Die Amerikanerin I.

Erzählung zum Thema Entfremdung

von  pentz

Sie plapperte wieder drauflos, im Kurort im Taunus. Ohne Rücksicht auf Verluste. Gleich welchem Zeitgenossen sie über dem Wege lief. Sie hatte auch etwas zu erzählen mit 80 Jahren bald. Nicht, dass dies die anderen nicht auch hätten, aber ihr Lebenslauf war doch ungewöhnlicher: als junges Ding in Nazideutschland aufgewachsen, in der Nachkriegszeit in den Vereinigten Staaten gelebt, bis vor kurzem, 1999, als sie wieder zurück nach hierher gezogen war. Die Umstände für einen älteren Menschen hierzulande waren günstiger als jenseits des Ozeans, die Einbürgerung vollzog sich reibungslos und prompt wurde ihr auch ein Kuraufenthalt in einem der schönsten Gegenden gewährt.
Während die Mitpatienten wenig Neigung zeigten, über ihre Vergangenheit zu babbeln und lieber in Vergnügungs-, Freizeit- und Sportaktivitäten flüchteten, kannte sie dagegen keine Scham, natürlich, ihr blieb die Nachkriegszeit Deutschlands erspart. In den USA brauchte man kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Schon komisch, dachte sie, in der Nazizeit durften sie nicht. nach derselben scheuten sie sich den Mund aufzureißen, obwohl sie durften. Bis heutzutage hatte sich daran kaum etwas geändert unerklärlicherweise.
Aber sie ließ sich nicht das Wort aus dem Mund ziehen, nein. Also die Vergangenheit: Nazideutschland, Ehe mit einem schlesischen Soldaten; Nachkriegszeit: Ehe mit einem amerikanisch-jüdischen Diplomaten.
Es war auch so leicht, zu reden und zu reden, denn wenn keiner Fragen stellte, stellte er auch natürlicherweise keine unangenehmen. Dafür stopfte sie selbst die Lücken und Ungereimtheiten und überwand galant die Stolpersteine ihrer Biographie. So frank und frei war sie!
Warum sie ihre zwei Töchter aus erster Ehe, erst 7  und 5 Jahre alt, im Nachkriegsdeutschland zurückgelassen hatte zum Beispiel?
„Ach, mein Geliebter war schon Monate in den Staaten und dann bin ich ihm halt nachgereist. Meine Kinder sollten nachkommen, aber...“ Sie kamen nicht nach, die Familie empfand die Abreise der Rabenmutter als Affront und schüttelte unverständlich den Kopf. Ihre Töchter wurden adoptiert, studierten Medizin und haben heute ihr gutes Auskommen. Nein, Kontakt zu ihnen habe sie nicht mehr seitdem.
Eine Frage von sich aus zu beantworten, hütete sich jedoch, überhaupt zu stellen. Weshalb ihr Sohn aus zweiter Ehe sie nicht versorgte? Können täte er es leicht. Aber das war eine amerikanische Angelegenheit. Der Sohn weigerte sich nämlich strikt dazu. Verstehen konnte das die Deutschen hier kaum. Aber wie gesagt, keiner wollte des anderen Wolf sein, alle Frieden, so war nun einmal diese ältere Generation.
Aber, na ja, am liebsten hatte sie sowieso jungen Menschen um sich, zu denen fand sie einfach einen besseren und schnelleren Draht.

