Arme Seelen zwischen allen Stühlen

Essay zum Thema Sinn/ Sinnlosigkeit

von  Heor

Fiktives über den Autor von „Eine langweilige Geschichte“, Anton Tschechow

Arme Seelen zwischen allen Stühlen

Ein Essay vonHeor


Wieder einmal sitzt ein Herr Professor, nennen wir ihn Herr O., und nicht nur er, zwischen allen Stühlen. Die Welt spielt verrückt. Im Weltzirkus legen die einen neue Zündschnüre, die anderen warnen vor neuerlichen blutigen Katastrophen.

   
Der russische Schriftsteller Anton
Pawlowitsch Tschechow
Quelle: wikipedia

Es ist der 1.9.2014. Der Professor traut seinen Ohren nicht. Ausgerechnet am Weltfriedenstag folgende Meldung in der ARD: Der Herr Gauck, bekannt als ein Pfarrer, der nichts gegen Waffen hat, besucht Polen. Keine Entschuldigung wegen des Überfalls des deutschen Imperialismus auf Polen. Kein Wort davon, dass die Aggression mit einer Provokation der Faschisten begann, siehe Sender Gleiwitz. Statt dessen ein Bild des Kriegsschiffes, das den ersten Schuß abgegeben hat. Ein Zufallstreffer? Heute ebenso die "altbewährte Methode von Provokationen". So die Ukraine-Krise, die mit der allseitigen Unterstützung der ukrainischen Faschisten gestartet wurde. Russland sei der neue Gegner. Die alten Verbrecher sind aus der Gruft des Nürnberger Prozesses entkommen. Sie leben noch, sie schießen wieder. Es ist zum Kotzen.

Entsetzen über solche Geschichtsverfälschungen, über diese Verdummung des Volkes! Wen trifft es nicht ganz tief im Herzen? Gibt es noch so etwas wie Wahrheit, die bekanntlich vor Kriegen zuerst stirbt? Muss er das überhaupt wissen, der Herr O.? Kann es ihm nicht egal sein? Fühlt er sich als Rentner nicht zufrieden?

Die Gedanken des Herrn O. schweifen zurück, weit zurück. Ja, er gehörte zu jenen Ossis, die zunächst dem Schleim nach Freiheit, die es im Westen angeblich geben sollte, 1989 auf den Leim gingen. Ihm, wie auch anderen einstigen DDR-Bürgern, wurden nach der „Wende“ die Augen geöffnet, so wie z.B. der ehemaligen Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley: Sie setzte alles daran, so sagte sie damals, eine andere Gesellschaft zu erreichen, und sie merke (…), das sei ja alles noch viel schlimmer, perspektivloser, ressourcenvergeudender und unsozialer als damals.

Nicht genug damit. Herr O. fand folgende Zeilen von Herrn Fritz Raddatz (einst DDR-Bürger, dann Flucht in den Westen) in „Unruhestifter“, (Erinnerungen, List Taschenbuch, Ullstein Verlage S. 436) aufschlußreich: „Die Bundesrepublik ist zwar als Staatsform eine Republik; aber sie ist es ihrer inneren Verfasstheit, Moral, Geistigkeit, ihrer politischen Hygiene nach nie gewesen. Sie hat die Nazizeit so wenig ´bewältigt` wie die Weimarer Republik die Kaiserzeit; beide Staaten übernahmen den komplett erhaltenen Beamten-, Militär- und Wirtschaftsapparat des alten Staates. Beide Staaten übernahmen den alten Gefühlshaushalt und Wertekatalog. Beide Staaten waren/sind innen morsch.“ Auf Seite 240 schrieb Raddatz: „Für die Menschen zumindest meiner Generation war Geld nicht der Maßstab, es bestimmte nicht den Lebenshorizont. Verwirklichung fand in der Arbeit statt. (…) Träume galten nicht dem Haben, sie galten dem Sein.“

Norbert Gernhardt, (entnommen kommunisten-online vom 11.9.2012) sieht das so: „Es ist klar, daß in der BRD heute viele Menschen das Gefühl haben, in unvergleichlicher Freiheit zu leben, unvergleichliche Möglichkeiten für Bildung, berufliche Entwicklung, Lebensstil und Reisen zu besitzen. Doch das ist eben nur ein Gefühl, das einem Vergleich mit der sozialistischen Gesellschaft nicht standhält, und das spätestens an der finanziellen Grenze zerschellt, die gesetzt ist, und die zugleich auch die sozialen, d.h. die klassenmäßigen Schranken markiert. Dem Gefühl nach werden Ausbeutung, soziale Ungleichheit, bürokratische Willkür und imperialistische Kriege oft akzeptiert und für ´normal´ gehalten, sozusagen als der ´Preis der Freiheit´ –auch wenn oft die Erkenntnis eine andere ist.“

Der Wissenschaftler O. war einst hoch angesehen, auch international. Auf einem sehr wichtigen Spezialgebiet. Unentbehrlich für weitere Forschungen. Behauptete sich durch große Fähigkeiten und enormes Wissen. Dann besetzten die neuen Herrscher das Land: Raus aus dem Unternehmen! Wir brauchen Sie nicht! Er, der Professor: Ich will ja nur weiter auf meinem Fachgebiet forschen. Atempause. Kurzes Überlegen beim Evaluierer. Das Angebot: Er möge das Materiallager übernehmen...

Diese Demütigung wird Professor O. niemals vergessen. Gibt es eine größere Frechheit, eine größere Dummheit? Eine größere Verachtung geistigen Schaffens? Da war sie – die berüchtigte westliche Arroganz. Ungeist duldet keinen Geist neben sich. Oder wollte man aus ihm einen Hofnarren machen? So wie im Jahre 1714 Friedrich Wilhelm I. den Präsidenten der preußischen Akademie der Wissenschaften Jacob Paul von Gundling in sein „Tabakskollegium“ befiehlt und ihn fortan zum Hofnarren stempelt? (Karl-Heinz Otto, „Gundling“, Edition Märkische Reisebilder, 1. Auflage 2003, Seite 18.)

