Vergessene Phobie

Text zum Thema Stolz

von  Straßenköter

Es war Winter. Nicht mehr saukalt, aber sehr frisch.
Frau L. war eine Patientin mit einer internistischen Erkrankung. Ich glaube, das Herz machte Probleme. Spielt kaum eine Rolle.

Frau L. war wohl etwas einsam, die Gute erzählte mir ihre Geschichte und wir verstanden uns recht gut. Es gab nur ein Problem: die Steintreppe zu ihrer Wohnung.

Ich eröffnete ihr während einer Therapie, dass wir die Stufen probieren sollten. Es gab wildes Gezeter und Heulkrämpfe. Warum? Frau L. hat schon ihr lebenlang Angst vor Treppen. Es müssen die ulkigsten Vorraussetzungen erfüllt sein, damit sie diese Hürde nimmt. Ich nahm es hin.

Am nächsten Tag machten wir ein Belastungstraining und bogen irgendwann ab. Frau L. wusste nicht, wohin es ging. Ich schon. Ins Treppenhaus. Wieder ging das Brüllen los. Und Beschimpfen. Ich könne sie doch nicht zwingen, das sei Körperverletzung, sie wolle die Verwaltung sprechen, und so weiter. Ich sah sie an und meinte nur, sie solle sich doch mal bitte hinsetzen, den Rückweg zu Zimmer möchte ich ohne Pause einlegen.
Huch? Ja, da standen zwei Stühle. Sie setzte sich auf einen, ich auch den anderen und gut war. Verlegen entschuldigte sie sich. "Frau L., ich habe weder die Kraft noch die Nerven noch die Geduld Sie hier hoch und runter zu jagen. Wenn Sie möchten, üben wir das Treppen steigen, wenn nicht dann nicht. So einfach. Aber die Luft ist hier im Treppenhaus ist frischer als auf dem Flur und den Zimmern."

Am nächsten Tag gingen wir wieder zum Treppenhaus. Kein Streit.
Tags darauf wieder. Doch dieses Mal fragte mich Frau L. ob wir zur ersten Stufen gehen könnten, sie möchste sich die Treppe (10 Stufen bis zum Absatz) genauer ansehen. Ich war überrascht, stimmte zu.
Am nächsten Tag das gleiche Spiel. Sie wurde immer belastbarer und ich hatte das Gefühl, als käme da noch ein riesiger Knüller.

Wieder waren wir da, und Frau L. erklärte mir wie einer 3-Jährigen: "Wenn Sie vor mir laufen, dann laufe ich die Treppe hinunter!" -"Frau L., Sie müssen auch wieder hochlaufen, ich trage Sie beim besten Willen nicht"
Und die größte Hürde war geschafft. Wir brauchten 20min für diese kleine Strecke, aber es war, als hätten wir einen Berg versetzt.
Die Woche darauf, tja, da haben wir 2x10Stufen geschafft, und ich lief neben der Patientin. Bereit im Notfall einzugreifen. Aber es passierte nichts, außer dass Frau L. stolz wie Oscar war.

Im Nachhinein betrachtet ist der Plan ja unheimlich bösartig.

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Kommentare zu diesem Text

Graeculus (69)
(21.12.14)
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