Des jungen Arztes Augen weideten sich: mit einem Amerikaner, noch dazu Juden, verheiratet, sie, diese Deutsche!? Sie hatte ihre Mutterpflichten wegen solch einer Rassenschande vernachlässigt? Das musste gesühnt werden. Der junge Mann atmete tief aus, rieb sich innerlich die Hände: endlich bot sich eine Gelegenheit, Rache zu üben an einer Verräterin an der Sache. Der Kampf war noch nicht zu Ende, im Gegenteil, hier begann er gerade wieder.
Der Vierteldeutsche und Drei-Viertelt-Russe, wusste, was zu tun war: das, was mit einer solchen Person zu tun ist!
Er war allein mit ihr im Raum. Er hatte sich auf diesen Moment vorbereitet. Er drehte sich um, wandte ihr den Rücken zu , während sie weiter ihr dummes Zeug heraussprudelte. Unterdessen bereitete er die Spritze auf dem weißen Tablett vor: er kramte in einem extra mitgebrachten Etui nach hochprozentigem Gift, entnahm eine ausreichend große Dosis, die er wiederum mit der obligatorischen Medizin vermischte.
Dann drehte er sich um, hob die Spritze vor seine Augen, um die Luftblasen aus der Kanüle herauszustoßen, mit einem feistem Lächeln um die Mundwinkeln, welches sie in helle Verzückung versetzte. Ach, wie sie doch die Männer liebte, immer schon geliebt hatte und wie sie heutzutage noch immer nicht ohne Grund von jungen Männern angelächelt wurde, mit Gewissheit den Schluss zu ziehen, dass man an ihr noch immer die wahre Pracht an Schönheit und Eleganz erkannte, die sie einmal auszeichnete. Schließlich hatte sie ja zur jeweiligen Zeit die entsprechend bekehrenswertesten Vertreter der Ära bekommen: zuerst einen schmissigen, auftrumpfenden schlesischen Offizier; danach den intellektuellen, jüdischen Konsul amerikanischer Prominenz.
Sie sagte wieder hastig etwas, weil sie vor Erregung etwas sagen musste und weil ihr Puls sich merklich erhöht hatte, natürlich auch ein bisschen wegen der Spritze. In den Augen des Assistenzarztes verriet sie sich mit jedem weiteren Wort mehr und geriet immer tiefer in einen Sumpf von Verstrickung und Schuld.
Obwohl er nicht alles verstand, lächelte er und nickte verstehend. Sein Deutsch war nicht so gut, dass er jemand "Fließend-Deutsch-Sprechenden" verstanden hätte. Nur einen sechsmonatigen Sprachkurs besucht, besaß er viel zu wenig Übung und Vertrautheit mit den verschiedenen Dialekten hierzulande. Welcher Deutsche sprach eben auch Hochdeutsch, wie in einem Sprachkurs gepflegt wurde und kaum jemand verstand diese Dialekte, wenn er nicht von hier, aus dem Stammland stammte.
Aber bei dieser Quasseltante musste man nicht mehr viel verstehen. Die Sache war klar.
Er beugte sich über die Patientin, die Kanüle voran.
Er stach zu. Das dubiose Gemisch drang in ihre Vene ein.
...er war erst seit einem halben Jahr im Ursprungsland seiner Sippe, dem Zielpunkt sehnsuchtsvoller Erzählungen seines Großvaters, Opa Himmler, - nicht der, den man kannte, aber einen Namensvetter und trotzdem kein falsches Omen - welcher in den Wirren Ende des zweiten Weltkriegs in den unendlichen Weiten des russischen Hinterlands untergetaucht war, auf der Flucht vor den vergeltungshungrigen Juden. Der Häscher Arme reichten aber nicht in jenes russische Dorf, das seinen Großvater aufgenommen hatte. Schon gar nicht bei der Schläue seines Großvaters...
Gleich würde das Gemisch aus Gift und Medizin in ihrem Körper eingedrungen sein...
...Opa Himmler hatte die notwendig vertuschenden Papiere besorgt: Urkundenfälschung. Mit Geld läßt sich im Osten, ob in der Ukraine oder Sonstwo alles beschaffen.
Fertig, er hatte die Mischung injiziert.
Man würde nichts finden, sollte Verdacht geschöpft werden. Die Spuren des Giftes würden nicht nachweisbar sein.
Mit einem Läppchen wischte er die Einstichstelle ab – so!
Die Patientin legte ihr Haupt beruhigt aufs Kopfkissen zurück und lächelte wahrhaft dankbar - für diesen jungen feschen Arzt und für die vermeintlich wohltätige Medizin. Da war nichts anderes angesagt, als weiterhin ihr Mundwerk im losen Betrieb zu lassen.
So ein dummes Ding!
...sein Großvater hätte es mit unendlicher Genugtuung quittiert, weil sein Enkel den Kampf fortgesetzt hatte, zumindest am Rande, an einer solchen Verräterin, dieser wackligen Achtzigjährigen, die nach der Kapitulation mit dem Feind kollaboriert hatte. Zudem nach Amerika auszuwandern, zu einem jüdisch-amerikanischen Diplomaten! Ihr geschah recht! Voller Verachtung blickte der junge Mann noch einmal auf sein Opfer.