Und heute als Rentner? Professor O. sitzt gerne am Computer und schreibt und schreibt. Politische Texte. Auch Rezensionen. Lässt er davon etwas per online ins Netz entwischen, dann kann er sich mitunter frisch machen. Zustimmung auf der einen, Zeckenbisse auf der anderen Seite. Er sei einer, der die neue Zeit verschlafen habe, ein Ewiggestriger, ein Träumer. Ihn möge man bald entsorgen, aber das Alter tue es ja ohnehin, biologisch sozusagen…

Die Täuschung - „SO oder SO“

Wo ist der Sinn des Lebens geblieben? Der Professor liest folgende treffende Worte in der Monatszeitschrift RotFuchs vom August 2014: „Die Erosion der unipolaren Weltordnung seit dem Ende des Kalten Krieges hat sich durch die Ukraine-Krise beschleunigt, während Rußland als aufsteigende Großmacht neues Selbstvertrauen gewinnt. Es ist nicht gewillt, der 20jährigen NATO-Ausdehnung auf seine Kosten weiterhin keinen Widerstand entgegenzusetzen.“

In der gleichen Schrift schreibt die Autorin Samira Manthey von der Methode der Eliten, Zweifel und Hoffnungslosigkeit zu säen, indem den Lesern eingetrichtert wird, man müsse alles „so oder so“ sehen. Begriffe würden ihre Eindeutigkeit verlieren, Möglichkeiten wären schöner als `Festschreibungen, „es gäbe keinerlei Gemeinsamkeiten zwischen Individuen und vor allem nicht die daraus resultierende Verantwortung füreinander.“

Alles so oder so sehen? Nach keinem Standpunkt streben? Keine Meinung, keine Urteilskraft ausbilden wollen? Welch ein Verlust an Werten geht da vonstatten, fragt sich Herr O. Er hat von der USA-Militärdoktrin gelesen, vom Bestreben Washingtons, in der Welt zu dominieren, Europa als Aufmarschgebiet gen Osten unter seinen Fittichen im Griff zu behalten. Was kann er, der Herr Professor, dagegen tun? Eigentlich gar nichts. Oder doch? Vielleicht eine Buchlesung organisieren? Als Hilfe zur Aufklärung? Um zu zeigen, mit welchem Menschenbild und mit welchen Methoden das Weltkapital gegen die Völker vorgeht? Beginnen würde er als Verehrer des russischen Schriftstellers Anton Tschechow mit dessen Erzählung vom Jahre 1889 „Eine langweilige Geschichte“. Ein Zitat ist ihm ans Herz gewachsen:

„Wenn im Menschen nicht das lebt, was höher und stärker als alle äußeren Umstände ist, dann freilich genügt für ihn ein ordentlicher Schnupfen, um das Gleichgewicht zu verlieren und in jedem Vogel eine Eule zu sehen, ...“ (Seite 87).

Auf Seite 90 bedauert der Dichter jene Menschen, die sich von keiner Idee, sprich Weltanschauung, leiten lassen, als arme Seelen, als Kreaturen, die „keine Zuflucht“ finden. Und er hänsele gerne, wo er „mit einem Fuße schon im Grabe stehe!“ ( Seite 71, Insel-Verlag, Leipzig 1977).

Wer sucht und findet heute, im Jahre 2014, Zuflucht, Lebenssinn? Es scheint, Tschechows literarische Mahnung im zaristischen Russland würde nach fast 130 Jahren fortgeschrieben werden müssen. Diesmal in Europa, mehr noch in Deutschland. Nur unter einem anderen Titel. Der sollte lauten: „Arme Seelen zwischen allen Stühlen.“

Wie soll man sich positionieren? Gibt es fertige Antworten? Wie ist es mit der Neugier bestellt, mit dem Drang nach Bildung? Was geschieht heute in und mit der Gesellschaft? Muss er sich eine Antwort geben? Soll es ihm wie dem alten russischen Professor ergehen, den der gute alte Anton Tschechow im Regen stehen ließ, als dieser seiner Pflegetochter nicht darauf antworten konnte, worin der Sinn des Lebens bestehe. Wer und warum verführt und verdummt man die Hörer und Leser? Weiß er es, der heutige Prof. O.?

Liebe contra Menschenverachtung

Herr O., angetrieben von inneren Ängsten, ob die Welt nunmehr im Jahre 2014 am Scheideweg steht, ob wieder Kriege dominieren oder die Hoffnung auf ewigen Frieden, zweifelt. Wer ist schuld am Dilemma zwischen neuerlichem Waffengeklirr und der Lethargie, der Abwartehaltung vieler „armer Seelen“? Wer will das eindeutig beantworten? Wo „es uns doch so gut geht?“ Sind etwa die Politik und die Medien mit ihren Denkschablonen, Verführungskünsten und Verhaltensmustern so leicht zu durchschauen? Steht bei denen der Mensch im Mittelpunkt? Ja doch, rufen die Zecken. Du darfst alles, du bekommst alles. Du musst nur kaufen auf Teufel komm raus. Dann bist du okay. Ist das nicht eine Absage an das Menschsein, fragt sich Herr O. Eine Antwort findet er in der Zeitung „junge welt“, geschrieben von Werner Seppmann:

„Es wird ein Menschenbild negiert, das als Gegenprinzip zur Welt der Entfremdung und Verdinglichung dienen könnte. Die theoretische Abwertung des Menschen korrespondiert mit der Weigerung, sich überhaupt noch mit den gesellschaftlichen Verhältnissen und den von ihnen produzierten Entfremdungsformen jenseits symbolischer Beschwörungsrituale auseinanderzusetzen.“

Liebe oder Menschenverachtung? Was dominiert? Was soll man dazu sagen, wenn bereits Studenten darauf getrimmt werden, die Politik und vor allem das Soziale nicht mit ins Kalkül ihrer Bestrebungen zu ziehen? Es sei nicht notwendig, sich mit diesem unnützen Zeug zu beschäftigen? So gelesen in dem soeben veröffentlichten Büchlein „Warum unsere Studenten so angepasst sind.“ Autorin: Christiane Florin.

Ist diese Anpassung nur bei Studenten anzutreffen? Warum ganze Heerscharen von Hörern und Lesern schlucken sollen, was die Oberen samt ihrer Medien verkünden, fragt sich der Rentner. Er sammelt und sammelt in online-Zeitungen und politischen Sachbüchern. Und wird fündig...

Geist verscharren & Geist retten

Es ist der fünfzehnte August. Den Herr Professor O. schüttelt ein Lach- und gleichzeitig ein Weinkrampf. Da wurde in den Nachrichten gemeldet, der Kopf des großen Denkers Lenin sei einst nach der sogenannten Wende im Walde vergraben worden. Die einen frohlocken, die anderen verspüren symbolisch einen großen Verlust. Die Ersteren glauben mit Sicherheit, mit dem Verscharren des Granitschädels die Menschheit auf ein Nimmerwiedersehen von seinem Geist befreit zu haben, die Gegenspieler sind nicht müde geworden, ihn wieder – symbolisch – aus der Erde zu kratzen. Angst vor dem großen Geist auf der einen Seite – Verlust und Wiederbelebungsversuche auf der anderen. Zwei Pole, die sich gegenseitig abstoßen. Die den tieferen Grund bilden für das Dilemma in unserer Welt. Die einen verscharren den menschlichen politischen Geist – die anderen kratzen ihn wieder an´s Tageslicht. So oder so...

Zu den Ersteren gehört auch Brandenburgs Ministerpräsident. Der lässt am 17. August 2014 im „Märkischen Sonntag“ verlauten: „Unser Nachwuchs muss ein so bedeutsames Datum kennen und einordnen können (er meint den 13. August 1961, Anmerkung H.P.). Auch wenn wie heute selbstbestimmt und in Freiheit leben, so bleibt es zugleich wichtig, an das Unrecht und an die Mauertoten zu erinnern.“

Was faselt da Herr Woidke (und andere Politiker stoßen in das gleiche Horn), man müsse etwas einordnen können? Wenn bei TV-Umfragen fast jeder zweite gar nicht mehr weiß, wann die „Mauer“ erbaut wurde? Wenn deren Sinn flöten gegangen ist, wenn die geschichtlichen Ursachen des vom Westen provozierten Kalten Krieges totgeschwiegen und lediglich auf Tränen, Familientrennungen und Opfer in der Berichterstattung reduziert werden? Die Betrachtungsweise, das „So oder so“ bekommt damit eine viel größere und wichtigere Funktion, eine politische Dimension. Zu kurz gedacht?

