand steht ein Mann.
Er tritt ins Mondlicht.
Es ist ein Soldat. Seine Uniform ist dreckig und verschmutzt.

Ich löse mich von den Andern.
„Wo ist meine Mutter“, frage ich ihn.
Er antwortet nicht, lächelt nur.
Seine Augen sind grün. Sie kommen mir bekannt vor.
„Komm.“
Er nimmt meine Hand. Wir gehen die Treppe hinauf.

Durch ein Loch im Dach dringt Schnee.
Ich ziehe meine Mütze tief ins Gesicht.
Er deutet auf den Wald hinter unserem Haus.
„Komm.“
Seine Stimme, ich kenne sie.

Immer tiefer laufen wir in den Wald.
Wir erreichen eine kleine Lichtung.
Der Soldat zeigt auf ein kleines eingefallenes Hüttchen.
Mit bloßen Händen räumt er den Schnee vor der Tür.

Wer bist du, frage ich ihn.
Er lächelt, und zeigt ins Innere der Hütte.
„Warte dort.“

Überall Spinnweben, es riecht nach Erde, aber es ist warm.
Als ich mich umdrehe ist der Soldat weg.
Ich warte, schlafe auf einem Stuhl.

Als ich aufwache, dringt durch den Türspalt helles Licht.
In einiger Entfernung höre ich Schüsse.
Das Quietschen der Ketten hallt durch den Wald.
Noch mehr Schüsse. Eine Explosion. Ich rieche Rauch.
Wieder warte ich.

Ich muss mich mit aller Kraft gegen die Tür stemmen.
Es hat die ganze Nacht durch geschneit.
Ein Reh huscht über die Lichtung.
Ich schleiche zurück. Von Baum zu Baum.
Vielleicht ist Mutter da.

Über den Tannen hängt schwarzer Nebel.
Dann sehe ich unser Haus.
Es brennt.
Ich muss zu den anderen. Sie warnen.

Die andere Seite des Hauses fehlt.
Eingefallen, die Treppe verschüttet.

Ich schließe die Augen.
Vielleicht weine ich, vielleicht ist es der Schnee auf meinen Wangen.
In der Ferne höre ich Motorgeräusche.
Ich bleibe wo ich bin.
Es ist mir egal.

Eine Hand berührt mich an der Schulter.
Ich öffne die Augen und sehe in das Gesicht eines jungen Mannes.
Es ist dreckig, aber freundlich.
Du bist jetzt in Sicherheit, sagt er.
Er reicht mir ein Stück Brot.
Wir steigen in einen Lastwagen.

Manchmal träume ich davon. Erzähle die Geschichte weiter. Anders.
Mutter kommt zurück. Unser Haus ist nicht zerstört. Ich lerne meinen Vater kennen.
Er küsst mich auf die Stirn, ich sitze auf seinen Schenkeln. Er hat grüne Augen, seine Stimme ist dunkel und tief.

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Kommentare zu diesem Text

Mühle (63)
(14.08.12)
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