Die hereindringende Herbstsonne ließ ihre Lidschatten violett erglänzen und ihre dickweiß lackierten Fingernägel wie Diamanten und Rubinsteine schimmern. Dekadent geschminkt und herausgeputzt wie ein Hollywoodmodel, diese alte Frau. Die niemals älter werden wollende Amerikanerin par excellence. Solche Damen verdarben nur die reine Kultur.
Sie schloss ihre dicken, blauen Lider mit Hingabe ihrer Altersschwächlichkeit.
Sie deutete auf ihren Schreibtisch, auf die neueste Ausgabe des Playboy. „Wenn Sie wollen, können Sie gerne den Playboy haben. Darin ist die Claudia Pechstein, nackt.“
„Claudia Pechstein, die vielfache Weltmeisterin in Eisschnelllauf?“
„Ja!“, stöhnte die Unwissende heraus.
Des Russen-Deutschen Züge verhärteten sich wieder. Diese Amerikanerin war wirklich von allen guten Geistern verlassen, wusste nicht, was sie redete und vor allem zu wem sie solche unerhörten Dinge richtete.
Ohne das Gymnasium abzuschließen, war sie in den Arbeitsdienst eingetreten. Damit kam sie aus der Großstadt heraus aufs Land und in fernere Gefilde. Ein herrliche Zeit: Arbeit und Singen. Genauso akzeptierte sie natürlich das Verbot ihres späteren Ehemanns, jegliches Singen zu unterlassen, weil er dies mit Nazitum und Volkstümelei in Verbindung brachte. Sie kommentierte diese Episode lapidar mit: „Andere Zeiten, andere Sitten.“
Nein, dachte der Assistenzarzt, manche Dinge ändern sich niemals. Aus Prinzip heraus schon.
Sie traf in dieser Zeit auf ihren ersten Mann, ein fescher, hünenhafter Offizier aus Schlesien. Auf den ersten Anblick war sie Feuer und Flamme.
(Wir stellen uns berechtigte Fragen: Aber war es nicht die V o r s t e l l u n g von einem Mann, die sie entzündete und nicht der Mensch selbst? Genauso, wie es später der amerikanische Diplomat war? Wer würde sich nicht gerne einen solchen angeln, kurz nach dem verlorenen Krieg Deutschlands? Die richtigen Männer zur richtigen Zeit! Zu Kriegszeiten Krieger, zu Friedenszeiten Diplomaten!)
Der Offizier betrog sie schon nach drei Wochen ihrer Ehe, bekannte sie ohne Bedauern, als wäre es fast das Selbstverständlichste von der Welt oder als gehörte es zum Schicksal einer Frau, wenn sie solch einen ihr Eigen nennen durfte. Es unterstrich seine Attraktivität nur.
„Er war so gutaussehend, ein Gedicht von einem Mann!“
Der Amerikaner stattdessen wäre treu bis in den Tod gewesen, dafür läge sie die Hand ins Feuer. (Warum nur dieser sich schließlich ihrer entledigte? Weil mittlerweile die Naivität einer älter gewordenen Frau ihr schlecht zu Gesicht stand? Die sexuelle Attraktivität einer Jüngeren obsiegte schließlich für diesen zweiten Mann, der sich, in einem Land lebend, wo Geld regierte, so ziemlich jede Frau leisten konnte und eine bedeutend jüngere Latino-Frau erwarb.)
Der zweite Ehemann hatte wegen dieser Ehefrau einige Schwierigkeiten und Hindernisse zu überstehen, musste aus dem diplomatischen Dienst scheiden, weil der Geheimdienst etwas gegen sie, die Ehefrau, vorbrachte, etwas, was sie sich nicht erklären konnte.
Er hatte es eben nicht mehr ertragen können, nicht mehr als Konsul arbeiten zu dürfen, behauptete sie. „Beamter bleibt Beamter!“ Nach der Ehescheidung wurde er auch wieder anstandslos in den diplomatischen Dienst aufgenommen worden. Sie war doch niemals aktive Nationalistin gewesen, nur Mitläuferin, könnte man sagen.
Folgerichtig! Amerikaner sind nun einmal alle Verräter, waren die Gedanken des jungen Arztes.
Sie hatte den treibenden Part ihrer Beziehung inne, ihn bewogen, sie zu heiraten, war zu ihm nach Amerika gezogen und hatte mit ihm sogar noch kurz vorm „Ende der Linie“, wie es im Englischen heißt, ein Kind gezeugt. Die zwei Kinder aus erster Ehe hatte sie leider zurücklassen müssen.
`Dafür wirst du ja auch sterben müssen, weil sogar, wie man hier hört, du die antreibende Kraft der Kollaboration gewesen bist. Und zumal weil du deine Kinder verleugnet hast!´
Der Arzt drehte ihr endgültig den Rücken zu und schritt zur Tür.
Sie hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht.
Er schloss die Tür hinter sich, blieb stehen, steckte befriedigt die Hände in die Taschen des weißen Kittels und dachte: `Selber schuld, wenn du dein Maul nicht halten kannst!´