Da quasselt der Herr Bundespräsident - und mit ihm die ganze Clique der Politischen und Kapitalmächtigen - bei der Beurteilung des Ersten Weltkrieges lediglich von den Schrecken der menschlichen Katastrophe, und das Jetzige müsse mit der Waffe in der Hand europaweit verteidigt werden. So gauckelt einer rum, der unter Freiheit lediglich die Finanzgewaltigen und deren Machtfestigung meint. Und die Verursacher der Kriege? Dazu kein Wort, das wäre ja Selbstmord. Dafür schwingen andere Töne durch den Äther: „Wir sind wieder wer!“ Auch mit Waffenlieferungen an die irakischen Kurden? Großmachtgelüste lassen grüßen.

Niemand der sogenannten Eliten und ihrer Marionetten hat das Wohl der Menschen im Auge. Was bist du als Bürger im Kapitalismus? Freiwild auf dem Wild-Tanz-Parkett des ungezügelten Marktes. Wenn du kein Konsumidiot sein willst und kannst - dann bist du ein überflüssiger Mensch. So einfach und brutal ist das. Das einstige WIR tendiert zum ICH! Deshalb lobpreisen sie den Individualismus. Zertreten kollektive Erfahrungen. Zerschmettern jeglichen Rest von Solidarität, lassen dem Zwischenmenschlichen mit ihrer kalten Gier nach Profit keinen Raum mehr. Predigen die Selbsthilfe, um Geld zu sparen. Soll doch jeder zusehen, wie er weiterkommt. Der Staat hält sich raus. Weitgehend. Und die Deutschen erklimmen im europäischen Raum eine Vormachtstellung. Für wen bitte? Und züchten gehorsame Mitläufer. Auch mit dem Sturmgewehr in der Hand?

Freiheit für wen? Und diesen Begriff benutzen die Oberen heute als Schlagwort! Nichts steckt dahinter als das was tatsächlich gemeint ist: Die Herrschaft des Kapitals. Dafür sollst du leben, dafür sollst du zahlen, dafür sollst du - einst unter dem Motto für Gott und Vaterland - dein Leben geben. Ist hier jemand betrunken? Im Kern geht es um eine sehr grundlegende Fehleinschätzung der realen Welt. Die einfach existiert, und zwar ohne den Willen der Menschen. Diesen Natur- und gesellschaftlichen Gesetzen hat sich die Menschheit unterzuordnen. Freiheit ohne deren gesetzmäßige Grundlagen zu betrachten bedeutet schlechthin eine idealistische Sicht. Sie zu berücksichtigen, um keine Fehldiagnosen zuzulassen, erfordert, eine marxistische Sicht einzunehmen. Also eine realistische, dialektische Sicht. So einfach liegen die Dinge, will man sich nicht von den Herrschenden verkohlen lassen. Da hilft keine Frömmelei, kein Wille, es sich menschlich einrichten zu wollen - wenn du gesetzmäßige Abhängigkeiten und Zusammenhänge arrogant ignorierst, dann zum Teufel mit dir. Dann gehst du halt bei stürmischer See ins Wasser und der Sog zieht dich hinaus auf ein Nimmerwiedersehen. Tödlich wird das Ganze, wenn man dem ursächlich vorhandenen Zusammenhang zwischen Maximalprofit und der Entstehung und dem Führen von Kriegen aus dem Wege geht. Tödlich für Millionen von Menschen. Gewinnbringend für die angestrebten Millionen der Kriegsgewinnler. So oder so.

Um Symptome oder Ursachen?

„So oder so?“ Sozialismus oder Barbarei? Frieden oder Krieg? Muss man da noch überlegen, abwägen? Wo leben wir? Diese schwankende, lavierende Unverbindlichkeit als Methode. Sie folgt haargenau dem oben geschilderten bürgerlichen Menschenbild. Du hast stets die Wahlmöglichkeit. Oben sein, ganz oben, oder im Nirgendwo landen. „Na und?“, meint mancher Zyniker. Substanz oder Inhalt. Reden oder Tun. Sich mit Symptomen begnügen oder den Ursachen auf den Grund gehen? Verpackung oder Inhalt. Make-up oder Leere. Oberfläche oder Tiefe. Das Böse oder das Gute? (Übrigens die einfältigste Sicht, die es gibt auf Erden.) Wachstum statt Fortschritt, Konflikt statt Krieg, Kollateralschäden statt zivile Opfer.„Tafeln“ als Aushängeschilder des sich sozial gebärdenden Staates. Da rühren die Allmächtigen am Schlaf der Welt, rühren die Kriegstrommeln - und keiner regt sich auf? Befinden wir uns noch im Wachzustand?

Inhaltslose Formenspielerei auch in Ausstellungen und Museen. So nahm Werner Seppmann in der „jungen Welt“ vom 10.08.2012 unter dem Titel „Ästhetik der Banalisierung“, folgende Erscheinungen unter die Lupe, hier nur in Stichworten wiedergegeben: Ästhetisierende Belanglosigkeiten, die sich formal und inhaltlich im Kreis bewegen. Immer seltener: ernsthafte und herausfordernde Fragen. Das bloße Konstatieren bietet keine Perspektive des Erkennens sondern festigt verdinglichtes Alltagsbewußtsein. „Die Herrschaft der Zeit“ sei nur die Kehrseite eines gesteigerten sozialen Anpassungs- und Bewährungsdrucks. Die Dominanz einer penetranten Selbstbezüglichkeit. Lösungsvorschläge für die drängenden Gegenwartsfragen werden auf die esoterische Seinsvergessenheit herabgezogen. Abschied von der Vernunft und sozialen Ansprüchen: postmodernes Denken. Dezentrierung des Subjektes. Überwindung des Logozentrismus oder der posthumanistischen Perspektive. Wörtlich: „Soll die herrschende Atmosphäre der Resignation und Gleichgültigkeit … gefestigt werden, muss progressives Wissen um die gesellschaftlichen Veränderungsmöglichkeiten und die Überwindung von Fremdbestimmung zerstört werden.“

„Ich will, dass unsere Frauen, Kinder, Freunde und Schüler in uns nicht den Namen und nicht die Etikette lieben, sondern einfach den Menschen“, schreibt Anton Tschechow in der langweiligen Geschichte auf Seite 86.

