Sein letzter Kampf XVIIIEnde

Erzählung zum Thema Alter

von  pentz

Wahrheit und Irritation

Keuchend, japsend, spuckend, schmatzend, lachend, grinsend, grimassierend sitzt mein Onkel in seinem Ohrensessel, als befände er sich in einem Karussell, so führt er sich auf, ist er unruhig, bewegt sich hin und her, beginnt manchmal mit den Händen zu rudern, zu kraulen und zu paddeln, als ertränke er gerade und gelte es, alle Kraft aufzubieten, um nicht zu sinken im Wasser wie ein Stein und das Sprichwort sagt: schwimm oder ertrink! Kämpft er gegen das Leben an? Gegen die Sinnlosigkeit, Leere, Ungerechtigkeit?
Oft sitzt er aber auch aufrecht da, gerader Rücken, die Hände auf die Lehne gelegt, kein gekrümmter Buckel, nichts Hinfälliges an ihm mehr ist, nicht einmal die Zähne lässt er knirschen; übrigens hat er auch keine schiefen, keine mit Lücken, ein akkurat in Reih und Glied dastehendes Heer, wie er gelebt hat, für sich geradlinig, zielbewusst, vorwärtsstrebend und kämpfend mit allen Sinnen, Gliedern und Fasern seines Körpers.
„Junge!“, hat er einmal gesagt. „Die beste Medizin ist ein kämpferisches Leben, glaube mir!“ Da muss etwas dran sein angesichts seines Tipp-topp-Gesundheitszustandes, Mensch: sein Atem verursacht zwar Pfeiftöne, sein Puls geht aber ruhig, er hat bislang nur einen Hirnschlag gehabt, aber keine Aussetzung seines Kreislaufes, quietschfidel und pumperlgesund er ist. Kein Wunder bei diesem erfüllten Leben!?
Beim Schlummern bewegt er manchmal seine schmalen Lippen hin und her - wie jetzt! – dann ist dies für mich das Signal: gleich erzählt er etwas, spuckt er etwas aus, gibt etwas von sich – aufgepasst!
„Die Bombe, sie detonierte. Endlich! Sieg Heil! Sieg Heil!“
Ich gehe langsam um ihn herum und beuge mich ihm zu, lausche von hinten am Ohr vorbei. Stünde ich vor ihm, fühlte er sich wahrscheinlich eingeschüchtert und schwiege.
Er erzählt bestimmt aus seinen mannigfaltigen Erfahrungen während des 2. Weltkriegs, der alte Kämpfer und Nazi, Ukraine, Russland, Polen, Moldawien, Transnistrien undsoweiter. Er ist durch alle diese Ostländer gezogen, mit umgürteten Gewehr, übergeschulterten Rucksack und Granaten im Gürtel, so stelle ich mir das vor. Durchgezogen, wie meine ukrainische Freundin auch, die weitergezogen ist. Sie hat natürlich keine verbrannte Erde hinterlassen. Der Zug der Zeit, würde ich es nennen.
Schließlich bin ich keine Heulsuse.
Das ist das eine. Da kommt aber schon das andere, das Merkwürdige, in Aufregung und Erregung versetzende. Ich bin übrigens längst wieder bei meinem Onkel.
„Universitätsgebäude. Nobelpreis verdient, Negerin, Bum, bum.“
Hat er das Uni-Gebäude in die Luft gesetzt, das, welches vergangenen Jahres in unserer Stadt in die Luft gesprengt worden war von einer schwarzen Frau aus Afrika?
„Diese Schwarze Perle!“
Was er da so murmelt . welche Dinge diese Stichwörter doch zufällig miteinander verbinden?
Die schwarze Frau kam aus Uganda, daran kann ich mich gut erinnern, in der Zeitung gelesen zu haben, weil ich dieses Land erst vor ein paar Jahren besucht habe, so dass mir dieser Umstand der Täterin aus diesem ostafrikanischen Land erinnerlich geblieben ist. Und Uganda bezeichnet sich als die Schwarze Perle Afrikas.
Ist das ein Spiel des Lebens? War er in irgendeiner Weise darin verwickelt, dieser Spitzbube?
Hm, aber was treibt eine Christin zu solch einer Tat? Denn es wurde berichtet, dass die Täterin insbesondere als sehr gläubige Christin bekannt war, wobei sie allerdings in letzter Zeit mit ihrem Glauben sehr gehadert haben soll.