Ein blendend helles Licht, gleich tausend Scheinwerfern warf sie sofort wieder in jene Müdigkeit zurück, aus der sie aufgewacht war und ließ sie weiterschlafen.
Als sie erneut erwachte, konnte sie sich gegen das gleißende Licht erwehren, in denen sie zuerst dunkle Schatten hin- und her huschen sah, und die Augen öffnen. Es waren die grellen Lichter eines Operationssaales und die Schatten Krankenschwestern. Ein älterer, grauhaariger Sonnyboy, schien ihr, strahlte mit werbefrischen Zähnen auf sie hernieder. "Willkommen in der Welt", begrüßte er sie unwiderstehlich. Das wäre auch ihre Kragenweite gewesen: gebildet, lebensfroh und sportlich.
"Wo bin ich?"
Der smarte Alte sagte süffisant: "Aus der anderen Welt zurück!" und wendete sich zu seinen Untergebenen mit der Anweisung, die Erwachte aus dem OP zu fahren, nur schnell aus seinen Augen, nur keine unangenehmen Fragen.
Über das Gespräch mit Igor Himmler zum Beispiel. Er konnte ihm zwar nichts beweisen, aber ein Verdacht blieb. Dass die Patienten nicht tatsächlich starb, schrieb er dem mangelnden Wissen des in der Ukraine Ausgebildeten zu: westliche Medikamente waren doch unvergleichlich komplexer und erfahrungsbedürftig. Zwar wusste er nicht genau, weswegen der junge Mann dieses Verbrechen an der älteren Dame verübt hatte, aber er ahnte etwas. Was er vermutete, erlaubte ihn, den Mitarbeiter weiterhin angestellt zu lassen, wenn auch auf isolierten Posten.
Als sie in ihr Zimmer zurückgekehrt war, fragte sie den Pfleger, wie lange sie "weg gewesen" war. Der Pfleger grinste gleichfalls, nannte eine viel zu große Zahl an Tagen, bevor er sie ermahnte, sich nicht anzustrengen und zu versuchen, so viel wie möglich zu schlafen, um wieder zu Kräften zu gelangen. Daraufhin verschwand er ziemlich abrupt.
Aber wer dies verlangte, kannte sie nicht. Bald schon interessierte sie sich wieder für ihre Umwelt, für die Nachbarin links und dem Nachbar rechts.
"Wie geht es Ihnen!"
"Danke! Nicht so gut!"
"Wann kommt der junge Herr Himmler?"
"Herr Himmler wird nicht mehr kommen!" Der Nachbar, der viel gelebte und erfahrungsreiche Geschäftsmann, der alle Auf und Abs einer solchen Berufung durchlebt hatte, erzählte ihr, dass dieser bereits seit einigen Wochen versetzt worden war. Sie ließ sich den Tag seiner Versetzung sagen, ließ sich das Datum des Ins-Koma-Fallens nennen und verglich beide einen Augenblick. Ziemlich genau nach dem Tag, wo sie in ihre "Ohnmacht" gefallen ist, sei er versetzt worden. Ob er ihr vielleicht falsche Medikamente gegeben hatte, versehentlich eine Überdosis? Aber, ach Quatsch, dachte sie und blies diese Misstrauensmomente sofort wieder weg.
"Ach, es ist doch schade! Er war so ein netter junger, fleißiger Mann. Vielleicht noch etwas unwissend und unerfahren, auch ein bisschen wortkarg, aber aus gutem Holz, bestimmt!"
Warum sollte auch dieser aufsteigende, junge Arzt ihr, einer alten Matrone, wie sie sich jetzt in einem seltenen Moment der wahren Erkenntnis sah, etwas zuleide tun wollen? Nein, es musste an etwas ganz anderem gelegen haben, warum er versetzt worden war. Nur was? Die Stationsleiterin, die sie nur einmal, aber nur kurz fragen konnte, erging sich in unbefriedigende Vermutungen. Ach, merkwürdig war es schon. Aber was soll's! So musste sie sich mit der Auskunft zufrieden geben, dass der junge Himmler nunmehr in der Röntgenabteilung arbeitete, aus welchen Gründen auch immer.
„Irgendwann müssten wir ja alle einmal sterben, auf diese oder jene Art, oder?“, dachte sie im Halbschlaf schon, weil vernünftig und logisch war das Alles keinesfalls, sagte ihr der Instinkt. Sie war doch schließlich kerngesund, außer einem altersbedingten Rückenleiden drückte ihr nirgendwo der Schuh und dann fiel sie in ein Koma? Nachdem man ihr erstmals Medikamente verabreicht hatte. Rückenleiden und bewusstlos werden passte beim besten Willen nicht zusammen…
Ach, was soll’s, die meisten sterben doch auf die ihnen gemäße Art. Und diejenigen, die immer überleben, überleben es, weil es so gerecht ist, und weil es ihnen das Schicksal halt so vorgegeben hat. Und ich bin eine davon, dachte sie zufrieden und ließ sich gehen, damit sie erneut in ihren Gesundheitsschlaf fallen konnte.



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http://www.youtube.com/wernerpentz

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