Zum Haare raufen! Das verbietet niemand. Das „großartige“ demokratische Angebot der Mächtigen im pluralistischen System: Da darfst´e schreiben oder quasseln bis dein Kopf qualmt, schimpfen, randalieren, die Politik fertigmachen, demonstrieren. Du darfst lesen oder den TV einstellen, einen anderen Sender wählen oder alles auch sein lassen. Du darfst überhaupt alles rausschreien in Mails, Briefen, Beschwerden und Artikeln - das Ganze hat nur einen Haken: Es geht alles durch ein unsichtbares Sieb. Das nennt sich nicht Zensur, nein, nein, es ist eine Methode der Ablenkung, des Totschweigens, der Orientierung auf Banalitäten, auf Nebensächlichkeiten. Die angepriesene Vielfalt soll für Demokratie stehen. Das ist irritierend. Und bemäntelt gleichzeitig die wahren Absichten der oberen Zehntausend nach Macht und Profit auf Kosten des Sozialen. Die Negierung des Gesamtzusammenhangs - das ist Ideologie der schlimmsten Art, das ist gewollt. Was ist eine Hochwassergefahr, die gebändigt werden kann, gegen eine mächtiger werdende geistige Kloaken-Flut? Unterhaltung aber auf seichteste Art liegt immer gut im Rennen, lässt sich gut verkaufen, ist richtig cool. Herr O. kann ein Lied davon singen...

So wird Verdruss geboren. Gleichgültigkeit. Und Untätigkeit, etwas ändern zu wollen und zu können. Manche greifen zum Alkohol, andere beten wieder, vielen ist es schnuppe, sie arbeiten und machen sich keinen Kopf. Viele jüngere Leute besinnen sich nur auf sich selber. „Viele junge Menschen leben völlig losgelöst von echter gesellschaftlicher Aktion als schnäppchenjagende Konsumenten und törichte Objekte politischer Manipulation. Das geschieht zur Freude derer, die Solidarität und echte Massenimpulse gar nicht erst aufkommen lassen wollen.“ (RotFuchs August 2014)

Das Politikverständnis habe sich verflüssigt, bemängelt Christiane Florin in ihrem in Teil I genanntem Buch zu den angepassten Studenten auf Seite 20, es sei unterspült „von einer Mischung aus Desinteresse und punktuellem Engagement. Verflüchtigt hat sich der Gedanke, dass politisches Bewusstsein zum Erwachsenwerden dazugehört.“

Schwindet mit dem WIR die Verantwortung des Einzelnen für das Ganze? Dazu ein Zitat aus dem „RotFuchs“ (August 2014, S. 13): „In einer Zeit, in der sich die Tagespolitik fast ausschließlich mit Krisen und Kriegen beschäftigt, werden Völkerrechtsverbrechen und der Bruch elementarer Menschenrechtsnormen zur Gewohnheit. Man nimmt sie gewissermaßen als Begleiterscheinungen des politischen Geschehens hin, weil ja ohnehin niemand zur Verantwortung gezogen wird. Die Eigenschaft des menschlichen Verstandes, Autoritäten und Entscheidungen zu hinterfragen, ist vielen leider abhanden gekommen. Eine perfide Propaganda entzieht ihnen die Fähigkeit, über Zusammenhänge tiefer nachzudenken, zumal sich das Leben der meisten auf einen reinen Existenzkampf reduziert hat. Der verbleibende Rest an frei verfügbarer Zeit wird immer mehr mit Late-Night-, Talk-, Dschungel- und Ekel-Shows sowie Videospielen vergeudet. Da bleibt für eigenes Denken kein Platz. Begriffe wie Recht und Gesetz werden von den Herrschenden bagatellisiert oder instrumentalisiert, wenn sie ins Bild passen, um noch so abstruse Ziele oder Geschehnisse zu rechtfertigen.“

Nein, nein, Herr O. lässt sich nicht mehr täuschen: Weder bei gutem Essen noch bei geistiger Kost, weder beim Einkaufen noch bei verführerischen Werbetelefonaten, weder bei falschen Versprechungen noch bei angeblichen Mogelpackungen, weder bei inhaltlich flachgebürsteten TV-Produktionen noch bei oberflächlichen Talk-Shows, weder bei fehlerhaften Diagnosen von Ärzten noch bei falsch servierten Speisen im Restaurant. Tiefgründige Diagnosen? Fehlanzeige, das gefährdet das Überleben der angeblichen Elite.

Wer wehrt sich? Zwischen Kriegsgeschrei auch ein Mahnruf der Linken, endlich mal wieder: So ist in der jungen Welt vom 14.08.2014 mit der Überschrift „Gescheiterte Staaten in Serie“ eine Gemeinsame Erklärung der Vorsitzenden der Partei DIE LINKE, Bernd Riexinger und Katja Kipping, sowie des Vorsitzenden der Linksfraktion im Bundestag, Gregor Gysi, zu lesen: „Die Welt steht am Scheideweg zwischen einer neuen Ära der Eskalation in Blockkonstellationen und einer Renaissance internationaler Konfliktlösungsmechanismen im globalen Maßstab.“

Stehen auch die Menschen am Scheideweg? Was tun, wenn ihnen lediglich ein Ist-Zustand vorgezeigt wird, wenn ihnen Ursachen vorenthalten werden? Das ist geistige Unterdrückung. Das verdirbt und vernebelt die Hirne, das macht die Menschen letztendlich krank und gefügig. Damit ist die Verführung perfekt, der Magen verdorben und das Hirn entleert. Das Resultat oberflächlicher und inhaltsloser Berichterstattung: Kälte, Enthemmung, Leichtsinn, Arroganz, Interessenlosigkeit, Unglaube an Veränderungen, Inaktivität, Zurückziehen auf das nur Private. So beginnt der langsame Tod, die seelenlose Etappe des Absterbens der eigentlichen Werte - der Frage nach dem Sinn des Lebens. Des Zustandes, dass es keine Fragen mehr gibt. Die Armut des Materiellen hat eine Schwester: Die Armut der Zufriedenen, die sich behaglich zurücklehnen und im „Berufsleben“ stets auf Lauer-Position sein müssen. Gleichgültigkeit und Abscheu vor Politik, das ist Verfall.

Herr Professor O. und Tschechow-Verehrer wird seine Buchlesung halten. Seine Krankheit der drohenden Sorg- und Interessenlosigkeit hat er überwunden. Selbstbestimmt. Wenn auch das Wort noch kein Tun ist. Er wird, das ahnt er, seine Lesung über den Sinn des Lebens womöglich in einem halbleeren Saal halten. Seine Gedanken? Werden sie ins Leere gehen? Vor müde abnickenden Studenten? Wäre das ein Zeichen des Verfalls? Das Unbehagen jener Schreiberlinge in Zeitungen und Sachbüchern, die Zustände zwar markieren, treffend und kritisch oft, sozusagen in jedes Fettnäpfchen tretend, hält an: Lösungen sind nicht in Sicht? Bleibt es dabei: So oder so? Arme Seelen zwischen allen Stühlen? Oder übersieht er sie – die Anzeichen vom Widerstand der Unzerbrechlichen weltweit? ...

Lieber Anton Tschechow, es wird wieder andere Zeiten geben, versprochen!