Also, warum Selbstmord, wo doch in diesem Glauben Suizid absolutes Tabu ist?
Waren sie sich begegnet? Sie, die geschwankt hat in ihrem Glauben und er, der doch stets derjenige war, der glaubte, immer zu wissen, was zu tun war? Er war der stabilisierende Faktor in seinem Umfeld gewesen und also: wankelmütige, stark religiöse Frau trifft auf gewaltbereiten Nazi-Fanatiker - was kommt bei diesem Gemisch wohl zutage?
So ein Selbstmordanschlag!?
Bereitet er die Har(t)dware vor, mit der die Fanatikerin, Verzweifelte und Besessene sich in einem Akt der Selbstauslösung befreien konnte?
Passt doch gut zusammen!
Aber zu schrecklich!
Entsetzt setze ich mich auf den Stuhl hinter ihm nieder und denke nach.
Ich habe gehört, dass es Tote gehabt hat: ein Topmanager der Industrie, der oberste Verwaltungschef der Universität und woraufhin die Bombe hin detoniert wurde, und wo und wie genau, just bei der Promotionsübergabe oder kurz vorher, weiß niemand zu sagen, zu befürchten ist, dass dies auch nicht mehr feststellbar ist. Die Ermittler fanden eine totale Wüste der Zerstörung vor, an der zwar die Uganderin als Verursacher identifiziert werden konnte, aber sie stand mit dem Manager zu nahe am Podium, um nicht den Zeitpunkt der Explosion just im Moment der Urkundenübergabe auszuschließen.
Wen aber interessieren solche Details am Ende schon?
Nun, es fällt ein Licht auf meinen Onkel insofern, als eine Uganderin in diesem Heim ein Praktikum absolviert hat. War dies diejenige, die den  Anschlag verübt hat? So spricht das entschieden dafür, dass er doch involviert war, der alte Gauner und Ganove.
Aber zudem, dass mein Onkel mit diesem Anschlag in Verbindung zu bringen wäre, weiß ich aus seinen Munde. Denn die Worte, die aus diesem quirlen, geben einen zu detaillierten Bericht wieder, um nicht Zweifel aufkommen zu lassen. Natürlich könnte dies seiner Phantasie entsprungen sein, einem Schriftsteller-Vorstellungsvermögen gleichkommend, aber unwahrscheinlich, weil mit dieser seltenen Gabe einer herausstechenden Phantasie hat sich mein Onkel noch niemals hervorgetan und – gehoben im Laufe seines bewegten Lebens. Allerdings, so viel ich in letzter Zeit über ihn in Erfahrung gebracht habe, ist auch dies nicht auszuschließen.
Ich schaue in mir an, wie er gerade in einem Schokopudding stochert und herumpantscht, bemerkenswerterweise nicht mit einem Löffel, sondern mit Stäbchen, Reisstäbchen. Er besteht darauf und danach befragt, sagt er : Symbolik, Politik – hm.
Wie soll ich das verstehen?
Auch trinkt er, was er früher niemals gemacht hatte, literweise Cola.
„Ich liebe dieses verunreinigte Getränk!“, brabbelt er, während er sich vollsabbert und darüber wie ein kleines Kind in freudiges Quietschen ausbricht. Ich frage mich, was es da zu lachen gibt? Wenn man sich bekleckert zum einen, aber er lacht nur, wenn er seine Colaflasche bekommt, bei jedem anderen Getränk, geht etwas daneben, ist er ungehalten, ärgert sich über sich selbst und klagt sich an, weil er halt schon so alt sei.
Damit nicht genug, will er unbedingt sich sein Frühstücksbrot selbst streichen und zwar mit Erdnussbutter und nur das: kein Marmelade, kein Käse, keine Wurst. Und wenn die fettige Schicht über das Brot flutscht, die er bis unter seine Nasespitze hält, damit er genau verfolgen kann, wie die Butter über die Scheibe flutscht, freut er sich, als ob es sich beim Streichen der Erdnußbutter um ein Formel I rennen handelte. Und mit welch verzückt-lächelndem Ausdruck er dann in die Stulle beißt, ist nur mit einem Werbeclip im Fernsehen vergleichbar: total heile Welt, unbändiger Genuss und wunschloses Glück.

