Prinz Eisenherz

Kurzgeschichte zum Thema Selbsterkenntnis

von  Alias

Prinz Eisenherz

Gestern bin ich ihm wieder über den Weg gelaufen. Mist, warum habe ich nicht aufgepasst!
Der Typ ist ja völlig durchgeknallt. Und alle paar Jahre, wenn wir uns begegnen, läuft es nach dem gleichen Schema ab. Natürlich war es auch diesmal so:

Kaum hatte er mich erblickt, da blinkte hinter seinen kugelrunden Brillengläsern ein vages Erkennen auf.
„Viola“, stammelte er vor sich hin, während sein Blick sich auf seine Füße richtete. „Hast du Viola gesehen?“
„Nein“, sagte ich unwirsch. „Ich hab’ sie seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen!“
Er glotzte mich an und versuchte wohl, den Sinn meiner Worte zu erfassen. Anscheinend schaffte er es, und sein Blick richtete sich wieder enttäuscht auf seine Füße. Prompt hatte er mich abgeschrieben, denn ich wusste nichts von Viola.
Himmel, der Typ ist verrückt, und er war bestimmt schon verrückt, bevor er sich durch alle möglichen Drogen das Gehirn ausbrannte, bis nur noch ein einziger Gedanke darin übrig blieb, nämlich der Gedanke an Viola.

Viola, ich hatte sie vor dreißig Jahren kennen gelernt, sie gehörte zu einer Clique von jungen Gymnasiasten, die kurz vorm Abitur standen. Sie war ein hübsches Ding, sehr süß, sehr eigenwillig, sehr leidenschaftlich. Ihre dunklen Augen standen asiatisch schräg, und ihre braunen Haare trug sie wie Prinz Eisenherz. Ich stutzte, imitierte der Typ etwa ihre Frisur? Wollte er ihr damit näher sein oder sich gar in sie verwandeln? Wäre ihm zuzutrauen...

Aber zurück zu Viola: Sie hatte sich dann verknallt, und zwar in einen gutaussehenden, intelligenten und vor allem arroganten Typen. Aber der ließ sie fallen, und sie rannte ihm vergebens hinterher.
Komisch, das bringt mich jetzt zu meinem eigenen Leben. Ich sehe mich als erfolgreichen Mann, gut situiert, gut aussehend und mit der richtigen Portion Arroganz. Ich kriege alle Frauen, die ich will. Aber dennoch ist da eine Leere in mir, die ich einfach nicht ausfüllen kann. Diese Leere lässt mich an mir selber zweifeln. Was will ich? Warum bin ich nicht so  glücklich, wie ich eigentlich sein müsste? Was stimmt nicht mit mir? Nein, das ist Quatsch, mit mir stimmt alles, alles ist bestens. Und dennoch...
Ob ich diesen Irren noch mal wiedersehe? Ich hoffe nicht. Falls aber doch, dann werde ich unauffällig auf die andere Straßenseite gehen, nicht weil er mir leid tut oder weil er mir lästig ist, nein, ich beneide diesen Bastard irgendwie, er hat geliebt, und er liebt immer noch, und auch am Ende wird er nur dieses eine Wort sagen: Viola.

Viola, die Frau, die ich einst verschmähte.

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Kommentare zu diesem Text


 Seelensprache (01.05.13)
Das kenne ich auch. Das Bedauern einer Möglichkeit, eines Hätte, wäre, wenn. Es gibt aber auch immer einen Grund, warum es die Menschen aus einer gemeinsamen Vergangenheit nicht auch in eine gemeinsame Zukunft geschafft haben. Dazu fällt mir ein Zitat ein "Vielmehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben". Ich habe deine Kurzgeschichte gerne gelesen. Liebe Grüße

 Alias meinte dazu am 01.05.13:
danke schön, seelensprache, für deinen kommentar.
ja, es stimmt: hätte, wäre und so weiter. das murmeltier lässt grüßen...
aber der mann in meiner geschichte, ich glaub', der ist nun mal so, und vermutlich wird er immer so bleiben. ein hoffnungsloser fall, einer, der keine liebe empfinden kann, obwohl er gern möchte. und ich glaube, solche männer oder frauen kann man mehr bemitleiden als solche, die furchtbaren kummer durch unerwiderte liebe erfahren haben. denk ich mal.
lieben gruß an dich

 EkkehartMittelberg (27.11.13)
Deine Kurzgeschichte und deine Selbstinterpretation passen sehr gut zusammen, Ingrid.
LG
Ekki

 Alias antwortete darauf am 28.11.13:
ich freu mich immer, wenn du was zu meinen stories schreibst. in diesem fall ist es verzwackt:
da beneidet einer den anderen, der die haben wollte aber nicht haben konnte, die er selbst haben konnte, aber nicht haben wollte. ja, verzwackt. lieben gruß an dich
Gringo (60)
(06.12.13)
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 Alias schrieb daraufhin am 06.12.13:
ja, hätte, wäre, könnte... mist, verpasst! dämlich...
lach und gruß!
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