(Erstveröffentlichung in der Neuen Rheinischen Zeitung:
http://www.nrhz.de/flyer/suche.php?ressort_id_menu=23&ressort_menu=Literatur )

Mehr über den Rezensenten:  http://cleo-schreiber.blogspot.com


Anmerkung von Heor:

Fiktives über den Autor von „Eine langweilige Geschichte“, Anton Tschechow

Arme Seelen zwischen allen Stühlen

Ein Essay von Heor


Wieder einmal sitzt ein Herr Professor, nennen wir ihn Herr O., und nicht nur er, zwischen allen Stühlen. Die Welt spielt verrückt. Im Weltzirkus legen die einen neue Zündschnüre, die anderen warnen vor neuerlichen blutigen Katastrophen.


Der russische Schriftsteller Anton
Pawlowitsch Tschechow
Quelle: wikipedia

Es ist der 1.9.2014. Der Professor traut seinen Ohren nicht. Ausgerechnet am Weltfriedenstag folgende Meldung in der ARD: Der Herr Gauck, bekannt als ein Pfarrer, der nichts gegen Waffen hat, besucht Polen. Keine Entschuldigung wegen des Überfalls des deutschen Imperialismus auf Polen. Kein Wort davon, dass die Aggression mit einer Provokation der Faschisten begann, siehe Sender Gleiwitz. Statt dessen ein Bild des Kriegsschiffes, das den ersten Schuß abgegeben hat. Ein Zufallstreffer? Heute ebenso die "altbewährte Methode von Provokationen". So die Ukraine-Krise, die mit der allseitigen Unterstützung der ukrainischen Faschisten gestartet wurde. Russland sei der neue Gegner. Die alten Verbrecher sind aus der Gruft des Nürnberger Prozesses entkommen. Sie leben noch, sie schießen wieder. Es ist zum Kotzen.

Entsetzen über solche Geschichtsverfälschungen, über diese Verdummung des Volkes! Wen trifft es nicht ganz tief im Herzen? Gibt es noch so etwas wie Wahrheit, die bekanntlich vor Kriegen zuerst stirbt? Muss er das überhaupt wissen, der Herr O.? Kann es ihm nicht egal sein? Fühlt er sich als Rentner nicht zufrieden?

Die Gedanken des Herrn O. schweifen zurück, weit zurück. Ja, er gehörte zu jenen Ossis, die zunächst dem Schleim nach Freiheit, die es im Westen angeblich geben sollte, 1989 auf den Leim gingen. Ihm, wie auch anderen einstigen DDR-Bürgern, wurden nach der „Wende“ die Augen geöffnet, so wie z.B. der ehemaligen Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley: Sie setzte alles daran, so sagte sie damals, eine andere Gesellschaft zu erreichen, und sie merke (…), das sei ja alles noch viel schlimmer, perspektivloser, ressourcenvergeudender und unsozialer als damals.

Nicht genug damit. Herr O. fand folgende Zeilen von Herrn Fritz Raddatz (einst DDR-Bürger, dann Flucht in den Westen) in „Unruhestifter“, (Erinnerungen, List Taschenbuch, Ullstein Verlage S. 436) aufschlußreich: „Die Bundesrepublik ist zwar als Staatsform eine Republik; aber sie ist es ihrer inneren Verfasstheit, Moral, Geistigkeit, ihrer politischen Hygiene nach nie gewesen. Sie hat die Nazizeit so wenig ´bewältigt` wie die Weimarer Republik die Kaiserzeit; beide Staaten übernahmen den komplett erhaltenen Beamten-, Militär- und Wirtschaftsapparat des alten Staates. Beide Staaten übernahmen den alten Gefühlshaushalt und Wertekatalog. Beide Staaten waren/sind innen morsch.“ Auf Seite 240 schrieb Raddatz: „Für die Menschen zumindest meiner Generation war Geld nicht der Maßstab, es bestimmte nicht den Lebenshorizont. Verwirklichung fand in der Arbeit statt. (…) Träume galten nicht dem Haben, sie galten dem Sein.“

Norbert Gernhardt, (entnommen kommunisten-online vom 11.9.2012) sieht das so: „Es ist klar, daß in der BRD heute viele Menschen das Gefühl haben, in unvergleichlicher Freiheit zu leben, unvergleichliche Möglichkeiten für Bildung, berufliche Entwicklung, Lebensstil und Reisen zu besitzen. Doch das ist eben nur ein Gefühl, das einem Vergleich mit der sozialistischen Gesellschaft nicht standhält, und das spätestens an der finanziellen Grenze zerschellt, die gesetzt ist, und die zugleich auch die sozialen, d.h. die klassenmäßigen Schranken markiert. Dem Gefühl nach werden Ausbeutung, soziale Ungleichheit, bürokratische Willkür und imperialistische Kriege oft akzeptiert und für ´normal´ gehalten, sozusagen als der ´Preis der Freiheit´ –auch wenn oft die Erkenntnis eine andere ist.“

Der Wissenschaftler O. war einst hoch angesehen, auch international. Auf einem sehr wichtigen Spezialgebiet. Unentbehrlich für weitere Forschungen. Behauptete sich durch große Fähigkeiten und enormes Wissen. Dann besetzten die neuen Herrscher das Land: Raus aus dem Unternehmen! Wir brauchen Sie nicht! Er, der Professor: Ich will ja nur weiter auf meinem Fachgebiet forschen. Atempause. Kurzes Überlegen beim Evaluierer. Das Angebot: Er möge das Materiallager übernehmen...

Diese Demütigung wird Professor O. niemals vergessen. Gibt es eine größere Frechheit, eine größere Dummheit? Eine größere Verachtung geistigen Schaffens? Da war sie – die berüchtigte westliche Arroganz. Ungeist duldet keinen Geist neben sich. Oder wollte man aus ihm einen Hofnarren machen? So wie im Jahre 1714 Friedrich Wilhelm I. den Präsidenten der preußischen Akademie der Wissenschaften Jacob Paul von Gundling in sein „Tabakskollegium“ befiehlt und ihn fortan zum Hofnarren stempelt? (Karl-Heinz Otto, „Gundling“, Edition Märkische Reisebilder, 1. Auflage 2003, Seite 18.)

Und heute als Rentner? Professor O. sitzt gerne am Computer und schreibt und schreibt. Politische Texte. Auch Rezensionen. Lässt er davon etwas per online ins Netz entwischen, dann kann er sich mitunter frisch machen. Zustimmung auf der einen, Zeckenbisse auf der anderen Seite. Er sei einer, der die neue Zeit verschlafen habe, ein Ewiggestriger, ein Träumer. Ihn möge man bald entsorgen, aber das Alter tue es ja ohnehin, biologisch sozusagen…

Die Täuschung - „SO oder SO“

Wo ist der Sinn des Lebens geblieben? Der Professor liest folgende treffende Worte in der Monatszeitschrift RotFuchs vom August 2014: „Die Erosion der unipolaren Weltordnung seit dem Ende des Kalten Krieges hat sich durch die Ukraine-Krise beschleunigt, während Rußland als aufsteigende Großmacht neues Selbstvertrauen gewinnt. Es ist nicht gewillt, der 20jährigen NATO-Ausdehnung auf seine Kosten weiterhin keinen Widerstand entgegenzusetzen.“