Das weist daraufhin, dass er freilich nicht ganz bei Sinnen ist. Schwer abgebaut hat er in letzter Zeit. Das macht es schwer, die Wahrheit zu erkennen, die hinter seinen Worten steckt. Merkwürdig ist es schon, dass er dauernd über den Bombenanschlag in der Universität brabbelt, kaum anzunehmen, dass das allein seine Phantasie so angestachelt hat. Hat er aus der Zeitung davon erfahren? Andernfalls brächte mich dies in Verlegenheit. Soll ich ihn anzeigen? Das erscheint mir allerdings als Riesenquatsch angesichts seines Zustandes. Soll man solch einen Daddergreis noch zur Verantwortung ziehen? Hat er nicht, Gott habe seine Seele selig, Ruhe verdient, vielleicht nicht verdient geradezu, aber es sei ihm gegönnt, auch nicht gerade eine glückliche Wortwahl, ich weiß. Aber was soll noch eine Bestrafung dafür sinnvoll sein? In seinem Zustand wird er nichts mehr anrichten können, das steht nun mal fest. Hat aber die Öffentlichkeit ein Recht, informiert zu werden? Es sind schließlich viele Menschenleben umgekommen. Unschuldige. Hm. Ja, alle sind sie unschuldig. Jeder versucht das Beste. Einerseits das Verlangen nach Sühne, der Angehörigen, der Gesellschaft, ah, die lassen wir einmal weg. Andererseits, wann ist der Mensch noch ein Mensch?
Ich weiß auf diese Fragen keine Antworten.
Ich muss darüber nachdenken. Es macht mich verzweifelt, muss ich zugeben, wenngleich ich davor letztendlich nicht flüchten kann und will...
Gähn, ich merke, ich werde müde.
Also,...
Aber was ist da los?
Plötzlich steht er auf, rennt zur Veranda, an der die Tür aufgerissen ist, und, ich traue nicht meinen Augen, denn er beugt sich über die Balustrade, aber nein, will er springen? Tatsächlich nicht, denn er dreht sich um, lehnt sich dagegen und schaut zu mir her. Ich sehe es in seinen Augen: er befindet sich in einer seiner wachen Augenblicken, Zuständen und Situationen. Er grinst, dann verzerrt sich sein Gesicht ganz Ernst und er bekommt schmale Lippen, als bisse er auf diese. Er wendet sich um, steigt auf das Gesims, welch beeindruckende athletische Leistung, hebt den Arm zum bekannten Gruß, der gegen den Horizont, die Menschheit oder das All gerichtet scheint, und springt in dieser Haltung, besser lässt sich wie ein nasser Sack nach unten plumpsen.
Ich merke, dass ich aufwache, weil jemand laut schreit. Achja, alles nur ein Traum, denn ich sehe dort meinen Onkel an seinem angestammten Platz, wie er begeistert, triumphierend und übergerührt mit einem Löffel in einem roten Grütze-Pott stochert und jedes Mal, wenn er vom Mund den Löffel in den Pott zurückstößt, ruft er etwas Unverständliches aus. Allmählich geht es doch mit ihm zuende – Mensch Meyer, da kommt ja noch einiges auf uns zu...

© Werner Pentz

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