In der gleichen Schrift schreibt die Autorin Samira Manthey von der Methode der Eliten, Zweifel und Hoffnungslosigkeit zu säen, indem den Lesern eingetrichtert wird, man müsse alles „so oder so“ sehen. Begriffe würden ihre Eindeutigkeit verlieren, Möglichkeiten wären schöner als `Festschreibungen, „es gäbe keinerlei Gemeinsamkeiten zwischen Individuen und vor allem nicht die daraus resultierende Verantwortung füreinander.“

Alles so oder so sehen? Nach keinem Standpunkt streben? Keine Meinung, keine Urteilskraft ausbilden wollen? Welch ein Verlust an Werten geht da vonstatten, fragt sich Herr O. Er hat von der USA-Militärdoktrin gelesen, vom Bestreben Washingtons, in der Welt zu dominieren, Europa als Aufmarschgebiet gen Osten unter seinen Fittichen im Griff zu behalten. Was kann er, der Herr Professor, dagegen tun? Eigentlich gar nichts. Oder doch? Vielleicht eine Buchlesung organisieren? Als Hilfe zur Aufklärung? Um zu zeigen, mit welchem Menschenbild und mit welchen Methoden das Weltkapital gegen die Völker vorgeht? Beginnen würde er als Verehrer des russischen Schriftstellers Anton Tschechow mit dessen Erzählung vom Jahre 1889 „Eine langweilige Geschichte“. Ein Zitat ist ihm ans Herz gewachsen:

„Wenn im Menschen nicht das lebt, was höher und stärker als alle äußeren Umstände ist, dann freilich genügt für ihn ein ordentlicher Schnupfen, um das Gleichgewicht zu verlieren und in jedem Vogel eine Eule zu sehen, ...“ (Seite 87).

Auf Seite 90 bedauert der Dichter jene Menschen, die sich von keiner Idee, sprich Weltanschauung, leiten lassen, als arme Seelen, als Kreaturen, die „keine Zuflucht“ finden. Und er hänsele gerne, wo er „mit einem Fuße schon im Grabe stehe!“ ( Seite 71, Insel-Verlag, Leipzig 1977).

Wer sucht und findet heute, im Jahre 2014, Zuflucht, Lebenssinn? Es scheint, Tschechows literarische Mahnung im zaristischen Russland würde nach fast 130 Jahren fortgeschrieben werden müssen. Diesmal in Europa, mehr noch in Deutschland. Nur unter einem anderen Titel. Der sollte lauten: „Arme Seelen zwischen allen Stühlen.“

Wie soll man sich positionieren? Gibt es fertige Antworten? Wie ist es mit der Neugier bestellt, mit dem Drang nach Bildung? Was geschieht heute in und mit der Gesellschaft? Muss er sich eine Antwort geben? Soll es ihm wie dem alten russischen Professor ergehen, den der gute alte Anton Tschechow im Regen stehen ließ, als dieser seiner Pflegetochter nicht darauf antworten konnte, worin der Sinn des Lebens bestehe. Wer und warum verführt und verdummt man die Hörer und Leser? Weiß er es, der heutige Prof. O.?

Liebe contra Menschenverachtung

Herr O., angetrieben von inneren Ängsten, ob die Welt nunmehr im Jahre 2014 am Scheideweg steht, ob wieder Kriege dominieren oder die Hoffnung auf ewigen Frieden, zweifelt. Wer ist schuld am Dilemma zwischen neuerlichem Waffengeklirr und der Lethargie, der Abwartehaltung vieler „armer Seelen“? Wer will das eindeutig beantworten? Wo „es uns doch so gut geht?“ Sind etwa die Politik und die Medien mit ihren Denkschablonen, Verführungskünsten und Verhaltensmustern so leicht zu durchschauen? Steht bei denen der Mensch im Mittelpunkt? Ja doch, rufen die Zecken. Du darfst alles, du bekommst alles. Du musst nur kaufen auf Teufel komm raus. Dann bist du okay. Ist das nicht eine Absage an das Menschsein, fragt sich Herr O. Eine Antwort findet er in der Zeitung „junge welt“, geschrieben von Werner Seppmann:

„Es wird ein Menschenbild negiert, das als Gegenprinzip zur Welt der Entfremdung und Verdinglichung dienen könnte. Die theoretische Abwertung des Menschen korrespondiert mit der Weigerung, sich überhaupt noch mit den gesellschaftlichen Verhältnissen und den von ihnen produzierten Entfremdungsformen jenseits symbolischer Beschwörungsrituale auseinanderzusetzen.“

Liebe oder Menschenverachtung? Was dominiert? Was soll man dazu sagen, wenn bereits Studenten darauf getrimmt werden, die Politik und vor allem das Soziale nicht mit ins Kalkül ihrer Bestrebungen zu ziehen? Es sei nicht notwendig, sich mit diesem unnützen Zeug zu beschäftigen? So gelesen in dem soeben veröffentlichten Büchlein „Warum unsere Studenten so angepasst sind.“ Autorin: Christiane Florin.

Ist diese Anpassung nur bei Studenten anzutreffen? Warum ganze Heerscharen von Hörern und Lesern schlucken sollen, was die Oberen samt ihrer Medien verkünden, fragt sich der Rentner. Er sammelt und sammelt in online-Zeitungen und politischen Sachbüchern. Und wird fündig...

Geist verscharren & Geist retten

Es ist der fünfzehnte August. Den Herr Professor O. schüttelt ein Lach- und gleichzeitig ein Weinkrampf. Da wurde in den Nachrichten gemeldet, der Kopf des großen Denkers Lenin sei einst nach der sogenannten Wende im Walde vergraben worden. Die einen frohlocken, die anderen verspüren symbolisch einen großen Verlust. Die Ersteren glauben mit Sicherheit, mit dem Verscharren des Granitschädels die Menschheit auf ein Nimmerwiedersehen von seinem Geist befreit zu haben, die Gegenspieler sind nicht müde geworden, ihn wieder – symbolisch – aus der Erde zu kratzen. Angst vor dem großen Geist auf der einen Seite – Verlust und Wiederbelebungsversuche auf der anderen. Zwei Pole, die sich gegenseitig abstoßen. Die den tieferen Grund bilden für das Dilemma in unserer Welt. Die einen verscharren den menschlichen politischen Geist – die anderen kratzen ihn wieder an´s Tageslicht. So oder so...

Zu den Ersteren gehört auch Brandenburgs Ministerpräsident. Der lässt am 17. August 2014 im „Märkischen Sonntag“ verlauten: „Unser Nachwuchs muss ein so bedeutsames Datum kennen und einordnen können (er meint den 13. August 1961, Anmerkung H.P.). Auch wenn wie heute selbstbestimmt und in Freiheit leben, so bleibt es zugleich wichtig, an das Unrecht und an die Mauertoten zu erinnern.“

Was faselt da Herr Woidke (und andere Politiker stoßen in das gleiche Horn), man müsse etwas einordnen können? Wenn bei TV-Umfragen fast jeder zweite gar nicht mehr weiß, wann die „Mauer“ erbaut wurde? Wenn deren Sinn flöten gegangen ist, wenn die geschichtlichen Ursachen des vom Westen provozierten Kalten Krieges totgeschwiegen und lediglich auf Tränen, Familientrennungen und Opfer in der Berichterstattung reduziert werden? Die Betrachtungsweise, das „So oder so“ bekommt damit eine viel größere und wichtigere Funktion, eine politische Dimension. Zu kurz gedacht?

Da quasselt der Herr Bundespräsident - und mit ihm die ganze Clique der Politischen und Kapitalmächtigen - bei der Beurteilung des Ersten Weltkrieges lediglich von den Schrecken der menschlichen Katastrophe, und das Jetzige müsse mit der Waffe in der Hand europaweit verteidigt werden. So gauckelt einer rum, der unter Freiheit lediglich die Finanzgewaltigen und deren Machtfestigung meint. Und die Verursacher der Kriege? Dazu kein Wort, das wäre ja Selbstmord. Dafür schwingen andere Töne durch den Äther: „Wir sind wieder wer!“ Auch mit Waffenlieferungen an die irakischen Kurden? Großmachtgelüste lassen grüßen.

Niemand der sogenannten Eliten und ihrer Marionetten hat das Wohl der Menschen im Auge. Was bist du als Bürger im Kapitalismus? Freiwild auf dem Wild-Tanz-Parkett des ungezügelten Marktes. Wenn du kein Konsumidiot sein willst und kannst - dann bist du ein überflüssiger Mensch. So einfach und brutal ist das. Das einstige WIR tendiert zum ICH! Deshalb lobpreisen sie den Individualismus. Zertreten kollektive Erfahrungen. Zerschmettern jeglichen Rest von Solidarität, lassen dem Zwischenmenschlichen mit ihrer kalten Gier nach Profit keinen Raum mehr. Predigen die Selbsthilfe, um Geld zu sparen. Soll doch jeder zusehen, wie er weiterkommt. Der Staat hält sich raus. Weitgehend. Und die Deutschen erklimmen im europäischen Raum eine Vormachtstellung. Für wen bitte? Und züchten gehorsame Mitläufer. Auch mit dem Sturmgewehr in der Hand?

Freiheit für wen? Und diesen Begriff benutzen die Oberen heute als Schlagwort! Nichts steckt dahinter als das was tatsächlich gemeint ist: Die Herrschaft des Kapitals. Dafür sollst du leben, dafür sollst du zahlen, dafür sollst du - einst unter dem Motto für Gott und Vaterland - dein Leben geben. Ist hier jemand betrunken? Im Kern geht es um eine sehr grundlegende Fehleinschätzung der realen Welt. Die einfach existiert, und zwar ohne den Willen der Menschen. Diesen Natur- und gesellschaftlichen Gesetzen hat sich die Menschheit unterzuordnen. Freiheit ohne deren gesetzmäßige Grundlagen zu betrachten bedeutet schlechthin eine idealistische Sicht. Sie zu berücksichtigen, um keine Fehldiagnosen zuzulassen, erfordert, eine marxistische Sicht einzunehmen. Also eine realistische, dialektische Sicht. So einfach liegen die Dinge, will man sich nicht von den Herrschenden verkohlen lassen. Da hilft keine Frömmelei, kein Wille, es sich menschlich einrichten zu wollen - wenn du gesetzmäßige Abhängigkeiten und Zusammenhänge arrogant ignorierst, dann zum Teufel mit dir. Dann gehst du halt bei stürmischer See ins Wasser und der Sog zieht dich hinaus auf ein Nimmerwiedersehen. Tödlich wird das Ganze, wenn man dem ursächlich vorhandenen Zusammenhang zwischen Maximalprofit und der Entstehung und dem Führen von Kriegen aus dem Wege geht. Tödlich für Millionen von Menschen. Gewinnbringend für die angestrebten Millionen der Kriegsgewinnler. So oder so.

Um Symptome oder Ursachen?

„So oder so?“ Sozialismus oder Barbarei? Frieden oder Krieg? Muss man da noch überlegen, abwägen? Wo leben wir? Diese schwankende, lavierende Unverbindlichkeit als Methode. Sie folgt haargenau dem oben geschilderten bürgerlichen Menschenbild. Du hast stets die Wahlmöglichkeit. Oben sein, ganz oben, oder im Nirgendwo landen. „Na und?“, meint mancher Zyniker. Substanz oder Inhalt. Reden oder Tun. Sich mit Symptomen begnügen oder den Ursachen auf den Grund gehen? Verpackung oder Inhalt. Make-up oder Leere. Oberfläche oder Tiefe. Das Böse oder das Gute? (Übrigens die einfältigste Sicht, die es gibt auf Erden.) Wachstum statt Fortschritt, Konflikt statt Krieg, Kollateralschäden statt zivile Opfer.„Tafeln“ als Aushängeschilder des sich sozial gebärdenden Staates. Da rühren die Allmächtigen am Schlaf der Welt, rühren die Kriegstrommeln - und keiner regt sich auf? Befinden wir uns noch im Wachzustand?

Inhaltslose Formenspielerei auch in Ausstellungen und Museen. So nahm Werner Seppmann in der „jungen Welt“ vom 10.08.2012 unter dem Titel „Ästhetik der Banalisierung“, folgende Erscheinungen unter die Lupe, hier nur in Stichworten wiedergegeben: Ästhetisierende Belanglosigkeiten, die sich formal und inhaltlich im Kreis bewegen. Immer seltener: ernsthafte und herausfordernde Fragen. Das bloße Konstatieren bietet keine Perspektive des Erkennens sondern festigt verdinglichtes Alltagsbewußtsein. „Die Herrschaft der Zeit“ sei nur die Kehrseite eines gesteigerten sozialen Anpassungs- und Bewährungsdrucks. Die Dominanz einer penetranten Selbstbezüglichkeit. Lösungsvorschläge für die drängenden Gegenwartsfragen werden auf die esoterische Seinsvergessenheit herabgezogen. Abschied von der Vernunft und sozialen Ansprüchen: postmodernes Denken. Dezentrierung des Subjektes. Überwindung des Logozentrismus oder der posthumanistischen Perspektive. Wörtlich: „Soll die herrschende Atmosphäre der Resignation und Gleichgültigkeit … gefestigt werden, muss progressives Wissen um die gesellschaftlichen Veränderungsmöglichkeiten und die Überwindung von Fremdbestimmung zerstört werden.“

„Ich will, dass unsere Frauen, Kinder, Freunde und Schüler in uns nicht den Namen und nicht die Etikette lieben, sondern einfach den Menschen“, schreibt Anton Tschechow in der langweiligen Geschichte auf Seite 86.

Zum Haare raufen! Das verbietet niemand. Das „großartige“ demokratische Angebot der Mächtigen im pluralistischen System: Da darfst´e schreiben oder quasseln bis dein Kopf qualmt, schimpfen, randalieren, die Politik fertigmachen, demonstrieren. Du darfst lesen oder den TV einstellen, einen anderen Sender wählen oder alles auch sein lassen. Du darfst überhaupt alles rausschreien in Mails, Briefen, Beschwerden und Artikeln - das Ganze hat nur einen Haken: Es geht alles durch ein unsichtbares Sieb. Das nennt sich nicht Zensur, nein, nein, es ist eine Methode der Ablenkung, des Totschweigens, der Orientierung auf Banalitäten, auf Nebensächlichkeiten. Die angepriesene Vielfalt soll für Demokratie stehen. Das ist irritierend. Und bemäntelt gleichzeitig die wahren Absichten der oberen Zehntausend nach Macht und Profit auf Kosten des Sozialen. Die Negierung des Gesamtzusammenhangs - das ist Ideologie der schlimmsten Art, das ist gewollt. Was ist eine Hochwassergefahr, die gebändigt werden kann, gegen eine mächtiger werdende geistige Kloaken-Flut? Unterhaltung aber auf seichteste Art liegt immer gut im Rennen, lässt sich gut verkaufen, ist richtig cool. Herr O. kann ein Lied davon singen...

So wird Verdruss geboren. Gleichgültigkeit. Und Untätigkeit, etwas ändern zu wollen und zu können. Manche greifen zum Alkohol, andere beten wieder, vielen ist es schnuppe, sie arbeiten und machen sich keinen Kopf. Viele jüngere Leute besinnen sich nur auf sich selber. „Viele junge Menschen leben völlig losgelöst von echter gesellschaftlicher Aktion als schnäppchenjagende Konsumenten und törichte Objekte politischer Manipulation. Das geschieht zur Freude derer, die Solidarität und echte Massenimpulse gar nicht erst aufkommen lassen wollen.“ (RotFuchs August 2014)

Das Politikverständnis habe sich verflüssigt, bemängelt Christiane Florin in ihrem in Teil I genanntem Buch zu den angepassten Studenten auf Seite 20, es sei unterspült „von einer Mischung aus Desinteresse und punktuellem Engagement. Verflüchtigt hat sich der Gedanke, dass politisches Bewusstsein zum Erwachsenwerden dazugehört.“

Schwindet mit dem WIR die Verantwortung des Einzelnen für das Ganze? Dazu ein Zitat aus dem „RotFuchs“ (August 2014, S. 13): „In einer Zeit, in der sich die Tagespolitik fast ausschließlich mit Krisen und Kriegen beschäftigt, werden Völkerrechtsverbrechen und der Bruch elementarer Menschenrechtsnormen zur Gewohnheit. Man nimmt sie gewissermaßen als Begleiterscheinungen des politischen Geschehens hin, weil ja ohnehin niemand zur Verantwortung gezogen wird. Die Eigenschaft des menschlichen Verstandes, Autoritäten und Entscheidungen zu hinterfragen, ist vielen leider abhanden gekommen. Eine perfide Propaganda entzieht ihnen die Fähigkeit, über Zusammenhänge tiefer nachzudenken, zumal sich das Leben der meisten auf einen reinen Existenzkampf reduziert hat. Der verbleibende Rest an frei verfügbarer Zeit wird immer mehr mit Late-Night-, Talk-, Dschungel- und Ekel-Shows sowie Videospielen vergeudet. Da bleibt für eigenes Denken kein Platz. Begriffe wie Recht und Gesetz werden von den Herrschenden bagatellisiert oder instrumentalisiert, wenn sie ins Bild passen, um noch so abstruse Ziele oder Geschehnisse zu rechtfertigen.“

Nein, nein, Herr O. lässt sich nicht mehr täuschen: Weder bei gutem Essen noch bei geistiger Kost, weder beim Einkaufen noch bei verführerischen Werbetelefonaten, weder bei falschen Versprechungen noch bei angeblichen Mogelpackungen, weder bei inhaltlich flachgebürsteten TV-Produktionen noch bei oberflächlichen Talk-Shows, weder bei fehlerhaften Diagnosen von Ärzten noch bei falsch servierten Speisen im Restaurant. Tiefgründige Diagnosen? Fehlanzeige, das gefährdet das Überleben der angeblichen Elite.

Wer wehrt sich? Zwischen Kriegsgeschrei auch ein Mahnruf der Linken, endlich mal wieder: So ist in der jungen Welt vom 14.08.2014 mit der Überschrift „Gescheiterte Staaten in Serie“ eine Gemeinsame Erklärung der Vorsitzenden der Partei DIE LINKE, Bernd Riexinger und Katja Kipping, sowie des Vorsitzenden der Linksfraktion im Bundestag, Gregor Gysi, zu lesen: „Die Welt steht am Scheideweg zwischen einer neuen Ära der Eskalation in Blockkonstellationen und einer Renaissance internationaler Konfliktlösungsmechanismen im globalen Maßstab.“

Stehen auch die Menschen am Scheideweg? Was tun, wenn ihnen lediglich ein Ist-Zustand vorgezeigt wird, wenn ihnen Ursachen vorenthalten werden? Das ist geistige Unterdrückung. Das verdirbt und vernebelt die Hirne, das macht die Menschen letztendlich krank und gefügig. Damit ist die Verführung perfekt, der Magen verdorben und das Hirn entleert. Das Resultat oberflächlicher und inhaltsloser Berichterstattung: Kälte, Enthemmung, Leichtsinn, Arroganz, Interessenlosigkeit, Unglaube an Veränderungen, Inaktivität, Zurückziehen auf das nur Private. So beginnt der langsame Tod, die seelenlose Etappe des Absterbens der eigentlichen Werte - der Frage nach dem Sinn des Lebens. Des Zustandes, dass es keine Fragen mehr gibt. Die Armut des Materiellen hat eine Schwester: Die Armut der Zufriedenen, die sich behaglich zurücklehnen und im „Berufsleben“ stets auf Lauer-Position sein müssen. Gleichgültigkeit und Abscheu vor Politik, das ist Verfall.

Herr Professor O. und Tschechow-Verehrer wird seine Buchlesung halten. Seine Krankheit der drohenden Sorg- und Interessenlosigkeit hat er überwunden. Selbstbestimmt. Wenn auch das Wort noch kein Tun ist. Er wird, das ahnt er, seine Lesung über den Sinn des Lebens womöglich in einem halbleeren Saal halten. Seine Gedanken? Werden sie ins Leere gehen? Vor müde abnickenden Studenten? Wäre das ein Zeichen des Verfalls? Das Unbehagen jener Schreiberlinge in Zeitungen und Sachbüchern, die Zustände zwar markieren, treffend und kritisch oft, sozusagen in jedes Fettnäpfchen tretend, hält an: Lösungen sind nicht in Sicht? Bleibt es dabei: So oder so? Arme Seelen zwischen allen Stühlen? Oder übersieht er sie – die Anzeichen vom Widerstand der Unzerbrechlichen weltweit? ...

Lieber Anton Tschechow, es wird wieder andere Zeiten geben, versprochen!

(Erstveröffentlichung in der Neuen Rheinischen Zeitung:
http://www.nrhz.de/flyer/suche.php?ressort_id_menu=23&ressort_menu=Literatur )

Mehr über den Rezensenten:  http://cleo-schreiber.blogspot.com

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (22.10.14)
Wirr!
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram